Auch das geistliche Pfingstfest brachte keine neuen Erkenntnisse über Wege aus der Bedrängnis der europäischen Demokratien. Die dem Fest angemessene Botschaft des amerikanischen Präsidenten Barack Obama an seinen Landsmann Donald Trump – „Ignoranz ist keine Tugend“ – bleibt unverändert aktuell. In den Vereinigten Staaten lud die New York Times am 12. Mai zur Debatte ein über eine pikante Frage: „Is Tyranny Around the Corner?“. Brisant ist das nicht nur für Amerika. Ignoranz, Vorurteile und Aberglaube prägen die politischen Auseinandersetzungen in den meisten klassischen Demokratien. Der aktuellste Fall: die Republik Österreich, das Land, von dem einer seiner Dichter, Friedrich Hebbel, einst sagte, es sei „eine kleine Welt, in der die große ihre Probe hält.“

Am 22. Mai, also am kommenden Sonntag, findet eine solche Probe statt: der zweite Durchgang der Wahl des Bundespräsidenten. Es ist die Stichwahl zwischen dem Sieger der ersten Runde, Norbert Hofer (35,1 Prozent), Vertreter der nationalpopulistischen FPÖ, und dem mit deutlichem Abstand Zweitplatzierten, Alexander van der Bellen (21,3 Prozent). Letzterer war Vorsitzender der Grünen von 1997 bis 2008 und ging formal als unabhängiger Bewerber ins Rennen. Was dabei viele beeindruckte, war nicht zuletzt der Rest des Zieleinlaufs. Auf Platz drei landete, mit 18,9 Prozent nur relativ knapp geschlagen, eine ebenfalls ohne Parteiunterstützung ins Rennen gegangene konservative Juristin. Die Kandidaten der beiden traditionellen Volksparteien, Sozialdemokraten (SPÖ) und Christdemokraten (ÖVP), erhielten jeweils nur elf Prozent der Stimmen. Ein Debakel. Für die beiden prominenten Berufspolitiker bedeutete es eine persönliche Enttäuschung, für ihre Parteien ist aber eine politische Katastrophe

 

Der 1. Mai  geriet im „roten Wien“ zum Scherbengericht für Werner Faymann.

Es ist eine Katastrophe vor allem für die Sozialdemokratie: Der 1. Mai, im „roten Wien“ traditionell ein Parteifesttag mit Aufmarsch vor dem Rathaus, trotzigen Aufbruchsparolen und demonstrativer Fröhlichkeit, geriet zum Scherbengericht für den SPÖ-Vorsitzenden und Bundeskanzler Werner Faymann. Kommen in Deutschland die „Merkel muss weg“-Sprechchöre vor allem von Pegida- und AfD-Aktivisten, waren es hier die eigenen Genossen von der Basis, die offen und unüberhörbar Faymanns Abgang forderten. Innerhalb von 48 Stunden zog er daraus die Konsequenzen.

Vor allem die Anpassung der Faymann-SPÖ an die flüchtlingspolitische Abwehrhaltung der rechtsnationalen FPÖ des seinerzeitigen Chefdemagogen Jörg Haider, heute angeführt vom rechtspopulistischen Strahlemann Heinz-Christian Strache, war dem Kanzler zum Verhängnis geworden. Nicht, dass die traditionelle Wählerschaft der Sozialdemokratie zum Kern der freiwilligen „Refugees welcome“-Bewegung gehörten. Aber die neuen Mitglieder und Sympathisanten aus den städtischen Milieus sind offener und flexibler als die Dauerfunktionäre, die in der alten Partei immer noch das Sagen haben, die politische Risiken vermeiden, sich in gewohnten Machtstrukturen einigeln und dem Kampf um die soziale und kulturelle Hegemonie in der Gesellschaft aus dem Weg gehen. Politische Attraktivität entsteht so nicht. Das spiegelt sich wieder in den knapp 23 Prozent, die auf die beiden Vertreter der einstigen Großparteien entfielen.

 

Statt Aktivismus und Trotz-Optimismus verbreitet sich merklich eine Melange aus Erschöpfung, Frust und Fatalismus.

