Wenn man die Rede des amerikanischen Vizepräsidenten auf der Münchner Sicherheitskonferenz wohlwollend betrachtet, erinnerte J.D. Vance die europäische Gemeinschaft daran, dass Außenpolitik nicht nur von gemeinsamen Sicherheitsinteressen, sondern auch von gemeinsamen Ideen geprägt wird. „Wenn ihr schon unsere Werte nicht teilt, warum sollen wir euch dann noch verteidigen?“ – so in etwa die Intervention des geschickten Rhetorikers. Der Besuch des Vizepräsidenten hatte nicht die Intention, über geopolitische Gefahren zu sprechen, sondern das neue intellektuelle Programm der Trump-Regierung nach Europa zu exportieren.
Der Einfluss von Ideen auf Regierungschefs ist zwar nicht konkret messbar, aber gemeinhin bekannt. Wir wissen, dass Bundeskanzler Olaf Scholz von dem amerikanischen Moralphilosophen Michael Sandel geprägt ist. Der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy tauscht sich in schlaflosen Nächten per Telegramm mit Emmanuel Macron aus. Vermutlich spielten auch die Schriften des deutschen Juristen Carl Schmitt eine Rolle in Wladimir Putins Großmachtambitionen. Und die amerikanischen Präsidenten von Eisenhower bis Reagan waren wiederum getrieben von ihrer Angst vor den Heartland-Theorien Sir Halford Mackinders und deren möglicher Rezeption in der Sowjetunion.
„Man kann der Invasion von Armeen widerstehen, aber nicht der Invasion von Ideen.“
Nach dem Zweiten Weltkrieg erkannten die USA und ihre europäischen Verbündeten, dass geopolitische Vorherrschaft untrennbar mit der Verbreitung liberaler Ideen verbunden war. Erhebliche Ressourcen wurden in den Aufbau von Mediennetzwerken, die Förderung dissidentischer Bewegungen in Osteuropa und in die Verbreitung westlicher Ideen gesteckt. „On résiste à l’invasion des armées, mais on ne résiste pas à l’invasion des idées.“ („Man kann der Invasion von Armeen widerstehen, aber nicht der Invasion von Ideen“) Das hatte der französische Schriftsteller Victor Hugo schon 1852 festgestellt – 140 Jahre später zerbrach die Sowjetunion unter dem Ballast westlicher Ideen. Die späte Mimikry durch Perestroika und Glasnost konnte daran nichts mehr ändern.
Ein Blick in die Gegenwart zeigt: Auf dem Euromaidan in der Ukraine und derzeit in Georgien wehen amerikanische Flaggen. Junge Georgier und ältere Ukrainerinnen wurden nicht von amerikanischen NGOs dafür bezahlt, die Flaggen zu schwenken, sondern sie tun es, weil sie von selbst an die Kraft einer liberalen Welterzählung glauben. Hier sind wir wieder beim Krieg um die Ideen – oder in den Worten der Regierung Reagan beim „Kampf um die Köpfe“. Zumindest in Osteuropa, aber auch in anderen Teilen der Welt, hatten die USA mitsamt ihren europäischen Partnern diesen Kampf gewonnen. Zumindest in den Eliten, aber auch in manchen Bevölkerungen, hatte sich die liberale Erzählung als intellektuelles Programm durchgesetzt.
Ironischerweise sind es heute die Vereinigten Staaten selbst, die das Vertrauen in die liberale Welterzählung verloren haben. Man sollte sich nicht von Vance’ blumigen Worten zur Meinungsfreiheit täuschen lassen. Die Rede des Vizepräsidenten auf der Münchner Sicherheitskonferenz zeigt eine Regierung, die nicht länger gewillt ist, die Sicherheit des im alten Liberalismus gefangenen Europas zu gewährleisten. Nicht Vance’ kulturkämpferische Parolen sind entscheidend – sie lenkten nur ab. Wichtiger ist, was er nicht sagte. Hier spricht weder ein Reagan, der die „freie Welt“ auf die geopolitischen Herausforderungen einschwor, noch ein Clinton, der den Amerikanern in seiner Kosovo-Rede ein wohlhabenderes, geeinteres Europa versprach.
Vance warf Europa den Bruch mit gemeinsamen Werten vor – doch in Wahrheit haben sich vor allem die USA von der liberalen Welterzählung verabschiedet. Kein Wunder, dass zuvor ein Großteil der ehemaligen Reagan- bis Romney-Mitarbeiter für die Wahl der Demokraten geworben hat. Von den Großraumambitionen in Kanada und Grönland über die Zerschlagung der Entwicklungshilfe-Agentur USAID bis hin zum Jalta-Revival in Saudi-Arabien: Von Jahrzehnten amerikanischer Außenpolitik bleibt kaum etwas übrig. Dass in Zukunft bei Protesten in Georgien noch die USA-Flagge gehisst wird oder dass taiwanesische Studenten bei Fukuyama oder Tocqueville noch nach Hoffnung für die Zukunft suchen, wird zunehmend unwahrscheinlicher.
