Ein „friedlicher“ Umsturz sollte es werden – ein Aufbruch, vielleicht sogar das Ende der autokratischen Regierung. Zehntausende folgten am vergangenen Samstag dem Aufruf des georgischen Oppositionspolitikers Paata Burtschuladse und strömten auf den Freiheitsplatz im Herzen Tbilissis. Doch letztlich war, was an dem Tag geschah, weder friedlich noch ein Umsturz. Die Organisatoren der Kundgebung sind wegen versuchten Aufstands in Haft, täglich werden weitere Demonstrierende festgenommen. Die Europäische Union kritisiert das Vorgehen der Regierung und erwägt neue Sanktionen. Der Tag, der ein Aufbruch werden sollte, zeigte vor allem eines: eine Opposition, die sich selbst lahmlegt.

Aber der Reihe nach: Am Samstag, dem 4. Oktober, standen in dem Kaukasusland zunächst nur Kommunalwahlen auf dem Plan. In allen 64 Gemeinden sollten neue Gemeinderäte und Bürgermeister gewählt werden. Ein Teil der Opposition, darunter die Vereinte Nationale Bewegung von Ex-Präsident Micheil Saakaschwili, entschied sich dazu, die Wahl zu boykottieren. Frühere Wahlen hatten Zweifel an der Integrität des Wahlprozesses geschürt und eine Teilnahme wäre aus Sicht der Boykottierenden nur eine Legitimation des Georgischen Traums, der autokratischen Regierungspartei. Zwei weitere Oppositionsgruppen, Lelo – Starkes Georgien und Für Georgien, entschieden sich jedoch zur Teilnahme. Ihr Argument: Beteiligung könne den regierungskritischen Schwung aufrechterhalten und verhindern, dass die Regierungspartei die Kontrolle über sämtliche Institutionen konsolidiert. Bereits Anfang Juni hatte Oppositionspolitiker Paata Burtschuladse angekündigt, am Wahltag einen Protest gegen die Regierung zu organisieren. Manche sprachen von einem „Tag der Revolution“. Zehntausende Menschen folgten dem Aufruf – von Jugendlichen bis hin zu Älteren, viele mit Sonnenbrillen, Mundschutzmasken oder Karnevalkostümen.

Manche sprachen von einem „Tag der Revolution“.

Auf der gesamten Rustaveli Avenue, dem politischen Zentrum Georgiens, sind nämlich Gesichtserkennungskameras installiert. Die Regierung pflegt eine besondere Taktik: „Verstöße gegen die Straßenordnung“ werden mit 1 800 Euro Strafe geahndet – in einem Land, in dem der durchschnittliche Nettolohn bei rund 560 Euro liegt. Nichtbezahlung kann lange Haftstrafen nach sich ziehen. Trotzdem gingen an dem Tag viele Menschen auf die Straßen. Der 4. Oktober sei eine natürliche Frist, um die Macht an das Volk zurückzugeben, hieß es von den Organisatoren. Wie das allerdings geschehen solle, wusste niemand. Auf dem Freiheitsplatz präsentierte sich Burchuladse als Anführer einer „Nationalversammlung“. Die amtierende Regierung habe keine Legitimität mehr und müsse augenblicklich zurücktreten, forderte er. Es sei Zeit für eine Übergangsregierung, Polizei und Innenministerium sollten sich dem Volk statt der Regierung unterstellen. Eine Forderung, ohne konkretes Druckmittel. Am Abend eskalierte ein Teil der Proteste, als Demonstrierende versuchten, den Präsidentenpalast zu stürmen. Sie rissen den Metallzaun ein, errichteten Barrikaden und zündeten sie an. Die Polizei reagierte mit massivem Aufgebot: Scharfes Tränengas und eine Wasserkanone zwangen die Demonstranten zum Rückzug. Veröffentlichte Videos zeugen davon, dass die Polizei auch Gummigeschosse verwendete.

Angesichts der autoritären Machtpolitik und ermüdender Proteste erschien das wie ein letzter aufmüpfiger Akt der Opposition, Einfluss zu behalten. In dem Kaukasusland ist der Protest längst zum Dauerzustand geworden. Seit über 300 Tagen demonstriert die Bevölkerung gegen den autoritären und pro-russischen Kurs der Regierung. Nach der umstrittenen Parlamentswahl am 26. Oktober 2024 hatte die Partei Der Georgische Traum die absolute Mehrheit errungen. Beobachter berichteten von Wahlbetrug, Einschüchterung und Stimmenkauf. Bis heute ziehen Verfassungsrechtler die Rechtmäßigkeit des Parlaments in Zweifel. Kurz nach dem Wahlsieg kündigte die Regierung an, die EU-Beitrittsverhandlungen bis 2028 auszusetzen. Bereits vor der Wahl hatte sie ein sogenanntes „Agentengesetz“ durchgesetzt, das NGOs und Medien, die mindestens 20 Prozent ihrer Finanzierung aus dem Ausland erhalten, als „Vertreter ausländischer Mächte“ registriert. Laut Experten ist das Gesetz selbst vom Satzbau her „durch und durch“ russisch. Seitdem drohen Aktivisten, Oppositionellen und Journalisten Geld- und sogar Haftstrafen. Den Teilnehmenden von Demonstrationen und Oppositionsvertretern drohen bis zu sechs Jahren Gefängnis, mehrere Angeklagte berichten von Gewalt und Folter während der Haft. Allein im vergangenen Jahr wurden rund 60 Menschen inhaftiert.

