Die drei großen Verlierer dieser EM sind nicht Deutschland, Frankreich und Portugal, wie vielleicht einer meinen könnte. Aus finanzieller Perspektive – für den einen oder anderen weit schmerzvoller als das umstrittene Handspiel von Marc Cucurella – gibt es drei Nationen, die am meisten verloren haben: Spitzenreiter in Sachen Strafgelder sind Kroatien, Albanien und Serbien. Kroatien musste mit 220 875 Euro die höchste Strafe zahlen, auf Platz zwei folgte Albanien mit 171 375, dicht gefolgt von Serbien, das 166 625 Euro an die UEFA zahlen musste. Die Strafen wurden vor allem für das Vergehen der Fans ausgesprochen, darunter Bierbecherwürfe aufs Feld, der Einsatz von Pyrotechnik oder die „Übermittlung einer für ein Sportereignis ungeeigneten Botschaft“. Vor allem Letzteres war bei dieser Fußball-EM ein großes Thema und verdeutlicht, wie Fußball immer wieder zur Bühne für Nationalismus und Rechtsextremismus werden kann.
Besonders präsent im deutschen Diskurs waren Merih Demiral und einige türkische Fans, die den sogenannten „Wolfsgruß“ der rechtsextremen Grauen Wölfe zeigten. Zahlreiche weitere Vorfälle während der EM gingen in der Öffentlichkeit aber unter. Im österreichischen Fanblock wurde etwa ein Banner „Defend Europe“ der neofaschistischen „Identitären Bewegung“ gezeigt. Einige ungarische Fans hielten auf dem Weg zum Spiel gegen Deutschland eine Fahne mit dem Bild des DJ Gigi D'Agostino und der Aufschrift „Free Gigi“ hoch. Dabei sangen sie die Melodie von „L'amour toujours“, dem Lied, das umgedichtet im vergangenen Jahr zur rechtsextremen Hymne geworden ist. In der Schweiz und in Deutschland zeigten einige Fußballfans beim Public Viewing sogar den Hitlergruß.
Einige der traurigen Tiefpunkte der zahlreichen Eskapaden setzten die Fans der Länder Kroatien, Albanien und Serbien: „Tötet, tötet, tötet den Serben“, hallte es beim Spiel zwischen Albanien und Kroatien von den Rängen. Im albanischen Fanblock hingen zudem zwei Banner mit der Inschrift „Kosovo ist Albanien“. Tage zuvor hatten serbische Fans für Aufsehen gesorgt, als sie Flaggen schwenkten, die den Kosovo als Teil Serbiens zeigten. Die Vorfälle bei der Europameisterschaft waren keine Einzelfälle. Schon in den Jahren zuvor waren es oft Länder des Westbalkans, die durch nationalistische Gesänge oder sogar Gewalt im Fußball auffielen. So wurde 2014 ein Länderspiel zwischen Serbien und Albanien abgebrochen, als plötzlich eine Drohne mit einer Fahne über das Spielfeld schwebte, die das „Großalbanische Reich“ zeigte, das auch Teile Serbiens, Montenegros und Nordmazedoniens umfasst. Damals kam es zu Krawallen im Stadion, die UEFA reagierte mit harten Strafen.
Warum sind es so oft die Westbalkanstaaten, die mit Nationalismus hervorzustechen scheinen?
Warum sind es so oft die Westbalkanstaaten, oder, um konkreter zu sein, die Länder des ehemaligen Jugoslawiens und Albanien, die mit Nationalismus hervorzustechen scheinen? Einerseits liegt das an den blutigen Kriegen der 1990er, die viele offene Wunden und ungelöste Konflikte hinterlassen haben. Allerdings ist seit dem Ende des Kosovokriegs zwischen Serben und Kosovoalbanern bereits fast ein Vierteljahrhundert vergangen. Beinahe 30 Jahre sind seit den Jugoslawienkriegen vergangen. Im Fußball bleiben die Balkankonflikte dennoch präsent. Zeit heilt doch nicht alle Wunden.
