In der politischen Metaphorik gibt es das schöne Bild vom Abstimmen mit den Füßen, das gern auf verschiedene Formen von politischer Artikulation mittels Bewegung bezogen wird – seien es Protestmärsche, sei es Auswanderung, Abwanderung oder Exil. In einer etwas anderen Spielart mag einem dieses Bild indes auch bei den diversen Reaktionen in den Sinn gekommen sein, die in den vergangenen Wochen den Tod der britischen Langzeitkönigin Elizabeth II. begleitet hatten. Anlässlich des Verscheidens ihrer Queen stimmten nämlich Hunderttausende Britinnen und Briten ganz unvermittelt auf den Straßen und Plätzen ihres Landes mit den Füßen ab, indem sie Trauergedecke niederlegten, den neuen König Charles III. bejubelten und teilweise bis zu 24 Stunden Schlange standen, um der Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen.

Abgestimmt haben sie dabei zum einen über ein Leben, das geprägt war von geradezu übermenschlich erscheinender Pflichterfüllung und Opferbereitschaft, zum anderen aber auch über die Monarchie als elementaren Wirkrahmen dieser Tugenden. Beides ist untrennbar miteinander verbunden. Nie ging es bloß um den Menschen Elizabeth Windsor, sondern immer auch um die erste Frau im Staat, die Leitfigur der britischen Politik, das königinnenförmige Symbol nationalen Gemeinsinns. Hat sich dieses Symbol überlebt? Hat mit dem Tod der Regentin auch – wie nicht wenige vermutet hatten – die respektvoll gemeinte, aber doch unmissverständliche Parole The Queen is dead, long live the Republic! neuen Auftrieb bekommen? Auch darüber haben die Menschen auf den Straßen Londons und vor Westminster Abbey ihr Urteil gefällt: ein unmissverständliches Nein.

Dass sich auch nach dem Ende von 70 Jahren Königinnenherrschaft so überhaupt kein republikanischer Reflex abzeichnen will, stößt in der deutschen Medienlandschaft auf ebenso erwartbares wie pikiertes Erstaunen. Die Rolle der Speerspitze kommt dabei der taz zu, die in einem geradezu rufmörderischen Kommentar von Ralf Sotschek („Die Demokratie hat abgedankt“) die Verstorbene zunächst als misogyne Rabenmutter mit Überlegenheitskomplex karikiert und auf dieser Grundlage schlussfolgert: „Ihr Tod wäre eine gute Gelegenheit gewesen, die längst fällige Debatte über den Fortbestand der britischen Monarchie zu führen.“ Auf dem Onlineauftritt von n-tv sekundiert ihm Hubertus Volmer („Die Monarchie ist nur eine Lüge“) und selbst das sonst so nüchterne Handelsblatt fragt: „Werden die Briten jetzt die Monarchie los?“, als ginge es hier um einen lästigen Schnupfen oder einen Termitenbefall und nicht um eine staatstragende Institution.

Evident ist: Die Deutschen tun sich mit der Monarchie schwer, ein Umstand, der aus historischen Gründen nicht allzu überraschend ist, der aber derzeit in eine etwas krude Besserwisserei ausartet. Schließlich nimmt die britische Krone niemandem etwas weg, erst recht niemandem zwischen Ost- und Bodensee, gibt aber im Gegenzug vielen Menschen Identität, Zugehörigkeitsgefühl und Trost. Unvergessen etwa die Mutmacher-Rede der Königin zur Covid-19-Pandemie. Unvergessen auch ihre öffentlichen Auftritte über sieben Dekaden. Nicht wenige, die Elizabeth II. einmal von Nahem erleben durften (und das sind im Jahr Hunderte), berichten noch Ewigkeiten später mit glänzenden Augen davon. Emotionen, die kaum ein republikanisches Staatsoberhaupt auch nur im Ansatz hervorzurufen weiß.

Die Deutschen tun sich mit der Monarchie schwer.

Diese positive Grundstimmung ist gegenwärtig so präsent wie selten zuvor. Zwar sind bei weitem nicht alle, die der Tod der Queen in irgendeiner Weise berührt, deshalb gleich eingefleischte Monarchisten. Dass aber eine klare (und wachsende) Mehrheit sich für den Erhalt der bestehenden Ordnung ausspricht, ist schlechterdings kaum anzuzweifeln. Wie so oft bedingt auch hier die kollektive Verlusterfahrung einen Erkenntnisgewinn, nämlich die Einsicht, für wie selbstverständlich man das Verlorene gehalten und dass man es ergo zu wenig wertgeschätzt hat. Auch deshalb kommt selbst die anti-elisabethanische taz am Ende nicht umhin, sich mit jener insularen Realität auseinanderzusetzen, in der sogar ein Obdachloser aus der Provinz einen gravitätischen Grundroyalismus pflegt: Er sei sehr traurig, erklärt dieser, „weil die Queen viel für’s Land getan“ habe. Touché!

