„Es braucht jetzt neuen Schwung für die Erweiterung, für die Ukraine, für Moldau und für die Staaten des Westlichen Balkans“, so der deutsche Außenminister Johann Wadephul anlässlich seines Besuches bei seinem Amtskollegen in Kroatien vom 25. August. Geopolitisch und geostrategisch gehörten die Staaten des Westlichen Balkans zur Europäischen Union, und es sei keine Option, die Region Autokraten zu überlassen, so der wadephulsche Appell.
Keine 400 Kilometer weiter, in Belgrad, sitzt genauso ein Autokrat – einer, der versucht, nicht nur die Geschicke seines Landes, sondern die der ganzen Region zu lenken: Aleksandar Vučić. Gegen das System Vučić protestieren seit zehn Monaten – seit dem Einsturz des Bahnhofsvordachs von Novi Sad, bei dem 16 Menschen ums Leben kamen – Hunderttausende, darunter eine Vielzahl Studierender.
Im August, das zeigen die Bilder aus Belgrad und anderen serbischen Städten deutlich, haben sich die Proteste radikalisiert. Sie haben das klare Ziel, Neuwahlen zu erzwingen. Im November 2024, als die Proteste begannen, standen sie unter dem Motto: „Eure Hände sind mit Blut beschmiert.“ Die Hauptforderung bestand in der Aufklärung des Unglücks. Vermutet wird, dass es bei der Renovierung des Bahnhofs, welche im Juli 2024 abgeschlossen wurde, Baufehler gab, die auf Korruption zurückzuführen sein könnten. Eine vollständige Aufklärung ist trotz einiger Festnahmen, darunter hochrangiger Beamter und Politiker, auch zehn Monate später nicht erfolgt.
Ihren bisherigen Höhepunkt fanden die Studierendenproteste bei einer Kundgebung in Belgrad am 15. März, als geschätzte 325 000 Menschen aus ganz Serbien nach Belgrad kamen, um die Aufklärung des Unglücks zu fordern. Schon im März aber war klar: Es geht um mehr. Den Protestierenden geht es um Demokratie und um ein Leben in Würde und Wahrheit. Es geht um ein Serbien, in dem nicht eine Partei zu weiten Teilen die Geschicke des Landes bestimmt, indem sie den öffentlichen Dienst, das Bildungssystem und zunehmend auch die Privatwirtschaft usurpiert.
Dieses System Vučić hat sich in den letzten zehn Jahren, seitdem die Serbische Fortschrittspartei (SNS) an der Macht ist, stetig weiterentwickelt. Demokratie, Medienfreiheit und Pluralismus – all das ist eingeschränkt; Korruption und Nepotismus sind hingegen allgegenwärtig. Eine aktive politische Opposition gibt es noch; diese ist aber durch das Regime so stark marginalisiert und diffamiert worden, dass sogar die Studierendenbewegung die Opposition als „schmutzig“ wahrnimmt und nur punktuell mit ihr kooperiert.
Den Protestierenden geht es um Demokratie und um ein Leben in Würde und Wahrheit.
Im Mai kam auf Seiten der Protestbewegung die Forderung nach Neuwahlen hinzu, bei denen auch eine studentische Liste antreten würde, die das Land re-demokratisieren könnte. Im ganzen Land wurden Schulen und Universitäten bestreikt, und es bildete sich eine neue Bürgerbewegung – die sogenannten Zbors („Versammlungen“) –, welche die lokalen Geschicke nicht mehr der Serbischen Fortschrittspartei überlassen, sondern sie selbst in die Hand nehmen wollen.
Am in vieler Hinsicht symbolträchtigen Vidovdan, einem der wichtigsten Feiertage des Landes fand am 28. Juni ein weiterer großer Protest in Belgrad statt, bei dem deutlich wurde, dass die Bewegung auch nationalistische Töne nicht scheut, um sich gegen die Diffamierungen der Regierung zu wehren. Diese bezeichnete die Protestbewegung schon längst als vom (westlichen) Ausland gesteuerte Farbrevolution und als Verräter der serbischen Nation. Auf dem Protest riefen die Studierenden zu zivilem Ungehorsam auf und erneuerten ihre Forderung nach Neuwahlen. Genau das passiert in diesen Tagen – der zivile Ungehorsam in Serbien hat sich radikalisiert.
Die Bilder der Proteste mit brennenden Müllcontainern und zerstörten Büros der Regierungspartei SNS sind eindrücklich und zeigen, dass eine Radikalisierung der Proteste stattgefunden hat – aus einer Verzweiflung über die Nichterfüllung der Forderungen der Protestbewegung heraus. Auf diese Radikalisierung reagiert das Regime, wie von Präsident Vučić mehrfach öffentlich angekündigt, mit neuer Härte. Es kommt zu einer Vielzahl von Verhaftungen, bei denen die Polizei anscheinend mit Brutalität vorgeht. Eine Studentin berichtete über körperliche Misshandlung und die Androhung von Vergewaltigung im Polizeigewahrsam. „Wir sind alle Nikolina“ (Svi smo mi Nikolina) ist zum Motto einer feministischen Protestwelle im ganzen Land geworden.
