Wenn ein schwerwiegender und unerwarteter Schock eintritt, tauchen selbsternannte Propheten auf, die behaupten, sie hätten ihn kommen sehen, und die sofort gebrauchsfertige Lösungen parat haben. Dies geschah nach dem Fall der Berliner Mauer und nach der Finanzkrise von 2008. Diesmal ist es nicht passiert. Diese einfache Tatsache zeigt, wenn es denn noch eines Beweises bedurfte, dass die Covid19-Krise die unvorhergesehenste und tiefste Krise ist, die die EU seit ihrer Gründung erlebt hat. In Zeiten der Unsicherheit brauchen wir nicht nur starke und schnelle Maßnahmen, sondern auch eine klare Vorstellung davon, wohin wir wollen, wenn der Höhepunkt der Gesundheitskrise vorbei ist.

In den ersten Wochen der Krise wiederholten sich die herzzerreißenden Szenen des Schocks nach 2008: Die Regierungen der Mitgliedstaaten handelten getrennt, die EU war fast nicht zu hören. Angesichts der riesigen Aufgabe, die uns bevorsteht, können wir es uns nicht leisten, erneut so weiterzumachen. Ohne eine starke gemeinsame Reaktion könnte die EU in den Augen ihrer Bürgerinnen und Bürger ihre bereits fragile Legitimität verlieren. Populisten und Nationalisten haben nicht lange gezögert, ein „ausländisches“ Virus anzuprangern und nationalen Schutz und die vollständige Schließung der Grenzen zu fordern.

Während die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union mit einer dramatischen Gesundheitskrise konfrontiert sind, die bereits Tausende von Opfern gefordert hat und die unsere Wirtschaft und unser soziales Gefüge tief treffen wird, hat sich der Europäische Rat als unfähig erwiesen, seine traditionellen Spaltungen zu überwinden. Die politischen Wurzeln der EU stehen auf dem Spiel. Und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass dies auch für ihre moralischen Wurzeln gilt.

Die politischen Wurzeln der EU stehen auf dem Spiel. Und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass dies auch für ihre moralischen Wurzeln gilt.

Die doppelte Gesundheits- und Wirtschaftskrise, die das Coronavirus mit sich bringt, scheint kurzfristig einige EU-Mitgliedstaaten stärker zu betreffen als andere. Aber sie wird bald zu einer systemischen Krise für die EU insgesamt – und nicht nur für die Eurozone. Wir glauben, dass nur ein sehr mutiger und ehrgeiziger Plan, der dringende Maßnahmen und eine langfristige Vision kombiniert, wie der „New Deal“ von US-Präsident Franklin D. Roosevelt nach der Finanzkrise von 1929, das europäische Projekt retten kann. Dieser Plan könnte der Beginn einer neuen Ära der Koordination und Solidarität in der Geschichte der europäischen Integration sein.

Dies ist nicht der Moment, um erneut Diskussionen über die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten zu führen oder wieder einen Wettbewerb zu veranstalten, zwischen den mehr und den weniger tugendhaften Mitgliedstaaten. Vergleiche mit der Finanzkrise von 2008 sind von Natur aus irreführend. Dies ist ein exogener Schock, der alle Mitgliedstaaten trifft. Einige von ihnen werden möglicherweise aus ihrem eigenen Haushalt eigene, nationale Rettungspläne aufstellen. Aber das wird sie nicht in Sicherheit bringen. Wenn einige EU-Staaten in den kommenden Monaten mit einer strukturellen Krise ihrer öffentlichen Gesundheitssysteme und einer tiefen und lang anhaltenden Rezession konfrontiert sind, werden alle Mitgliedstaaten früher oder später betroffen sein.