Allein schon vor diesem Hintergrund wirkt kontinentaler Snobismus in der Monarchiefrage unangebracht, ja, geradezu unflätig. Nicht, dass intelligente Kritik überhaupt keine Berechtigung hätte, aber wenn ein Kommentator wie der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch auf Twitter zum Besten gibt, die Königin und ihre Familie seien bloß „Nachfahren von irgendwelchen random Bullys, die irgendwann mal ein Stück Land besetzt“ hätten, dann ist das weder intelligent noch anderweitig gehaltvoll, sondern bloße Bedarfspolemik.

Ohnehin sind die meisten Argumente, die dieser Tage von republikanischer Seite ins Feld geführt werden, nur wenig überzeugend: Die Monarchie, heißt es da zum Beispiel, sei anti-demokratisch und habe sich in einer in ihren Erfahrungshorizonten auseinanderdriftenden Welt schon dem Grundsatz nach überlebt. Was dabei jedoch unter den Tisch fällt, ist ihr integratives Potential, ihre staatsstabilisierende Qualität und nicht zuletzt auch der Umstand, dass Demokratie nicht zwangsläufig die Elektorisierung allen öffentlichen Lebens bedeuten muss. Anders formuliert: Wer sich damit anfreunden kann, dass Bundesrichterinnen und Polizeipräsidenten nicht der Wahl unterliegen, sollte auch mit der grundsätzlichen Nichtwählbarkeit eines Repräsentationsamtes zurechtkommen – zumal diese Nichtwählbarkeit ja gerade den Reiz an der Sache ausmacht. Die Vorstellung dynastischer Kontinuität schlägt das Konzept eines Wahlkönigtums als Bonusstation auf dem heutigen cursus honorum um Längen.

Nicht nur das Gros der Britinnen und Briten dürfte diesem Urteil beipflichten. Auch die meisten der 14 anderen Staaten, die Charles III. nun in Personalunion regiert (die Commonwealth Realms), haben bis dato nur geringes Interesse gezeigt, ihr monarchisches Korsett abzustreifen. Ausnahmen stellen lediglich Jamaika und der Karibikkleinstaat Antigua und Barbuda dar, wobei die Republikdebatte in beiden Fällen schon seit geraumer Zeit auf der (postkolonialen) Agenda steht und keineswegs kausal mit dem Tod der Königin zusammenhängt. Dagegen haben sich die drei Premierminister von Kanada, Australien und Neuseeland – Justin Trudeau, Anthony Albanese und Jacinda Ardern – allesamt öffentlich für die Beibehaltung des Status quo starkgemacht. Trudeau sprach gegenüber BBC Today gar davon, dass die Monarchie seinen „Kanadiern auch weiterhin ausgezeichnete Dienste leisten“ werde. Nach konstitutioneller Zeitenwende will das nicht so recht klingen.

Dass der neue König in den letzten beiden Wochen einiges an Statur gewonnen hat, begünstigt die pro-monarchische Sache noch weiter. Vor nicht zu langer Zeit war Charles noch als ewiger Thronfolger belächelt worden: als Exzentriker, der mit Pflanzen spricht, alternativmedizinischen Praktiken anhängt und es sich im Schatten anderer (der Mutter, der Ex-Frau, der Söhne) eingerichtet hat. In Umfragen plädierte zeitweilig fast jeder Zweite dafür, ihn kurzerhand zu übergehen und den Thron direkt an die nächste Generation weiterzureichen. Auch davon ist zurzeit nicht mehr viel zu hören. Vielmehr wird die würdige und beherrschte Art, mit der er die Nation durch die Trauerzeit geleitet hat, lagerübergreifend respektiert und anerkannt. Behält Charles diesen Kurs bei, dann ist absehbar, dass auch er seinen Untertanen noch ans Herz wachsen wird. Vielleicht nicht in gleichem Ausmaß wie seine Mutter, aber genug für eine erfolgreiche Übergangsregentschaft im Vorgriff auf William V. – mit dem dann der Glamourfaktor wieder Einzug in den Buckingham Palace halten dürfte.