Vor diesem Hintergrund erschien die Kommunalwahl wie die letzte Möglichkeit der Opposition, dem Kurs der Regierung noch etwas entgegenzusetzen. Die nächsten Wahlen werden erst 2028 stattfinden. Doch die Opposition war gespalten: Einige boykottierten die Wahl, andere traten an. Das führte in der ohnehin schon zersplitterten Opposition zu noch mehr Spaltungen, verbalen Auseinandersetzungen und gegenseitigen Beschuldigungen.

Dementsprechend war das Wahlergebnis eindeutig: Laut der Zentralen Wahlkommission gewann der Georgische Traum in allen 64 Gemeinden überwältigend, meist mit über 70 Prozent der Stimmen; landesweit kam die Partei sogar auf 82 Prozent. Die Wahlbeteiligung fiel historisch niedrig aus – 41 Prozent landesweit, in der Hauptstadt Tbilissi gar nur 31 Prozent. Mit dem Boykott wie auch mit dem gescheiterten Palaststurm wurde kein Durchbruch erreicht. Viele Demonstranten waren dem Aufruf zum Palaststurm gar nicht gefolgt. Es herrschte Uneinigkeit über das konkrete Vorgehen gegen die Regierungspartei. Der Georgische Traum hat hingegen nun auch auf kommunaler Ebene die volle Kontrolle und bereitet sich auf die nächsten Schritte vor. So hat die Regierung bereits erste Pläne vorgestellt, nahezu alle Oppositionsparteien zu verbieten. Premierminister Irakli Kobakhidze kündigte an, die ehemalige Regierungspartei Vereinte Nationale Bewegung sowie weitere Parteien für verfassungswidrig erklären zu wollen. Ein „Netzwerk ausländischer Agenten“ dürfe nicht länger in der georgischen Politik aktiv sein, lautet die Erklärung.

Für autokratische Parteien zählen demokratische Prozesse kaum; entscheidend sind Machterhalt und Überleben.

Nach Einschätzung von Experten hätte eine vereinte Opposition bei diesen Kommunalwahlen noch eine Chance gehabt – zumindest in der Hauptstadt Tbilissi und größeren Städten wie Batumi. In einigen Wahlbezirken hätte ein paralleles Nachzählen möglicherweise Wahlbetrug nachweisen können. Ein Blick auf andere Länder zeigt ein ähnliches Muster: Bei den Parlamentswahlen in Serbien 2020 boykottierte ein Teil der Opposition ebenfalls die Wahlen, nachdem es zuvor Vorwürfe über Wahlbetrug und eine gespaltene Opposition gegeben hatte. Das Ergebnis war die größte Regierungsmehrheit einer Partei in Europa nach Belarus. Fünf Jahre später regiert die Serbische Fortschrittspartei weiterhin uneingeschränkt. Für autokratische Parteien wie den Georgischen Traum oder die Serbische Fortschrittspartei zählen demokratische Prozesse kaum; entscheidend sind Machterhalt und Überleben. Wer den Wahlprozess boykottiert, stärkt unbeabsichtigt genau jene, gegen die er ist. In diesem Sinne war der Boykott ein „Schuss ins eigene Bein“ der Opposition. Die Erfahrung der erfolgreichen Umstürze der „Farbrevolutionen“ der vergangenen Jahre zeigt ein bestimmtes Muster: Rosenrevolution in Georgien, Orange Revolution in der Ukraine und andere – alle folgten auf abgehaltene Wahlen, in denen autoritäre Regime versuchten, das Ergebnis zu manipulieren. Wer nicht auf dem Schlachtfeld erscheint, kann keinen Sieg erwarten.

Für Georgiens Zivilgesellschaft beginnt nun ein steiniger Weg. Das Innenministerium erklärte, jede künftige Protestkundgebung als Fortsetzung des „Putsches“ zu betrachten und entsprechend vorzugehen. Während die Regierung die Repression im Inneren verschärft, isoliert sich das Land international zunehmend. In Brüssel wird über Sanktionen und sogar die Aussetzung der Visaliberalisierung diskutiert, ein Schritt, der die proeuropäische Bevölkerung hart treffen würde. Für viele liberale und regierungskritische Georgier würde dies auch eine Flucht vor politischer Verfolgung weiter erschweren. Zudem hätte das den Effekt, dass die Stimmung im Land sich gegen die EU wendet. Der Glaube an Europas Solidarität ist im Augenblick der größte Treibstoff der Demonstrierenden. Hoffen wir, dass Europa ebenso auf Georgien blickt. Denn ohne europäische Unterstützung könnte der Traum von einem demokratischen Georgien unerfüllt bleiben.