Als sich der repressive Charakter der russischen Autokratie in den 2010er Jahren allmählich verschärfte, blieb das russischsprachige Internet zunächst ein vergleichsweise freier Raum – ganz im Gegensatz zu den klassischen Medien, die sich immer stärker der Regierungslinie anpassten. Selbst als 2022 die letzten oppositionellen Radio- und TV-Sender aus Russland verschwanden, sah es so aus, als ob durch die Macht schwer kontrollierbarer Sozialer Netzwerke wie YouTube und Telegram ein Rest an Meinungspluralismus für das russische Publikum verbleibe. Besonders Telegram, das 2020 einen Sperrversuch der Behörden überlebt hatte, erschien für Repressionen unangreifbar und hat bis heute riesige Marktanteile.

Nach der russischen Invasion der Ukraine wurden im März 2022 zwar einige Netzwerke mit im Inland geringer Reichweite wie Facebook oder Twitter blockiert. Ähnliche Maßnahmen erschienen aber bei Anbietern, die von der Masse der Russen fleißig konsumiert wurden, noch unvorstellbar. Dass eine Sperre nicht sofort realisierbar war, bedeutete jedoch nicht, dass russische Behörden und das Polit-Establishment bei Plänen für ein Ende solcher Netze untätig gewesen wären. Ziel war im zunehmend ultrakonservativen Geist des Kremls spätestens ab 2022 die komplette Kontrolle darüber, was Russen im Inland an Nachrichten und politischen Informationen konsumieren.

Ein Plan musste her, wie riesige Plattformen, die sich nie komplett von Moskau aus kontrollieren ließen, aus dem Russischen Internet verbannt werden können.

Eine Sperrung reichweitenstarker Plattformen hätte riesige technische Probleme verursacht und Millionen russischer Nutzer massiv verärgert. Auch weit über den Kreis der politisch Unzufriedenen hinaus, denn über YouTube konsumieren Russen ebenso wie Mitteleuropäer vor allem Unterhaltsames oder Hilfreiches. Ein Plan musste her, wie riesige Plattformen, die sich nie komplett von Moskau aus kontrollieren ließen, aus dem Russischen Internet (RuNet) verbannt werden können. Der erste Kandidat war YouTube und dessen Vertreibung erfolgt seither nach einer dreistufigen Strategie. In der ersten Phase musste man eine tragfähige Alternative mit Sitz in Russland schaffen, die vollständig politisch zu kontrollieren ist. Hier kamen die YouTube-Konkurrenten RuTube und VK Video in Betracht, die noch 2022 verschwindend geringe Marktanteile besaßen und etwa hinsichtlich des Algorithmus dem US-Riesen deutlich unterlegen waren. Doch für die politische Kontrolle waren sie ideal: Beide hatten ihren Sitz in Moskau, RuTube ist Teil des Staatskonzerns Gazprom und auch VK befindet sich in den Händen kremlnaher Miteigentümer. In beide Videoportale wurde kräftig Kapital investiert, die Videobandbreite wurde gesteigert und die Algorithmen verbessert. Bekannte Influencer wurden von beiden mit guten Konditionen von YouTube abgeworben.

Doch um die Dominanz eines Videoriesen wie YouTube zu brechen, reicht es nicht aus, lediglich alternative Plattformen mit attraktiven Inhalten aufzubauen. Im zweitem Schritt musste der Marktanteil von YouTube auch mit repressiven Methoden gesenkt werden. 2024 gab es zunehmend Meldungen, das Portal würde in Russland gezielt verlangsamt. Wegen der anhaltenden Sperrung kremlnaher Kanäle wurden dem Eigentümer Google parallel astronomische Strafzahlungen aufgebrummt. Wer auf der Plattform unliebsame politische Meinungen verbreitete, wurde schnell als „ausländischer Agent“ gebrandmarkt. Außerdem wurde solchen „Agenten“ 2024 verboten, ihre publizistische Arbeit mit Werbung zu finanzieren. Im August 2024 fiel die Möglichkeit der Monetarisierung für YouTuber mit Wohnsitz in Russland generell weg – eine wichtige Einnahmequelle für Videoblogger entfiel damit ersatzlos.

Der Erfolg solcher Maßnahmen blieb nicht aus: Im Mai 2025 überholten sowohl RuTube als auch VK Video YouTube bei den täglichen Zugriffsszahlen. Der Marktanteil des einst auch in Russland übermächtigen Videoportals befindet sich im Sinkflug. Creators verdienen dort wenig Geld, Nutzerinnen und Nutzer kämpfen mit technischen Problemen. Alles spricht dafür, dass der Rückgang der YouTube-Nutzung auch in Zukunft anhalten wird. Irgendwann wird die Schwelle erreicht sein, wo YouTube in Russland nicht mehr viel bedeutender sein wird als Twitter oder Facebook 2022. Dann ist es Zeit für die dritte und finale Phase der Strategie, die sich dann ohne größeren Unmut in der breiten Bevölkerung und ohne nennenswerte technische Schwierigkeiten durchführen lässt: Die vollständige Blockade von YouTube im RuNet.

