Die Welt fühlt sich verunsichert, als würde die Geschichte neues Tempo aufnehmen. Die vertrauten Orientierungspunkte der Moderne verschwimmen zunehmend und entgleiten uns, und unsere Vorstellungen von Fortschritt und Macht passen nicht mehr recht zu dem Terrain, das vor uns in Sicht kommt. Was wir derzeit Tag für Tag aufs Neue erleben, wirkt weniger wie eine vorübergehende Neuordnung der Machtverhältnisse. Wir spüren, dass etwas vor sich geht, das tiefer reicht und von längerer Dauer sein wird – eine Transformation, von der wir vorerst nur die ersten Konturen erkennen.
Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze hat sich in jüngster Zeit mit China auseinandergesetzt und formuliert sein Fazit mit der für ihn typischen Direktheit: „China ist mehr als nur ein analytisches Problem“, so Tooze. Er nennt das Land den „Generalschlüssel zum Verständnis der Moderne“ und „das größte Labor einer geordneten Modernisierung, das es je gegeben hat und das es in einem so hohen Ordnungsgrad kein zweites Mal geben wird“. In China lese sich die Industrialisierungsgeschichte des Westens inzwischen wie Vorbemerkungen zu einer Geschichte, die größer ist.
Dieser Befund bringt treffsicher auf den Punkt, warum es so schwierig ist, die heutige Gegenwart zu verarbeiten. Wir erleben nicht nur den Aufstieg einer neuen Großmacht, sondern sind Zeugen, wie jene Vorstellungen von Entwicklung, politischen Systemen und überhaupt von den Errungenschaften der Zivilisation, die lange Zeit feste Bestandteile westlichen Gedankenguts waren, infrage gestellt werden. Wir sind bloß intellektuell noch nicht mutig genug, dieser Tatsache ins Auge zu sehen.
Inzwischen bestimmt China, wohin die Entwicklung geht, und gibt wirtschaftlich, technologisch und institutionell den Takt vor.
Diese Neuorientierung geht die gesamte Menschheit an, aber besonders hart trifft es die Vereinigten Staaten, denn dort tritt die Anmaßung, etwas Einzigartiges zu sein, am deutlichsten zutage und wird am heftigsten geleugnet. Das vertraute Bild von China als „aufstrebendem“ oder „aufholendem“ Land ist haltlos geworden. Inzwischen bestimmt China, wohin die Entwicklung geht, und gibt wirtschaftlich, technologisch und institutionell den Takt vor. Der tiefere Schock für die Psyche des Westens liegt in der Erkenntnis, dass die Moderne inzwischen keine Hervorbringung des Westens mehr ist, die andere bloß von ihm übernommen haben.
Ich bin ebenso beeinflussbar gewesen wie alle anderen – habe Aussagen von Gewicht heruntergespielt, Implikationen angezweifelt und blieb auf sicherem Terrain, auch wenn die Indizien seit einiger Zeit in die erwähnte Richtung deuten. Wenn es darum geht, anzuerkennen, was China leistet, gibt es immer ein „Aber“. Reflexhaft werden die Kosten vorgerechnet und die Mängel aufgelistet. Zurückgerudert wird erst, wenn die Tragweite der Transformation deutlich wird.
Diese Neuorientierung ist keine Kapitulation. Sie ist kein Grund, liberale Werte aufzugeben oder eine autoritäre Ordnung zum überlegenen System zu erklären. Sie verlangt nach jener ehrlichen und nüchternen Lagebeurteilung, welche die Voraussetzung für echtes Selbstvertrauen ist – die Bereitschaft, Herausforderungen unumwunden einzugestehen, von den Erfolgen anderer auch dann zu lernen, wenn sie die Annahmen, von denen wir ausgehen, erschüttern, und unsere eigenen Institutionen zu stärken, indem wir mit klarem Blick ihre Defizite erkennen.
Wenn wir ehrlich sein wollen, müssen wir auch zur Kenntnis nehmen, was China für die Menschen geleistet hat und leistet. Seit den frühen 1980er Jahren hat China fast 800 Millionen Menschen aus extremer Armut befreit und bewerkstelligte damit rund drei Viertel der weltweiten Armutsreduktion in diesem Zeitraum. Die Lebenserwartung, die in China 1960 noch bei 33 Jahren lag, stieg bis 2023 auf 78 und ist damit mittlerweile praktisch so hoch wie in den USA. Seit etwa zehn Jahren wird fast jeder Haushalt in China mit Strom versorgt. Fast alle besuchen inzwischen eine weiterführende Schule.
