Nachdem die europäische Erweiterungspolitik lange eingeschlafen war, verspricht die Wahl der neuen Kommission nun einen Hoffnungsschimmer für eine Vergrößerung der EU in den nächsten Jahren. Das bereits im Sommer gewählte Europäische Parlament und die neue Kommission haben jetzt die Chance, die Erweiterung der EU aktiv voranzutreiben und die (insbesondere vom Europäischen Rat begangenen) Fehler der Vergangenheit wiedergutzumachen.

Es liegt auf der Hand, dass die Aufnahme weiterer Staaten in Osteuropa und auf dem Balkan im Interesse der Union liegt und beide Seiten daraus Vorteile ziehen könnten. Sicherheitspolitisch, ökonomisch und auch geopolitisch spricht vieles für eine baldige Vergrößerung der EU. Die ehemaligen Staaten Jugoslawiens und Albanien sind quasi von der EU umzingelt, drei davon bereits Mitglieder der NATO. Die Ukraine und Moldau grenzen an Mitgliedstaaten der Union und haben sich mehrheitlich für einen Beitritt entschieden. Die Erweiterungsgespräche und die damit einhergehende Anpassung an das europäische Rechtssystem sorgen auch für einen gesellschaftlichen und politischen Wandel in den Kandidatenländern und damit für die Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Europa. Damit das europäische Integrationsprojekt nicht scheitert, muss die Erweiterungspolitik wiederbelebt und zu einer echten Priorität gemacht werden.

Mit der Wahl der Slowenin Marta Kos zur Erweiterungskommissarin setzt die Kommission jedenfalls das richtige Zeichen für mehr Glaubwürdigkeit und mehr politische Verantwortung. Sie gilt als zielstrebig und durchsetzungsstark und genießt Unterstützung sowohl aus dem liberalen als auch konservativen und sozialdemokratischen Lager. Dies steht in keinem Vergleich zu ihrem Vorgänger Olivér Várhelyi, der durch die Bevorzugung Serbiens und seiner Nähe zum ungarischen Ministerpräsidenten Victor Orbán das Vertrauen des Europäischen Parlaments und vieler Mitgliedstaaten rasch verspielt hatte.

Kos’ Generaldirektion soll sich künftig hauptsächlich um die zehn Kandidatenländer kümmern und nicht mehr wie zuvor zusätzlich auch noch um die europäische Nachbarschaftspolitik. Damit herrscht mehr Klarheit in der Aufgabenverteilung innerhalb der Kommission, und die Erweiterungspolitik bekommt ihre zentrale Rolle zurück. Wenn nun auch noch die notwendigen finanziellen Mittel im nächsten mehrjährigen Finanzrahmen der EU (2028–2034) für Erweiterungen bereitgestellt werden, ist eine solche Fokussierung sicherlich zu begrüßen. Der sechs Milliarden Euro schwere „Wachstumsplan“ für den Westbalkan und die vorgesehenen 50 Milliarden Euro für die „Ukraine-Fazilität“ zur Unterstützung der Beitrittskandidaten auf dem langen Weg in die EU sollten erst ein Anfang sein und bedürfen weiterer finanzieller Hilfen.

Im Gegensatz zum Europaparlament zeigte man sich in den Hauptstädten der EU in der letzten Dekade eher erweiterungsmüde.

Hierbei sind die EU-Mitgliedstaaten gefragt, welche darüber mitentscheiden, wie sehr die Kommission am Ende den Beitrittskandidaten unter die Arme greifen kann. Im Gegensatz zum Europaparlament hat man sich in den Hauptstädten der EU in der letzten Dekade eher erweiterungsmüde und teilweise auch erweiterungsskeptisch gezeigt. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte bei der Amtsübernahme 2014 gar verkündet, „bei der Erweiterung eine Pause einlegen“ zu wollen.

Der französische Präsident Emmanuel Macron setzte sich bislang lieber für eine Vertiefung als für eine Erweiterung der Union ein und blockierte Kandidatenländer. 2019 machte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dann den Bock zum Gärtner, indem sie Ungarn mit dem Erweiterungsportfolio betraute und die Unterstützung für Demokratie und rechtsstaatliche Entwicklung in der europäischen Nachbarschaft ausgerechnet in die Hände derjenigen Regierung legte, gegen die bereits zahlreiche Verfahren wegen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit liefen.

Auch wenn die Erweiterung der EU eine der „obersten Prioritäten der neuen Kommission“ bleiben soll, wie es deren Präsidentin von der Leyen bei der kürzlich erfolgten Vorstellung der Berichte zu den Kandidatenländern ausgedrückt hat, so ist es für die meisten Kandidaten noch ein sehr langer Weg nach Brüssel. Die früher „Fortschrittsberichte“ genannten Analysen der Kommission dokumentieren zum einen zwar die Verbesserungen und Reformbemühungen der Kandidaten, zeigen zum anderen aber vor allem die großen Defizite und teilweisen Rückschritte der Erweiterungskandidaten hinsichtlich ihrer demokratischen, rechtsstaatlichen und wirtschaftlichen Entwicklung auf.

Die Kopenhagener Kriterien, welche eine funktionierende demokratische Ordnung und Marktwirtschaft sowie die Übernahme aller europarechtlichen Verpflichtungen erfordern, stellen dabei seit mehr als 30 Jahren die Messlatte dar. Allerdings sind die derzeit zehn Beitrittskandidaten (unterschiedlich) weit davon entfernt, diese Kriterien zu erfüllen. Die europäischen Werte wie insbesondere Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte sind in einigen EU-Mitgliedstaaten defizitär. So lassen beispielsweise die Korruptionsbekämpfung wie auch die Unabhängigkeit der Justiz in einigen Ländern zu wünschen übrig.   