Klar ist auch, dass sich die neuen Amerikaner nicht von der Macht der Ideen als solcher verabschieden. Um die neue US-Regierung zu verstehen, ist ein Begriff zentral: Kanonisierung. Patrick Deneen, ein selbsternannter Postliberaler, gilt als wichtiger Ideengeber für Vizepräsident Vance. Doch auch Gestalten der Internet-Kultur wie Bronze Age Pervert, Curtis Yarvin und Peter Thiel prägen das neue Denken – sie vereinen sich in einem, wie Ezra Klein es nennt, „reaktionären Futurismus“. Wer die Timeline von Elon Musk oder die Äußerungen von Vance verfolgt, versteht, dass es nun um einen Export dieser Ideen auf den europäischen Kontinent geht. Nicht Armeen, sondern Ideen sollen uns bekehren. Doch die Annahme, dass sich die Amerikaner nun in eine „Reaktionäre Internationale“ (A. Applebaum) eingliedern, greift zu kurz. Trotz des Großraumkalküls gegenüber China und dem Iran bestehen weiterhin geopolitische Konflikte. Vielmehr geht es um eine neue postliberale Allianz, in die man sogar bereit ist, Wladimir Putins Russland zu integrieren. Aus europäischer Sicht könnte man zynisch anmerken: Die Ungarnisierung des Kontinents steht bevor.
Nirgends wurde die Idee vom Ende der Geschichte bereitwilliger aufgenommen und gründlicher missverstanden als in Europa.
Zynismus hilft nicht über die bittere Erkenntnis hinweg: Die Welt, in der es sich Europa so lange so gemütlich gemacht hatte, bricht zusammen. Nicht die USA, sondern Europa hatte sich in einer Welt des liberalen Universalismus eingerichtet. Supranationalen Institutionen, globale Verrechtlichung, sinkende Militärbudgets – nirgends wurde die Idee vom Ende der Geschichte bereitwilliger aufgenommen und gründlicher missverstanden als in Europa. Doch das Ende der Geschichte war nie ein Selbstläufer – es beruhte auf Glauben und der Bereitschaft zur Verteidigung.
In Europa wollte man nicht auf jemanden wie Ulrich Beck hören, der schon 1992 die entstehenden Legitimationsprobleme durch den wegfallenden Feind problematisierte. Für Liberale und Konservative war der globalisierte Liberalismus beschlossene Sache, der sich nun eben global ausbreiten werde. Die Sowjetunion war gefallen und mit ihr der äußere Feind, der zuvor als Projektionsfläche für das liberale Projekt gedient hatte. Konsumgesellschaft, Marktwirtschaft und Demokratie – dieses Gegenmodell hatte sich historisch bewährt. So konnte man China bedenkenlos in die Welthandelsorganisation aufnehmen oder das Ende der Geschichte durch Interventionen im Nahen Osten aktiv vorantreiben. An Kanonisierung – um noch einmal auf die Macht der Ideen zurückzukommen – dachte niemand. Der Westen hielt sein Projekt für so selbstverständlich, dass er nicht einmal mehr Fukuyama brauchte, um sich seiner eigenen Standhaftigkeit sicher zu sein.
In immer kleinere Nischen, postkolonialere Perspektiven und relativistischere Thesen zog man sich zurück.
Für Teile der Linken wurde die „große Zeit der Langeweile“ (Fukuyama) zur existenziellen Sinnkrise. Das Ende der Geschichte spaltete die Linke: Ein Teil wanderte ins bürgerliche Lager, der andere geriet in eine tiefe Frustration und begann, das gesamte System radikaler zu hinterfragen. Nun wurden plötzlich überall Fehler entdeckt, koloniale Ursprünge und imperialistische Muster. In immer kleinere Nischen, postkolonialere Perspektiven und relativistischere Thesen zog man sich zurück. In erstaunlicher Parallele zur postliberalen Bewegung um Vance ging es nun nicht mehr darum, den Westen neu zu definieren – sondern darum, ihn zu überwinden.
Weil viele linke Theoretiker über den Westen nicht mehr sprechen wollten und viele Konservative es nicht mehr konnten, haben wir heute Probleme, den Westen wieder auf eigene Beine zu stellen und dem liberalen Universalismus ein europäisches Gesicht zu verleihen. Die französischen Gaullisten hatten es aus einem Antiamerikanismus heraus versucht – aber ein europäischer Westen kann nicht aus Frankreich regiert werden. Auch Habermas und Derrida appellierten nach dem Irak-Krieg an Europa – aber ihre Vision eines „avantgardistischen Kerneuropas“ mit kantianischem Weltfrieden-Pathos wirkt heute anachronistisch.
Gleichzeitig sollten wir nicht vergessen, dass der europäische Westen seit den 1990ern viele der osteuropäischen Staaten integriert hat. Dass in der Ukraine und in Georgien europäische Flaggen geschwungen werden. Vielleicht sollten wir im Kleinen ansetzen und diese Leute fragen, was sie sich von Europa erhofft haben – um ein neues „Minimalprogramm“ des Westens in Europa zu definieren. Antonio Gramsci beschrieb es treffend: „Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster.“ Ohne eine Vision für einen neuen europäischen Westen drohen wir, in dieser Zeit unterzugehen.