Bürgerräte haben Konjunktur. Frankreich oder Deutschland hatten große Bürgerräte zur Klimapolitik. In Irland gab es einen einflussreichen Bürgerrat, der geholfen hat, den Abtreibungskonflikt beizulegen. Es gibt viele weitere Beispiele. Nun arbeitet auch die EU mit Bürgerräten.

Bei der Konferenz zur Zukunft Europas haben diese sogenannten Europäischen Bürgerforen eine zentrale Rolle gespielt. 800 Bürgerinnen und Bürger aus allen Mitgliedstaaten wurden per Zufallsalgorithmus ausgewählt. Sie haben Empfehlungen zu Themenfeldern erarbeitet, die für die Zukunft Europas relevant sind – von Klimaschutz, über Arbeitsmarktpolitik bis hin zu Sicherheitspolitik.

Die EU-Kommission betrachtet die EU-Bürgerforen als Erfolg. Nach dem Willen der Kommission sollen Bürgerforen deshalb in Zukunft für zentrale Gesetzesvorhaben der Europäischen Union Empfehlungen erarbeiten. Das Europäische Parlament drängt in die gleiche Richtung. Es spricht also viel dafür, dass Bürgerräte einen festen Platz in EU-Entscheidungsprozessen bekommen werden.

Was sind die Lehren aus den EU-Bürgerforen? Wie können diese künftig in Entscheidungsprozesse der EU eingebunden werden?

Ein beeindruckender Austausch zwischen Bürgerinnen und Bürgern aus allen Mitgliedstaaten, ein hohes Maß an Gemeinsamkeiten und sehr viel Einsatzbereitschaft waren echte Stärken der EU-Bürgerforen. Ihre Empfehlungen haben die Beschlüsse der Konferenz wesentlich geprägt. Paritätische Besetzung mit Frauen und Männern und große Beteiligung junger Menschen waren weitere Stärken. Dies ist ein großer Erfolg.

Bürgerforen sind repräsentativ, aber ungewählt vertreten sie niemanden.

Aber es gab auch Schwächen. EU-Bürgerforen und europäische Bürgerinnen wurden zu oft gleichgesetzt. „Die Bürger Europas hätten gesprochen und werden nun gehört“ – sinngemäß war dies ein oft zu hörendes Statement von Politikern. Die Empfehlungen der EU-Bürgerforen würden die Erwartungen der Bevölkerung Europas spiegeln. Quasi als Vorgabe des Souveräns müssten sie umgesetzt werden. Damit wurden die EU-Bürgerforen überhöht und problematisch.

Diese Gremien sollen die Bevölkerung in ihren unterschiedlichen Facetten abbilden. Insofern sind sie repräsentativ, aber ungewählt vertreten sie niemanden. Ohne demokratische Legitimität haben sie keinen Anspruch auf Umsetzung ihrer Empfehlungen. Den Mitgliedern der Bürgerforen war dies meistens bewusst, aber viele Politikerinnen haben in ein großes Horn gestoßen: Wir haben die Europäer gehört und setzen ihre Wünsche um.

Damit sind Enttäuschungen vorprogrammiert – wenn Vorschläge nicht umgesetzt werden. Anstatt, wie beabsichtigt, einen zusätzlichen Austausch zwischen Vertretern und Vertretenen zu schaffen, wird das Narrativ „von denen da oben“ befeuert. Zudem entsteht Verwirrung, wenn sich die Beschlüsse der Konferenz manchmal auf Empfehlungen der EU-Bürgerforen berufen – und manchmal nicht. Haben die Beschlüsse deshalb unterschiedliche Legitimität? Diese Frage gewinnt an Dringlichkeit, weil sie politisch wichtige Beschlüsse der Konferenz betrifft, wie etwa die Direktwahl der Kommissionspräsidentin.

Die überhöhende Rhetorik suggeriert zudem, dass Bürgerforen die ultimative Form der Bürgerbeteiligung in der EU seien. Sie sind der missing link zwischen politischen Entscheidungsträgerinnen und der Bevölkerung. Bürgerforen heben Demokratie in der EU auf eine neue, sprich bessere Ebene.