Um welche schwer fassbare Größenordnung es geht, zeigt sich vielleicht am deutlichsten an der Entwicklung im Energiesektor. Mehr als die Hälfte der installierten Solar- und Windkraftkapazität, die es auf der Welt gibt, entfällt auf China. Rund drei Viertel aller derzeit laufenden Projekte im Bereich der erneuerbaren Energien werden entweder in China realisiert oder von chinesischen Firmen vorangetrieben. China produziert etwa 30 Prozent der weltweiten Emissionen, generiert aber auch einen ebenso großen Teil des Wachstums im Bereich der Dekarbonisierungstechnologien. China bewirkt große Veränderungen beim globalen Umstieg auf erneuerbare Energien, indem es der ganzen Welt vormacht, dass diese Energien kostenmäßig konkurrenzfähig sind, wenn man sie im ganz großen Stil und zügig zum Einsatz bringt.
Ganz unabhängig davon, was man von Chinas politischem System hält – alles Genannte ist nicht kennzeichnend für einen gescheiterten Staat, sondern für eine Gesellschaft, in der es den Menschen in vielerlei Hinsicht so gut geht wie nie zuvor.
Der Geistesgeschichtler Joseph Levenson konstatiert in seinem Hauptwerk Confucian China and Its Modern Fate (1958–65), dass China es sich zur Aufgabe gemacht habe, einen Weg zu Wohlstand und Macht zu finden, der zum einen genuin chinesisch ist und zum anderen objektiv Wirkung zeigt. Seit mehr als einem Jahrhundert setzen chinesische Intellektuelle sich mit der Frage auseinander, wie man den Sprung in die Moderne schafft, ohne dass die eigene kulturelle Identität verlorengeht.
Diese geschichtliche Phase geht möglicherweise gerade zu Ende. Allem Anschein nach hat China den gesuchten Weg gefunden. Wenn Levenson mit seinem Befund richtig liegt, dann erleben wir momentan nicht nur Chinas Aufstieg, sondern dann hat das Land die Wegsuche, die seine moderne Geschichte prägte, erfolgreich gemeistert.
Levensons Betrachtungsrahmen kann auch hilfreich sein, um zu verstehen, in welchem Dilemma die USA gegenwärtig stecken. Nach Levensons Definition ist eine Zivilisation dann stabil, wenn das Verhältnis zwischen dem Eigenen (meum) und der Wahrheit (verum) harmonisch bleibt – wenn also die überkommenen Grundüberzeugungen einer Gesellschaft bezüglich der Frage, wie die Welt funktioniert, mit der beobachtbaren Wirklichkeit im Einklang stehen. Instabilität entsteht laut Levenson dann, wenn dieser Einklang verlorengeht. So lässt sich Chinas Krise nach den Opiumkriegen beschreiben. Damals musste das Land schmerzhaft erkennen, dass die westlichen Kanonenboote, die auf einmal auf dem Perlfluss unterwegs waren, sich mit konfuzianischen Gewissheiten nicht erklären ließen.
Die Frage ist, ob die Schocks, die Chinas Aufstieg auslöst, in den Vereinigten Staaten eine ähnliche Realitätserkenntnis bewirken.
Die Frage ist, ob die Schocks, die Chinas Aufstieg auslöst, in den Vereinigten Staaten eine ähnliche Realitätserkenntnis bewirken. Wenn eine Nation, von der man meinte, sie werde in Ewigkeit hinterherhinken, plötzlich bei den erneuerbaren Energien, bei der künstlichen Intelligenz und der Infrastruktur in Führung liegt; wenn der autoritäre Kapitalismus sich als anpassungsfähiger herausstellt als gedacht; wenn sich erweist, dass die Ausrufung des „Endes der Geschichte“ verfrühte Siegeseuphorie war – dann driften meum und verum weiter auseinander.
Die historischen Parallelen sind bemerkenswert. In den 1860er und 1870er Jahren formulierten die Reformkräfte in China den Gedanken von yong und ti, um mit dem zivilisatorischen Wandel umzugehen. Damit war gemeint, dass China westliche Vorgehensweisen (yong) übernehmen und zugleich sein chinesisches Wesen (ti) bewahren könne.