Im Fall von Telegram sah es lange so aus, als würden die russischen Behörden eine andere Strategie verfolgen, um die Oberhand über die Plattform zu gewinnen: nicht durch Veränderung, sondern durch Kooptation. Während in den Anfangsjahren russischsprachiger Telegram-Nutzung vor allem oppositionelle Stimmen dominierten, förderten Regierungsstellen zunehmend eigene, regierungstreue Angebote. Eine ganze Szene ultrapatriotischer Z-Blogger und sogenannter „Kriegskorrespondenten“ entstand, die ab 2022 auch den Feldzug des Kreml in der Ukraine offen unterstützten. Eine aktuelle Recherche der Investigativplattform Important Stories deckte zudem Verbindungen der Verantwortlichen der Telegram-Serverstruktur mit dem Inlandsgeheimdienst FSB auf. Dies legt nahe, dass der Nachrichtenverkehr zwischen den Usern von diesem möglicherweise gezielt überwacht wird.

Anders als in den 2010er Jahren verfolgt das russische Polit-Establishment heute nicht nur das Ziel, die öffentliche Meinung zu dominieren und Regierungskritiker zu überwachen.

Anders als in den 2010er Jahren verfolgt das russische Polit-Establishment heute nicht nur das Ziel, die öffentliche Meinung zu dominieren und Regierungskritiker zu überwachen. Vielmehr geht es um die vollständige Kontrolle des digitalen Informationsraums. Trotz all dieser Maßnahmen gibt es noch immer viele oppositionelle Inhalte auf Telegram. Viele Kanäle versorgen russische Nutzer aus dem sicheren Ausland mit unangepassten Informationen und abweichenden Meinungen. Selbst die sogenannten „Kriegskorrespondenten“ aus dem Z-Milieu sind nicht so leicht kontrollierbar. Sie kritisieren unfähige Feldkommandeure oder decken offiziell verschwiegene Rückschläge im Krieg auf. Deswegen wird es nicht bei den aktuellen Maßnahmen bleiben, und es ist auch bei Telegram mit einer Ablösung durch eine Plattform unter vollständiger staatlicher Kontrolle zu rechnen. Das Vorbild ist hier China, wo der Messenger WeChat unter Kontrolle der Behörden faktisch eine Monopolstellung erreicht hat. Einen vergleichbaren „nationalen Messenger“ forderte im Juni 2025 der russische Minister für digitale Entwicklung, Maksut Shadayev. Entwickelt werden soll er von dem Moskauer Technologiekonzern VK.

Die wachsende Attraktivität kremlnaher Plattformen wird zusätzlich dadurch gefördert, dass dort immer mehr staatliche Dienstleistungen konzentriert werden, vom Ausweis beim Alkoholkauf bis zum offiziellen Schulchat. Schritt 1 zur Verdrängung von Telegram wäre damit analog zu YouTube gemacht. Dass auch die Schritte 2 und 3 – technische Einschränkungen und eine mögliche Blockade – in Vorbereitung sind, macht German Klimenko öffentlich. Der Vorstand des Fonds für digitale Entwicklung und ehemaliger Internet-Berater Putins erklärte in der russischen TV-Propagandasendung Soloviev, Telegram solle verlangsamt oder gar gesperrt werden. Die Russen würden trotz seiner Popularität irgendwann zum staatlichen Messenger wechseln – was zugleich das Ende der anonymen Kommunikation bedeuten würde. Klimenko gehört nicht zur engsten Führungsriege, doch Äußerungen dieser Art im Staats-TV geschehen mit Duldung oder Unterstützung der Staatsspitze. Dies geschieht, um die Bevölkerung auf Maßnahmen vorzubereiten, die von der Spitze selbst aktuell noch dementiert werden. Bis die Zeit für sie reif ist.

Mit dem Niedergang und der Sperre von YouTube und Telegram wäre das RuNet von den letzten massenhaft genutzten Plattformen befreit, über die russische Bürgerinnen und Bürger ohne VPN-Umgehung noch unabhängige Informationen erhalten können. Auch die Nutzung von VPN zur Umgehung von Netzsperren wird seit 2023 vom Kreml bekämpft, als die Telekommunikationsaufsicht die Genehmigung bekam, „unerwünschte“ VPN-Anbieter zu sperren. Im Jahr 2024 entfernte Apple auf Druck der Behörden zahlreiche VPN-Anwendungen aus seinem russischen App-Store. Dieser Kampf gegen die Umgehung der Netzzensur wird weitergehen. Doch ob es der russischen Regierung langfristig gelingt, abweichende Meinungen vollständig aus dem RuNet zu verbannen, ist ungewiss. Vieles wird vom Verlauf der nächsten großen Revolution im Netz abhängen: der Künstlichen Intelligenz. Hier hat sich schon in den USA gezeigt, dass moderne, intelligente Routinen nicht immer kompatibel sind mit Ideologien, die ihre Substanz – wie in Russland – aus dem 19. Jahrhundert beziehen.