Im Sprachgebrauch der Ökonomen: Dies ist eine symmetrische Krise mit kurzfristigen asymmetrischen Auswirkungen, die jedoch bald zu einer systemischen Krise für die gesamte EU – und nicht nur für die Eurozone – werden wird. Die Volkswirtschaften und Gesellschaften der EU sind so eng miteinander verbunden (wie die Probleme in den Lieferketten von Arzneimitteln und Medizinprodukten bereits zeigen), dass ein großer Schock in einigen EU-Ländern auch die anderen Länder, und damit die EU insgesamt treffen wird. Das Problem ist europäisch, die Antwort muss auch europäisch sein. Und eine europäische Strategie muss auch eine globale Dimension umfassen: Da der Wohlstand der EU stark von ihren Beziehungen zu anderen Regionen der Welt abhängt, werden uns letztendlich auch die Folgen der Covid19-Krise auf anderen Kontinenten betreffen.

Der von uns geforderte Plan basiert auf den Lehren, die aus den Mängeln unserer eigenen EU-Vereinbarungen und den verpassten Möglichkeiten der jüngeren Vergangenheit zu ziehen sind. In den 1930er Jahren war Roosevelt klug genug zu verstehen, dass die systemischen Schwächen der USA korrigiert werden mussten, um die amerikanische Demokratie, ihre Bürgerschaft und das Zusammengehörigkeitsgefühl zu schützen. Es gibt keinen Grund, warum die EU fast ein Jahrhundert später nicht zu derselben politischen Intelligenz fähig sein sollte.

Erstens brauchen wir eine sehr gründliche Bewertung und eine Überarbeitung unserer Währungs- und Steuerregeln. Die Europäische Zentralbank hat schnell gehandelt, um Staatsschulden aufzukaufen, die über ihre eigene Kaufobergrenze von 33 Prozent der Schulden der Länder hinausgehen, während die EU-Kommission beschlossen hat, den Stabilitäts- und Wachstumspakt auszusetzen. Das ist der beste Beweis dafür, dass die EU nicht dafür gerüstet ist, eine solche systemische Krise mit den bisher festgelegten Währungs- und Steuerregeln zu bewältigen. Das Fehlen eines echten europäischen Finanzministeriums und einer echten Bankenunion erscheint mehr denn je als tragische Schwäche der EU. Die vorhandenen Rettungsinstrumente (Europäischer Stabilitätsmechanismus, Solidaritätsfonds…) sind viel zu eingeschränkt und konditioniert, um die Reaktion zu ermöglichen, die wir jetzt benötigen.

Das Fehlen eines echten europäischen Finanzministeriums und einer echten Bankenunion erscheint mehr denn je als tragische Schwäche der EU.

Die Europäische Union muss diese Gelegenheit nutzen, um ihre Spaltungen zu überwinden und die erforderlichen Ressourcen zu mobilisieren, um sowohl den Mitgliedstaaten zu helfen als auch ihre eigenen europäischen Maßnahmen zu entwickeln. Die Emission spezifischer Eurobonds als Ergänzung zu den gigantischen Anstrengungen der Mitgliedstaaten zur Stärkung ihrer Gesundheitssysteme und ihrer Volkswirtschaften ist der intelligenteste und billigste Weg, um den Verlust von Menschenleben und von Millionen von Arbeitsplätzen zu verhindern. Es ist auch notwendig, den Stabilitäts- und Wachstumspakt anzupassen, damit die Mitgliedstaaten öffentliche Investitionen als Instrument zur Unterstützung des Wirtschaftswachstums nutzen können, wenn die Produktionslücke negativ ist. Wenn wir diesen Weg nicht früh genug gehen, wird die beispiellose Rezession der EU und die damit unausweichlich verbundenen sozialen Schwierigkeiten ein existenzielles Risiko für die EU darstellen.

Zweitens ist dies auch der Moment, um lang anhaltende interne Streitigkeiten beizulegen, die eigenen Ressourcen der EU zu erweitern und ihre Steuerkapazität zu erweitern: Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung, Besteuerung internationaler Finanztransaktionen und ein Stop von Importen aus Ländern, die nicht zur Bekämpfung des Klimawandels beitragen, wird von wesentlicher Bedeutung sein, um den ehrgeizigen mehrjährigen europäischen Finanzrahmen der EU bereitzustellen, den wir zur Bewältigung dieser Krise benötigen.

