Im 30. Jahr nach dem Dayton-Friedensabkommen und dem Völkermord von Srebrenica erlebt Bosnien und Herzegowina massive politische Spannungen und akute Sezessionsbestrebungen. Während das Land den EU-Beitritt anstrebt, gefährdet der nationalistische bosnisch-serbische Führer Milorad Dodik, Präsident der serbisch dominierten Entität Republika Srpska, diese europäische Perspektive. Stattdessen wendet er sich im Schatten Trumps der „Serbischen Welt“ seines Freundes Aleksandar Vučić sowie den autokratischen Regierungen in Ungarn und Russland zu.
Im Dezember 2022 erhielt Bosnien und Herzegowina den EU-Kandidatenstatus. Ein Jahr später kündigte die EU-Kommission Verhandlungen mit Bosnien und Herzegowina an – jedoch ohne festes Datum, da zentrale Reformen noch ausstanden. Milorad Dodik verfolgt in seiner EU-Politik die Strategie von Aleksandar Vučić: Offiziell unterstützt er den EU-Integrationsprozess, während er intern seine Macht in der Republika Srpska festigt und autokratische Strukturen ausbaut. Schritt für Schritt treibt er seine Sezessionspläne voran und schafft Fakten, die die Republika Srpska immer weiter von den Rechtsstaatlichkeitsnormen der EU entfernen. Dadurch wächst die Kluft zwischen den Reformanforderungen für einen EU-Beitritt und der politischen Realität in der Republika Srpska – ein Hindernis, das für den Gesamtstaat Bosnien und Herzegowina unüberbrückbar werden könnte.
Dodik stellt das Urteil als „Angriff auf die Republika Srpska und das gesamte serbische Volk“ dar.
Bosnien und Herzegowina drängt derzeit auf die Verabschiedung zentraler Gesetzesvorhaben im Ministerrat, um den EU-Beitritt weiter voranzutreiben. Doch mit den jüngsten Entscheidungen des Parlaments in Srpska wurde das Justizsystem auf Staatsebene faktisch außer Kraft gesetzt. Hintergrund ist die Verurteilung von Milorad Dodik zu einer einjährigen Gefängnisstrafe und einem sechsjährigen Verbot politischer Tätigkeit – wegen Verfassungsbruchs und Missachtung von Entscheidungen des Hohen Repräsentanten der UN, Christian Schmidt. Bereits vor der Urteilsverkündung drohte er lautstark, dass seine Verurteilung das Ende des Gesamtstaates bedeuten würde. Dodik stellt das Urteil als „Angriff auf die Republika Srpska und das gesamte serbische Volk“ dar und nutzt es gezielt für seine Sezessionspolitik. Unter dem Vorwand, den Dayton-Friedensvertrag zu verteidigen, treibt Dodik die Unabhängigkeit der Republika Srpska voran und erneuert seinen Vorschlag, diesen Teil mit Serbien zu vereinen. Seit 2006 bedroht die politische Führung des Landesteils den Gesamtstaat mit zunehmenden Eskalationsspiralen. Mit solchen „Angeboten“ schürt sie gezielt die Angst vor einer Wiederholung des Krieges – in einer Gesellschaft, die bis heute vom Trauma der Kriegsverbrechen vor 30 Jahren gezeichnet ist.
Nach der Urteilsverkündung verabschiedete das Parlament der Republika Srpska im Eilverfahren Gesetze, die wie aus einem autokratischen Handbuch nach russischem Vorbild wirken. Während Dodik der Staatsebene und internationalen Partnern vordergründig Dialogbereitschaft signalisierte, setzte er zutiefst antidemokratische Gesetze durch – ein massiver Angriff auf die verfassungsmäßige Ordnung. Die neuen Regelungen verbieten nationalen Institutionen, darunter dem Gericht, der Staatsanwaltschaft und der staatlichen Polizeiagentur SIPA, auf dem Gebiet der Republika Srpska zu arbeiten – ein klarer Verstoß gegen die Verfassung. Dodik forderte alle serbischen Staatsbediensteten auf, ihre Arbeit in diesen Institutionen niederzulegen, da ihnen nun Gefängnisstrafen von bis zu fünf Jahren drohen. Tausende Beamte stehen damit vor dem Verlust ihrer Existenzgrundlage. Es ist kaum vorstellbar, dass die Bürgerinnen und Bürger dies widerstandslos hinnehmen werden. Während Dodik politisch auf einen Abgrund zusteuert, beobachtet die internationale Gemeinschaft das Debakel weitgehend sprachlos. Während Bosnien und Herzegowina unter strenger EU-Beobachtung den Beitritt anstrebt, bewegt sich Dodik gezielt in die entgegengesetzte Richtung. Nach Erhalt des EU-Kandidatenstatus im Dezember 2022 führte er die Verleumdung als Straftat wieder ein. Während die Europäische Kommission auf Medienfreiheit als zentrales Aufnahmekriterium pocht, schweigt sie zu den massiven Angriffen auf Journalistinnen und Journalisten und Befürworterinnen und Befürwortern europäischer Werte in der Republika Srpska – und überlässt sie der Willkür eines autokratischen Regimes.