Neben der Polizei sind vielfach auch sogenannte Batinasi, Schläger- oder Hooligangruppen, auf den Straßen unterwegs, welche ihrerseits auf die Demonstrierenden losgehen – teils mit blanken Fäusten, teils mit Feuerwerkskörpern. Rhetorisch bekämpft das Regime die Protestbewegung mit dem Nazi-Vorwurf. Es sei eine faschistische, vom Ausland – allen voran von Deutschland und Kroatien – gesteuerte Bewegung entstanden, die es im Interesse der serbischen Nation zu bekämpfen gelte. Die Parallelen zum russischen Diskurs sind nur allzu augenfällig.
Die weitere Entwicklung ist unklar. Erst am 25. August lehnte der Vorsitzende der Regierungspartei und ehemalige Premierminister Vučević baldige Neuwahlen ab. Präsident Vučić forderte in einer seiner vielen Fernsehansprachen die Protestierenden zu einem Dialog auf, den diese allerdings ablehnen – mit dem Verweis darauf, dass man „mit der Mafia nicht verhandelt“. Die Entwicklung hin zu einer weiteren, auch gewaltsamen Eskalation scheint quasi vorgezeichnet.
Nach einem EU-Beitrittsprozess, der diesen Namen verdient, klingt das alles nicht einmal im Entferntesten. Seit Jahren schon kommt dieser allenfalls schleppend voran. Geopolitisch bewegt sich Serbien weiterhin in der altbekannten Schaukelpolitik zwischen Westen und Osten. Ein echtes Interesse am EU-Beitritt scheint bei Vučić und seiner Regierungsmannschaft nicht zu bestehen – würde das doch bedeuten, die eigenen, auch wirtschaftlichen Interessen im Lande zu konterkarieren. Die Bauwirtschaft, das zeigt das Unglück von Novi Sad, scheint zu großen Teilen in den Händen der Regierungspartei zu liegen.
Geopolitisch bewegt sich Serbien weiterhin in der altbekannten Schaukelpolitik zwischen Westen und Osten.
Und auch geopolitisch ist keine eindeutige Orientierung in Richtung Europa zu verzeichnen. Bei wichtigen Entscheidungen holt sich die Regierung meist das Placet aus Moskau, zudem ist China zum wichtigsten ausländischen Einzelinvestor in Serbien avanciert. Neu hinzu kommt das Flirten mit Trump – man kann außenpolitisch also bestenfalls von einem geopolitischen Potpourri sprechen.
Im Westlichen Balkan versucht Serbien nach wie vor, seinen Einfluss als Nachfolgestaat Jugoslawiens geltend zu machen. Die Unabhängigkeit des Kosovo will Belgrad auf keinen Fall zulassen, in Montenegro werden wichtige demokratische Prozesse im EU-Beitrittsprozess durch serbische Parteien blockiert, und seit Neuestem versucht Serbien auch Nordmazedonien auf seinen Kurs zu bringen.
Der Appell von Johann Wadephul ist daher wichtig: Wir dürfen die Region nicht den Autokraten überlassen. Nur: Allein bei dem Appell darf es nicht bleiben. Ernst genommen bedeutet das, sich der Entwicklung in Serbien zu stellen. Positiv – das dürfte deutlich geworden sein – ist diese nicht. Wenn es so weitergeht, stehen die Zeichen eher auf weitere Autokratisierung, und ein Belarus-Szenario, wie es die serbische Zivilgesellschaft seit Jahren befürchtet, ist in greifbare Nähe gerückt.
Lange hat die deutsche und die europäische Politik in Vučić und seinem System einen Garanten für Stabilität in Serbien und der Region gesehen. Dass diese Scheinstabilität ein Ende gefunden hat, dürfte klar sein. Reines Wegsehen dürfte also im eigenen Interesse passé sein. Gleichzeitig ist es aber schwierig, einen alternativen Entwicklungsweg für Serbien zu definieren – zu lange hat sich das System Vučić frei entfalten können. Sollte es nun wider Erwarten im Winter 2025 doch Neuwahlen geben, könnte eine studentische Liste in Serbien Chancen haben zu gewinnen – das zeigen mehrere Umfragen.
Allerdings wäre eine Regierung aus Vertretern einer studentischen Liste – also aus Professoren und angesehenen Persönlichkeiten – ein komplettes Novum und ohne die Unterstützung von Menschen, die Erfahrung im Regierungshandeln haben, kaum denkbar. Zumal die Bürokratie weiterhin aus Anhängerinnen und Anhängern der Serbischen Fortschrittspartei besteht. Genauso denkbar wäre auch, dass die Serbische Fortschrittspartei die Wahlen gewinnt und sich damit die Verhältnisse weiter verschärfen. Die letzten Parlamentswahlen vom Dezember 2023 waren von Unregelmäßigkeiten und Wahlfälschungen geprägt, und auch die von der OSZE festgestellten Missstände wurden bisher nicht behoben, sodass der Spielraum für Manipulationen groß ist.
Ratsam wäre daher eine Übergangsphase, in der freie und faire Wahlen vorbereitet werden. Dazu aber braucht es ein entschiedenes und diplomatisches Engagement – aus Brüssel und aus den Hauptstädten. Im Interesse der Bürgerinnen und Bürger Serbiens, im Interesse der Demokratie, aber auch im wohlverstandenen geopolitischen Eigeninteresse. Eine EU-Integration der Länder des Westlichen Balkans, die Wadephul zu Recht mit geopolitischen Interessen begründet, ist ohne ein demokratisches und wahrhaft stabiles Serbien nicht denkbar. Die europäische Demokratie wird also gerade an der Save und an der Donau verteidigt, auf der anderen Seite warten Russland und China.