Nationalismus ist heute auf dem Balkan die bevorzugte Karte, auf die die politischen Eliten in der gesamten Region zur Aufhetzung gegen den jeweils anderen setzen. Wahlen lassen sich damit leicht gewinnen, Massen leicht bewegen. Rechte und sogar nationalistische Positionen sind zum politischen Mainstream geworden. Die vor Kurzem verabschiedete Resolution der Vereinten Nationen, einen Internationalen Tag des Gedenkens an den Völkermord in Srebrenica einzuführen, macht das wieder deutlich. In Serbien reagierte die politische Elite mit Empörung und einer Gegenkampagne. „Wir sind kein Volk der Völkermörder“, konnte man auf Plakaten in der serbischen Hauptstadt Belgrad und sogar auf den Social-Media-Kanälen des Präsidenten Vučić lesen – auch wenn das niemand behauptet hatte.
Der einzige Weg, dem Nationalismus auf dem Westbalkan entgegenzuwirken, ist deren europäische Integration zu fördern.
Der einzige Weg, dem Nationalismus auf dem Westbalkan entgegenzuwirken, ist die wirtschaftliche Zusammenarbeit dieser Länder voranzutreiben und deren europäische Integration zu fördern. Trotz aller berechtigten Kritik, die die EU erfährt, darf nicht vergessen werden, dass es sich bei der EU um eine Erfolgsgeschichte handelt. Vom Schuman-Plan bis zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: Die Schaffung eines gemeinsamen Marktes brachte die Länder enger zusammen. Mit der Schaffung des Staatenbundes und der daraus folgenden wirtschaftlichen und politischen Integration gelang es, große Teile eines vom Krieg zerstörten und gespaltenen Europa zu einen. Das Gleiche kann sie mit dem Balkan erreichen.
Die Vorfälle bei der diesjährigen EM machen wieder deutlich, dass der Westbalkan von der EU nicht vernachlässigt werden darf. Der satirische Film „No Man´s Land“ von 2001 des Regisseurs Danis Tanović handelt von einem serbischen und zwei bosnischen Soldaten, die während des Jugoslawienkriegs in einem Schützengraben im Niemandsland gefangen sind. Einer der beiden bosnischen Soldaten liegt auf einer Mine. Versucht er aufzustehen, wird diese explodieren. Die Friedenstruppen der Vereinten Nationen scheitern daran, den drei verfeindeten Soldaten zu helfen, die notgedrungen sogar anfangen, zusammenzuarbeiten. Schließlich bleibt der Soldat alleine auf der Mine liegen. Die Blauhelmsoldaten können ihm nicht helfen und ziehen sich zurück.
Die Länder des Westbalkans sind natürlich die Schöpfer ihres eigenen Nationalismus und ihrer eigenen Konflikte, nicht die Europäische Union. Der EU darf aber nicht so etwas passieren wie den Blauhelmsoldaten im Film. Länder wie Bosnien, Serbien, Nordmazedonien und Albanien dürfen nicht zu einem Niemandsland mutieren, umgeben und vergessen von der EU. Das heißt nicht, dass die EU nach den Jugoslawienkriegen in den 1990ern nichts unternommen hat. Es wurde teilweise versucht, die Vergangenheit aufzuarbeiten und dem Nationalismus entgegenzuwirken. Der Prozess der europäischen Erweiterung kam allerdings in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren kaum oder gar nicht mehr voran.
Das hat auch Auswirkungen auf die Stimmung in diesen Ländern. Obwohl die europäische Integration bisher breite Unterstützung fand, nimmt diese allmählich ab und in vielen Ländern macht sich eine gewisse Lethargie breit. Es muss mehr getan werden, um den Ländern des Westbalkan eine Perspektive und eine Vision für die Zukunft zu geben. Wo Enttäuschung wächst, entsteht meistens noch mehr Nationalismus. Im Falle des Westbalkans treten auch noch andere Akteure auf. Russlands und Chinas Einfluss in der Region steigt und darf nicht vergessen werden. Die EU und Deutschland müssen den Ländern des Westbalkan die Hand reichen und ihnen eine Perspektive für eine Zukunft in der EU bieten, um ein Machtvakuum auf dem Kontinent zu vermeiden. Das bedeutet nicht, dass Menschenrechtsverletzungen und antidemokratische Entwicklungen toleriert werden sollten. Im Gegenteil: Berlin und Brüssel sollten klar und vehement auf solche Trends reagieren, falls nötig auch mit Sanktionen gegen die politischen Eliten. Und wenn die EU mehr Fokus auf den Westbalkan setzt und die Länder nicht sich selbst und ihren Nationalismen überlässt, wird die nächste Europameisterschaft vielleicht auch friedlicher verlaufen.