Seit Beginn des Ukrainekrieges rückte der westliche Balkan aus geopolitischen Gründen wieder stärker in den Fokus der EU. Um externe Einflüsse zu begrenzen, wollte Brüssel die Region enger an sich binden. Trotz unzureichender Reformfortschritte reduzierte die EU die Bedingungen für Bosnien und Herzegowina von 14 auf 8 Kriterien. Einige blieben dennoch unerfüllt – doch aus geopolitischem Kalkül wurden diese Defizite ignoriert. Nach der Verleihung des Kandidatenstatus gerieten die Reformprozesse ins Stocken. Milorad Dodik stilisierte sich als „Motor“ der europäischen Integration, traf jedoch wiederholt Wladimir Putin und warb für einen Beitritt Bosnien und Herzegowinas zu den BRICS-Staaten. Gleichzeitig setzte er rigoros Gesetze durch, die die Meinungs- und die Versammlungsfreiheit massiv einschränken. Seine Begründung: Er wolle die Finanzierung von Nichtregierungsorganisationen transparenter machen – insbesondere, wenn Gelder aus „faschistischen“ Quellen stammten. Gleichzeitig schwärmt er für die AfD, posiert mit ihren Vertretern und ruft – ähnlich wie Elon Musk – Serben in Deutschland dazu auf, für die einzige Partei zu stimmen, die „Deutschland verändern kann“.
Die Wiederwahl Donald Trumps und Elon Musks Maßnahmen in den USA, insbesondere die Abschaffung von USAID, haben Dodik starken Rückenwind gegeben. Seine Verurteilung fällt in ein politisches Vakuum: Der bisherige US-Botschafter – ein lautstarker Gegenspieler Dodiks – hat sein Mandat beendet. Dodik reagierte umgehend und ordnete Ermittlungen gegen alle Empfänger von USAID-Geldern an, insbesondere gegen den ‚Abschaum in den Medien und Nichtregierungsorganisationen‘, die mit amerikanischer Finanzierung angeblich gegen Serben gearbeitet hätten. Doch nun scheint Dodik sich verzockt zu haben. US-Außenminister Marco Rubio warf ihm am Wochenende vor, die Sicherheit Bosnien und Herzegowinas zu destabilisieren – und forderte auf „X“ sogar indirekt Aleksandar Vučić auf, dieses gefährliche Verhalten einzudämmen.
Ein weiterer Krisenherd im europäischen Raum wäre kaum verkraftbar. Europa muss endlich aufwachen und handeln.
Die Blockierung staatlicher Institutionen in der Republika Srpska und die Schaffung von ‚Feindeslisten‘ sind seit 15 Jahren zentrale Elemente von Dodiks autokratischer Strategie. Internationale Beobachter hielten seine Maßnahmen oft für leere Drohungen, während sie insgeheim darauf hofften, dass Serbiens Präsident Aleksandar Vučić die ‚Stabilität der Region garantieren‘ und Dodik unter Kontrolle halten würde. Doch Vučić betrieb seine gewohnte Schaukeldiplomatie: Einerseits betonte er die territoriale Integrität Bosnien und Herzegowinas, andererseits unterstützte er Dodiks Bestrebungen nach Unabhängigkeit und einer Vereinigung aller Serben in einer ‚Serbischen Welt‘. Das Ergebnis: Die Entstehung eines autokratischen Machtzentrums innerhalb eines EU-Beitrittskandidaten. Immer wieder wurde ein möglicher Anschluss der Republika Srpska an den ‚Vaterstaat‘ Serbien ins Spiel gebracht.
Dodik, der seit Jahren enge Beziehungen zu Viktor Orbán und der FPÖ pflegt, sieht im Sieg Trumps und im Rechtsruck Europas einen historischen Moment, um seine Pläne zu verwirklichen. Doch mit seinem ‚Schuss ins Leere‘ hat er Bosnien und Herzegowina und seine Institutionen bereits schwer beschädigt. Das Land steckt in einer tiefen politischen Krise, aus der es so schnell nicht herauskommen wird. Eine gewaltsame Eskalation ist zwar unwahrscheinlich, doch Europa muss endlich aufwachen und handeln. Ein weiterer Krisenherd im europäischen Raum wäre kaum verkraftbar. Die EU muss geschlossen auftreten – und sich auch gegenüber dem Autokraten im eigenen Schlafzimmer, Viktor Orbán, durchsetzen.
Es wirkt fast so, als wolle die EU Bosnien und Herzegowina dringender in ihren Klub aufnehmen, als es die politischen Führer des Landes selbst anstreben. Milorad Dodik, das ist klar, hat kein Interesse an einem EU-Beitritt – und nimmt das ganze Land in Geiselhaft. Dabei erhält er immer wieder Unterstützung von bosnisch-kroatischen Nationalisten. Die EU muss daher klar Stellung zu den Angriffen auf die Verfassungsordnung beziehen, die im Daytoner Friedensabkommen verankert ist. Bis heute ist Bosnien und Herzegowina kein souveräner Staat: Die internationale Gemeinschaft bleibt durch den Hohen Repräsentanten als Machtfaktor präsent – und trägt damit eine besondere Verantwortung. Doch anstatt klare Konsequenzen zu ziehen, reagierte man bisher auf Dodiks Drohungen nur mit Konzessionen. Eine Zeitenwende im Umgang mit Autokraten sieht anders aus. Für eine Aufnahme in die EU gelten klare Regeln. Doch durch jahrelange Verhandlungen mit korrupten politischen Strukturen hat die EU zu lange über Menschenrechtsverletzungen und Einschränkungen der Medien- und Meinungsfreiheit hinweggesehen. Europa muss endlich konsequent auf seine eigenen Werte und Normen bestehen – und ein verlässlicher Partner für progressive Kräfte sowie die Bevölkerung in Bosnien und Herzegowina sein.