Drittens zeigt das Schweigen und die Quasi-Untätigkeit der EU während dieser ersten Reaktionswelle, dass der Umfang ihrer Koordinierung und ihrer Interventionen nicht den Herausforderungen unserer Zeit entsprechen. Wir sind die globalen Vorreiter in Forschung und Entwicklung und haben die effizientesten öffentlichen Gesundheitssysteme der Welt entwickelt. Dennoch erleben wir Engpässe und Brüche in den Lieferketten, die uns an die dunkelsten Stunden unserer Geschichte erinnern. Die Europäische Kommission muss die Tests für das neue Coronavirus validieren, die die Mitgliedstaaten verwenden können, die vielversprechendsten Behandlungsmöglichkeiten ermitteln und in die Entwicklung und Herstellung von Impfstoffen für alle Bürgerinnen und Bürger in Europa investieren. Die Neuorganisation unserer öffentlichen Gesundheitssysteme und die Behebung dieser Mängel erfordern eine tiefgreifende Neugestaltung unseres Binnenmarkts, die sich auf die Relokalisierung kritischer Sektoren und die verbesserte Integration von Produktions- und Lieferketten in wichtigen Bereichen wie Gesundheit und Ernährungssicherheit konzentriert.

Die Neuorganisation unserer öffentlichen Gesundheitssysteme und die Behebung der Mängel erfordern eine tiefgreifende Neugestaltung unseres Binnenmarkts.

Viertens muss die EU zu ihrer ursprünglichen Ambition zurückkehren, unsere Wirtschaft nicht nur integrierter, sondern auch integrativer und widerstandsfähiger zu machen. Arbeitsplätze müssen sofort gerettet werden und eine zerstörerische Abwärtsspirale von Angebot und Nachfrage muss gestoppt werden. Unternehmen, die von Behörden durch Kredite oder Aktienkäufe unterstützt werden, müssen sich daran erinnern, dass ihnen geholfen wurde, um Arbeitsplätze zu retten. Sie müssen diese Verantwortung teilen. Auf diese Weise werden sich viele transnationale sowie kleine und mittlere Unternehmen verändern, digitalisieren und dadurch weniger Kohlenstoff ausstoßen. Eine neue europäische Industrie-, Innovations- und Ausbildungspolitik sollte diesen Wandel aktiv unterstützen.

Fünftens ist mit dieser Gesundheitskrise der Europäische Grüne Deal nicht weniger dringend geworden, wie einige argumentieren. Ganz im Gegenteil: Der Verlust der Artenvielfalt und unsere abfallorientierten Produktions- und Konsummuster sind zum großen Teil für die Ausbreitung des Virus und unsere Unfähigkeit, richtig zu reagieren, verantwortlich. Die Covid19-Krise macht den Übergang unserer Volkswirtschaften und Gesellschaften zu einer nachhaltigeren Lebensweise dringender denn je.

Skeptiker könnten argumentieren, dass ein solch ehrgeiziger Plan eine Vertragsänderung erfordert und dass die EU inmitten einer globalen Krise keine Zeit für solche Diskussionen hat. Dies ist jedoch ein falsches Argument: Als die Banken nach der Krise von 2008 gerettet werden mussten, gelang es uns, durch reguläre EU-Entscheidungsprozesse schnelle Entscheidungen zu treffen, und diese Entscheidungen wurden nach dem Sturm in die Grundnormen der EU aufgenommen – ein Prozess, der später auch vom Europäischen Gerichtshof legitimiert wurde.

Die EU braucht jetzt mehr als politische Spaltungen und endlose Rechtsdiskussionen eine umfassende Mobilisierung ihrer Zivilgesellschaft. Der tiefgreifende Wiederaufbau unserer politischen Gemeinschaft, den diese Krise erfordert, benötigt eine breite öffentliche Debatte, an der Sozialpartner und Organisationen der Zivilgesellschaft, Wissenschaftler und Journalisten sowie alle aktiven Bürger sich beteiligen, die der Ansicht sind, dass die Rückkehr zum „Business as usual“ der schlimmste historische Fehler wäre.