Die überhöhende Rhetorik suggeriert zudem, dass Bürgerforen die ultimative Form der Bürgerbeteiligung in der EU seien.

Diese Überhöhung wischt andere Formen von Bürgerbeteiligung beiseite. Mitarbeit in politischen Parteien, Bürgerbewegungen wie etwa Fridays for Future, die Europäische Bürgerinitiative und Konsultationen der Öffentlichkeit bleiben unerwähnt. Die Verengung auf Bürgerforen suggeriert zudem, dass ohne sie die Demokratie in der EU auf einem alten und damit überkommenen Zustand verharre. Ohne sie gebe es keinen echten Austausch zwischen Bürgerinnen und Politik. Das Kind wird mit dem Bade ausgeschüttet.

Schließlich war die Themenstellung der EU-Bürgerforen – die Zukunft Europas – zu breit. Mit dieser uferlosen Themenstellung wurde es schwer, konkrete und damit handlungsleitende Empfehlungen zu erarbeiten – und zwar innerhalb kurzer Zeit und ohne großes Vorwissen. Viele Empfehlungen sind deshalb allgemein und wiederholen in der Sache bestehende Beschlüsse der Europäischen Union – womit ihr praktischer Mehrwert für die EU gering blieb.

Vor diesem Hintergrund bieten sich vier Lehren an für den Fall, dass Bürgerräte in EU-Entscheidungsprozessen einen festen Platz bekommen sollen.

Politikerinnen sollten ehrlicher sagen, was Bürgerforen sind: Beratungsgremien, keine Ersatzparlamente.

Erstens: Politikerinnen und Politiker sollten ehrlicher und mit mehr Mut sagen, was Bürgerforen in Wirklichkeit sind: Beratungsgremien, keine Ersatzparlamente. Sie ergänzen andere Formen der Bürgerbeteiligung, sie sprechen aber nicht alleinig für das Volk.

Zweitens: Für Empfehlungen mit praktischem Mehrwert sollten die bürgerlichen Diskussionsplattformen eng begrenzte Themenfelder bearbeiten. Bürgerforen für bestimmte Gesetzgebungsvorhaben – wie die Kommission sie vorschlagen will – sind eine Möglichkeit für Themeneingrenzung. Bürgerforen zur strategischen Ausrichtung der EU laufen dagegen Gefahr, sich in abstrakten Aussagen zu verlieren.

Drittens: Für eine rechtzeitige und thematisch begrenzte Beteiligung am EU-Gesetzgebungsverfahren sollten Bürgerforen nach einer Mitteilung der Kommission, aber vor dem Gesetzgebungsvorschlag der Kommission einberufen werden. Damit es eine klare Abgrenzung zu den eigentlichen gesetzgeberischen Entscheidungen gibt, sollte die Arbeit der Bürgerforen mit der Kommentierung des Kommissionsvorschlags enden. Nach dem Gesetzgebungsverfahren sollten die Bürgerforen öffentlich und detailliert Feedback erhalten: Warum wurden Empfehlungen übernommen und warum nicht.

Da Bürgerforen zeitintensiv und teuer sind, sollten sie auf solche Gesetzgebungsvorhaben beschränkt werden, die richtungsweisend für die EU sind und bei denen Bürgerforen die Debatte voranbringen und inspirieren könnten. Festgefahrene Themen bieten sich hier an. Die Kommission sollte die Bürgerräte einberufen und dafür ein weiteres Ermessen haben. Bürgerforen sollten die ohnehin langsame und komplizierte Gesetzgebung in der EU nicht weiter verlangsamen.

Viertens: EU-Bürgerforen sollten so repräsentativ wie möglich sein. Das bedeutet nicht nur, dass die Bürgerforen ein Mini-Europa hinsichtlich des Geschlechts, der Herkunft, des Alters, der Bildung und des sozioökonomischen Hintergrunds abbilden, sondern auch hinsichtlich von Werten und politischen Überzeugungen. 

Werden diese Lehren umgesetzt, stärken Bürgerforen die Beteiligung von Bürgern an EU-Entscheidungen. Sie ergänzen dann die anderen Formen von Bürgerbeteiligung.