Ist da noch was zu retten? Die „Probe“, die für die Österreicher der Ernstfall ist, geht weiter. Am 22. Mai 2016 wird neu gezählt. Es ist noch nicht vorbei, aber je mehr man sich im Land umhört, desto weniger Hoffnung bleibt. Statt Aktivismus und Trotz-Optimismus verbreitet sich merklich eine Melange aus Erschöpfung, Frust und Fatalismus. Die Aktivisten früherer politischer Kämpfe machen neue Erfahrungen. Ein Freund, der Unterschriften und Zustimmungserklärungen für Alexander van der Bellen sammelt, am Telefon und im Netz, sagt resigniert: „Es gibt zu viele, die jetzt in Deckung gehen.“ Mit Name und womöglich Foto gegen die Wende hin zur FPÖ-Kultur aufzutreten, das sei ihnen offenbar zu riskant. Wird da Michel Houellebecqs „Unterwerfung“ vorweg genommen, nur mit der entgegengesetzten Pointe? Ein Modell für das, was Frankreich mit dem anscheinend unaufhaltsamen Aufstieg der Marine Le Pen bevorstehen könnte? Kein Wunder, dass Frankreich die österreichische „Probe“ genau beobachtet. Aber natürlich gibt es auch andere Paten für den österreichischen Weg nach rechts draußen: Ungarn mit Viktor Orbán und Polen mit Jarosław Kaczyński. Erst eine Mehrheit holen, dann die Kultur säubern, die Medien einschüchtern, das Verfassungsgericht an die Kandare nehmen und politische Hegemonie herstellen. Die Mehrheit der Nichtwähler wird sagen: Das haben wir so nicht gewollt.

 

Der coole Hofer, ein aggressiver Talkshow-Grinser vom Typ Frauke Petry, ist nur der Vorläufer.

Der coole Hofer, ein aggressiver Talkshow-Grinser vom Typ Frauke Petry, ist nur der Vorläufer. Der Mann war lange Zeit ein Nobody, ein Berufspolitiker auf schmaler Spur, der von sich nun behauptet, in der Wirtschaft Erfahrung gesammelt zu haben. Seine strategische Aufgabe: Er soll für Strache den Weg zur Machtübernahme der FPÖ ebnen. Als Wahlsieger und Präsident für die rechte Stimmung sorgen. Im Zusammenspiel mit der FPÖ im Parlament vorzeitige Neuwahlen herbeiführen. Die brächten voraussichtlich einen klaren „Führungsauftrag“ für Strache und die FPÖ. Man darf davon ausgehen, dass die ÖVP nicht zögern würde, mit Strache in die Regierung zu gehen – nach der Parole, sie müsse „Schlimmeres verhindern“. Ein Teil der Republik wäre ihr vermutlich dankbar und obendrein bereit, in dem jungen, wenn auch nicht mehr unschuldigen Außenminister so etwas wie einen Hoffnungsträger zu sehen. Alles ist möglich.

 

Eine Alternative zur befürchteten „blauen Welle“ mit Hofer als Präsident und Strache als Kanzler wäre das grün-rote Gespann „van der Bellen/Kern“.

Alles? Auch etwas ganz anderes? Faymann – viel zu spät – ist immerhin vom Platz verschwunden. Das schuf die Option eines Neuanfangs, eines konstruktiven Wegs aus der Krise. Sie könnte in Christian Kern liegen. Der 50-jährige sozialdemokratische Manager, bis eben noch Vorstandsvorsitzender der Österreichischen Bahn AG, hat ein politisches Vorleben als Sozialdemokrat, genießt Sympathien auf der Linken und hat die Unterstützung der Wirtschaft. Als „rechter Linker“, der eine österreichische Version der Schröder-Agenda versucht, wird er sich voraussichtlich präsentieren. Aber mit dem würdelosen Geschmuse mit dem rechtspopulistischen Boulevard-Journalismus dürfte es bald vorbei sein. Florian Klenk, der Chefredakteur des Wiener Stadtmagazins Falter, öffnete jedenfalls ein Fenster, hinter dem er eine Chance vermutet: Eine Alternative zur befürchteten „blauen Welle“ mit Hofer als Präsident und Strache als Kanzler: das grün-rote Gegengespann „van der Bellen/Kern“. Das wäre immerhin der große Unterschied, den viele in der Politik vermissen. Doch dazu bräuchte es am 22. Mai schon ein kleines Wunder. Es würde sich lohnen. Die Welt sieht zu.