Was sich gegenwärtig – allerdings umgekehrt – abspielt, ist auffallend ähnlich. In verschiedenen Bereichen – von der Industriepolitik bis zur direkten Staatsbeteiligung an Unternehmen wie Intel – greifen US-Politiker vermehrt zu Methoden, die verdächtig an den chinesischen Staatskapitalismus erinnern, behaupten aber steif und fest, sie würden die Prinzipien des freien Marktes nicht aufgeben, sondern verteidigen. So wie chinesische Reformer früher beharrlich die Meinung vertraten, sie könnten sich selektiv westliche Methoden zu eigen machen, ohne dass die chinesische Zivilisation Schaden nehme, behaupten führende US-Politiker heute, sie könnten Staatsinterventionismus à la China betreiben, ohne amerikanische Werte zu verraten.
Das globale Problem, bei dem die Stunde der Wahrheit am unerbittlichsten schlägt, ist der Klimawandel. Hier bildet sich ein Grundmuster heraus: Die Symptome nehmen schneller zu als unsere Bereitschaft, sie in unser Bewusstsein zu integrieren, die Narrative sind auf Beschwichtigung statt auf Aufklärung ausgelegt, und es gibt eine kollektive Weigerung, vermeintliche Selbstverständlichkeiten zu revidieren, die nicht mehr zu der Welt passen, in der wir leben.
Beim Klima sehen wir, wie unsere Städte von Waldbränden eingeschnürt werden, wie es alle paar Jahre zu Jahrhundertüberschwemmungen kommt, wie die Weltmeere sich erwärmen und übersäuern – und wir schauen immer noch weg. Im Falle Chinas sehen wir, wie die Infrastruktur in kontinentalem Maßstab ausgebaut wird, wie immer mehr technologische Durchbrüche gelingen, die Kapazität der Energiegewinnung aus den Erneuerbaren sich verdoppelt und verdreifacht – und finden immer noch Mittel und Wege, um all das wegzuerklären, kleinzureden und den baldigen Absturz zu prophezeien. In beiden Fällen machen wir es uns lieber in unseren vertrauten Narrativen bequem, statt unbequeme Wahrheiten wirklich zur Kenntnis zu nehmen.
Chinas Aufstieg zwingt uns, den Grenzen der Herrschaft des Westens über die Moderne ins Auge zu sehen.
Der Klimawandel zwingt uns, den Grenzen der Herrschaft des Menschen über die Natur ins Auge zu sehen. Chinas Aufstieg zwingt uns, den Grenzen der Herrschaft des Westens über die Moderne ins Auge zu sehen – und zu erkennen, wie überheblich der Glaube ist, nur der liberale demokratische Kapitalismus sei in der Lage, dauerhaft für Wohlstand und Innovation zu sorgen. Beide Entwicklungen verlangen, dass wir uns vom Wunschdenken verabschieden und uns der Welt in ihrem realen Ist-Zustand stellen.
Der Klimawandel macht auch deutlich, dass politische Legitimität im 21. Jahrhundert anders konstituiert wird als früher. In der Vergangenheit basierte Legitimität vor allem auf Verfahren – Verfassungen, Wahlen, Parlamente –, während sie sich heute zunehmend auf Performance gründet.
An diesem Punkt lässt sich aus der Paradoxie, dass China mehr CO2 ausstößt als jedes andere Land der Welt und gleichzeitig die Kapazität bei den erneuerbaren Energien stärker ausbaut als jedes andere Land, etwas lernen: Die Basis für Legitimität wird in diesem Jahrhundert die vertrackte Fähigkeit sein, das zu liefern, was dringend gebraucht wird. Systeme werden künftig nicht danach beurteilt werden, welche eleganten Theorien sie entwickeln, sondern danach, ob sie in der Lage sind, mit existenziellen Herausforderungen fertigzuwerden.
Während die Amerikaner sich endlos über Pipelines und Leitungstrassen streiten, baut China Stromnetze, die den ganzen Kontinent überspannen. Die Amerikaner haben ihre Weltführerschaft beim Thema Klima aufgegeben, während China sich in Sachen Energieübertragung unentbehrlich gemacht hat. Das Land, von dem behauptet wurde, es sei das Problem, ist allein durch seine Produktions- und Entwicklungskapazitäten zum unverzichtbaren Teil der Lösung geworden.