Gerade weil es aber auch in Mitgliedstaaten der EU zu einem Abbau rechtsstaatlicher Standards und demokratischer Gepflogenheiten gekommen ist, wurde die Messlatte für neue Mitglieder immer höher gelegt und die Kopenhagener Kriterien werden heutzutage schärfer ausgelegt als bei früheren Erweiterungsrunden. So ist es kein Wunder, dass die letzte große Erweiterungsrunde vor 20 Jahren stattgefunden hat und nach Kroatien, im Jahr 2013, kein weiteres Land mehr der EU beigetreten ist.

In Brüssel und den EU-Hauptstädten ist man sich der dringlichen und gefährlichen Lage durchaus bewusst.

Unerfreulicherweise hat erst der russische Überfall auf die Ukraine 2022 dafür gesorgt, dass auch in die europäische Erweiterungspolitik neuer Schwung eingekehrt ist. Nachdem die Ukraine, Moldau und Georgien Beitrittsanträge gestellt hatten, ging es auch für die Balkanstaaten vorwärts und die EU führt nun de facto Beitrittsgespräche mit sechs Ländern. Auch wenn sich diese Verhandlungen erfahrungsgemäß noch lange hinziehen werden und die Gefahr weiterer Blockaden durch einzelne EU-Mitgliedstaaten bestehen bleibt, hat sich seit dem russischen Angriffskrieg die geopolitische Seite der EU deutlich verstärkt. In Brüssel und den EU-Hauptstädten ist man sich der dringlichen und gefährlichen Lage durchaus bewusst und die „Geostrategen“ ringen mit den „Reformern“ darüber, wie man die EU gleichzeitig erweitern und reformieren sowie vertiefen kann. Dass beides Hand in Hand gehen muss, ist das Gebot der Stunde.

Um in der Lage zu sein, neue Staaten aufzunehmen, sollten die EU-Entscheidungsprozesse reformiert und die Einstimmigkeit im Rat in möglichst vielen Feldern sukzessive in Mehrheitsentscheidungen überführt werden. Dies wird vor allem für den Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, unter anderem von Deutschland und Slowenien, gefordert. Auch die Anzahl der Kommissionsmitglieder und ihre Zuständigkeiten sowie weitere Kompetenzen wie Energieversorgung und Gesundheitsfürsorge der EU gehören auf den Prüfstand.

Gleichzeitig sollten neue Wege der EU-Integration beschritten werden und eine allmähliche Integration in verschiedene europäische Programme und vor allem den Binnenmarkt sollte bereits vor einer Vollmitgliedschaft möglich gemacht werden. Die zahlreichen Ideen einer stufenweisen Integration müssen nun von der EU mit Leben gefüllt und konsequent umgesetzt werden. Auch wenn das Ziel einer vollständigen EU-Mitgliedschaft mit allen Rechten und Pflichten nicht aus dem Auge verloren werden darf, bietet ein phasenweiser Beitritt etwa in den Eurozahlungsraum SEPA oder die Abschaffung der Roaming-Gebühren die Chance auf eine schnellere Annäherung an EU-Standards und mehr Finanzbeihilfen, freilich ohne dabei Abstriche bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu machen.

Eine zügigere Öffnung von Verhandlungskapiteln wäre ebenfalls angebracht, wobei bilaterale Konflikte zwischen alten und künftigen Mitgliedstaaten Fortschritte auf dem Weg in die EU nicht immer wieder behindern dürfen und vom Europäischen Rat abgeräumt werden sollten. Eine solche Instrumentalisierung der europäischen Erweiterungspolitik muss ein Ende finden, am besten durch die Abschaffung der nationalen Vetos in den einzelnen Verhandlungsphasen. Einstimmigkeit im Rat sollte nur zur Eröffnung und zum Abschluss der Beitrittsgespräche beibehalten werden.

Derzeit sind insbesondere Montenegro und Albanien auf einem guten Kurs.

Gleichzeitig gilt es auch, bilaterale Konflikte zwischen den Kandidatenländern endlich einer Lösung zuzuführen und das Verhältnis zwischen Serbien und Kosovo zu normalisieren. Ohne ein stärkeres Engagement der EU-Mitgliedstaaten wird dies nicht gelingen, vor allem dann nicht, sollte die neue Trump-Administration in den USA erneut versuchen, Öl ins Feuer zu gießen, und die Pläne für einen Gebietstausch zwischen Belgrad und Pristina wieder aus der Schublade holen.

Derzeit sind insbesondere Montenegro und Albanien auf einem guten Kurs und die europäischen Sozialdemokraten sehen Chancen auf einen Beitritt der beiden Länder in den nächsten Jahren. Die Aufnahme von Ländern des westlichen Balkans würde endlich das mehr als 20 Jahre alte „Versprechen des Europäischen Rats von Thessaloniki“, demgemäß die Zukunft des Balkans in der EU liege, erfüllen und darüber hinaus ein wichtiges Signal senden, dass eine Erweiterung der EU weiterhin möglich ist. Die progressiven Kräfte im Europäischen Parlament und in der Kommission sind daher aufgerufen, die Erweiterungspolitik auf der Tagesordnung zu halten und sich trotz eines Rechtsrutschs in den Institutionen nicht davon abbringen zu lassen, für eine Vertiefung und eine Vergrößerung der EU zu kämpfen.

Am Ende kommt es allerdings auf die Regierungen und politischen Eliten sowohl in den EU-Mitgliedstaaten als auch in den Kandidatenländern an. Nur wenn beide Seiten ernsthafte Reformen anstreben und auch tatsächlich umsetzen, wird sich die EU in den kommenden Jahren vertiefen und erweitern können. Es ist an der Zeit, den Dämmerschlaf abzuschütteln und die notwendigen Reformen endlich anzupacken.