Dies lenkt den Blick auf eine weitere Dimension der Performance als Legitimationsgrundlage: die Resilienz in Drucksituationen. Als Reaktion darauf, dass ihm technologische Möglichkeiten vorenthalten werden, beschleunigt China bei der Halbleitertechnik, bei der künstlichen Intelligenz und in anderen strategisch wichtigen Bereichen die heimische Innovationstätigkeit und stellt damit unter Beweis, dass sein System erstaunlich anpassungsfähig ist.
Diese Erfolge fallen in eine Zeit, in der viele westliche Demokratien in der Krise stecken. Das wirft zwangsläufig eine unbequeme Frage auf: Geht es in der Frage der politischen Legitimität allein um prozedurale Demokratie? Oder müssen auch Performance und die Fähigkeit, Ziele einzuhalten, sowie Kompetenz und Resilienz mit einbezogen werden?
Früher galt unumstößlich, dass die Voraussetzung für eine dynamische Marktwirtschaft eine liberale Demokratie sei. China demonstriert einen Kapitalismus, der autoritär ist und dennoch funktioniert. Man glaubte, die sozialen Medien würden die Untertanen unweigerlich von Autokratien befreien; dann verlief der Arabische Frühling im Sande, und daheim geriet die Plattformpolitik auf Abwege. Man glaubte, die Voraussetzung für echte Innovation sei politische Freiheit; dann fingen chinesische Firmen und Labore an, Weltklasseergebnisse zu liefern. Mit jeder Verkehrung des Erwarteten bekommen die alten Glaubenssätze einen Kratzer mehr.
Die Konsequenz aus dieser Erkenntnis sollte nicht Verzweiflung sein, sondern Demut vor der Unvorhersagbarkeit dessen, was als Nächstes auf uns zukommt.
Die Konsequenz aus dieser Erkenntnis sollte nicht Verzweiflung sein, sondern Demut vor der Unvorhersagbarkeit dessen, was als Nächstes auf uns zukommt. Die wahre Herausforderung besteht darin, intellektuell so flexibel zu werden, dass man sich anpassen kann, wenn die Welt sich so schnell verändert, dass unsere Theorien nicht mehr Schritt halten.
Um mit China ins Reine zu kommen, braucht niemand die eigenen Werte aufzugeben. Was es dafür aber sehr wohl braucht, ist dies: Wir müssen diese Werte mit mehr Leichtigkeit und argumentativ überzeugender vertreten und ihre Gültigkeit nicht dadurch beweisen, dass wir sie proklamieren, sondern dass wir sie einlösen.
Vor allem müssen wir aufhören, an China mit der Vorstellung heranzugehen, es könne gar keinen Bestand haben und werde früher oder später von seinen Widersprüchen eingeholt. Das System funktioniert. Es hält, was es verspricht. Auf den Zusammenbruch dieses Systems zu warten, ist keine Strategie, sondern ein Bewältigungsmechanismus.
Bei der erwähnten Neuorientierung geht es letztlich um intellektuelle Aufrichtigkeit – um die Bereitschaft, die Welt so zu sehen, wie sie ist, und nicht so, wie wir sie uns wünschen, und darum, Erreichtes anzuerkennen unabhängig davon, wo es erreicht wurde, und aus Erfolgen auch dann zu lernen, wenn uns beim Blick auf die Ursprünge dieses Erfolgs nicht wohl ist.
Welche Politik sollte daraus folgen? Ich will nicht so tun, als wüsste ich das. Politisch können wir erst ans Werk gehen, wenn wir aufhören, uns selbst zu belügen. Bei der Neuorientierung, zu der ich aufrufe, geht es um Wahrnehmung und Psychologie, nicht um Programmatik. Wir müssen Chinas Erfolge klar erkennen und uns den „Ja, aber“-Reflex abgewöhnen, mit dem wir sie sofort kleinreden, bevor wir überhaupt eine klare Vorstellung davon haben, was sie für uns bedeuten. Diese Art der Problembewältigung ist genau das Problem, das ich zu lösen versuche.
Die Welt hat sich grundlegend verändert. Wir stehen nicht vor der Wahl zwischen Widerstand und Kapitulation, sondern zwischen wohlüberlegter Anpassung und hartnäckigem Leugnen. Wir stehen vor der Wahl, entweder auf der Basis einer ehrlichen Selbstbefragung unsere Institutionen zu stärken oder aber zuzusehen, wie sie immer schwächer werden, weil wir vor neuen Realitäten vorsätzlich die Augen verschließen.
Dieser Artikel erschien zuerst online bei the ideas letter.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld




