Seit 2006 wird Kanada von der Konservativen Partei unter Premierminister Stephen Harper regiert – zunächst durch Minderheitsregierungen und seit 2011 mit einer absoluten Mehrheit. Glaubt man den Meinungsforschern, wünschen sich die meisten Kanadier einen neuen Premierminister. Als Alternative stehen die sozialdemokratische New Democratic Party (NDP) mit ihrem Spitzenkandidaten Thomas (Tom) Mulcair und die Liberale Partei unter Justin Trudeau bereit. Kleinere Parteien werden keinen Einfluss auf das Wahlergebnis nehmen.

Stephen Harper hat versucht, in seinen Jahren als Premierminister das Image eines verlässlichen Wirtschaftsführers aufzubauen, der erfolgreich internationale Freihandelsabkommen verhandelt und das Land sicher durch Wirtschaftskrisen lenkt. Justin Trudeau ist seit 2013 Parteivorsitzender und Spitzenkandidat der Liberalen Partei, zudem ist er der Sohn des langjährigen Premierministers Pierre Trudeau (1968–1979 sowie 1980–1984). Wurde ihm anfangs oft vorgeworfen substanzlos und zu wenig staatsmännisch zu sein, gelang es ihm im Wahlkampf, sich als seriöser und kämpferischer Politiker zu präsentieren.

Auch Tom Mulcair von der NDP tritt zum ersten Mal als Parteiführer an. Nach dem historisch besten Ergebnis der NDP bei den letzten Parlamentswahlen 2011 starb der damalige Parteivorsitzende Jack Layton. Als sein Nachfolger steht Mulcair für eine Öffnung der NDP zur Mitte hin, als Frankokanadier repräsentiert er ebenfalls die Stärke der NDP in der Provinz Quebec.

In der ersten Phase des Wahlkampfes war das wichtigste Wahlkampfthema der Opposition die Ablösung Harpers. Deutlich zeigt sich dies in den Wahlkampfslogans „Ready for change“ der NDP sowie der Liberalen „It’s time for real change“. Stephen Harper ist in der Tat angeschlagen. Die niedrigen internationalen Ölpreise machen Kanadas Wirtschaft zu schaffen. Sie kratzen an Harpers Image als Garant einer starken Wirtschaft. Auch die Spendenaffäre um den ehemaligen Senator Mike Duffy, in die Harpers ehemaliger Stabschef verwickelt war, ist am Premierminister nicht spurlos vorübergegangen.

Eine wichtige Zielgruppe im Wahlkampf ist die Familie: So verspricht die NDP bezahlbare Kindergartenplätze und bundesweit einheitliche Medikamentenpreise – im Unterschied zu dem von den Konservativen proklamierten Ehegattensplitting.

Lange Zeit lagen alle drei Parteien mit jeweils ca. 30 Prozent der Stimmen nahezu gleichauf. Erst als sich vor drei Wochen die Werte der NDP verschlechterten, setzten die kanadischen Sozialdemokraten wieder verstärkt auf Inhalte. Das Trans-Pazifik-Partnership-Freihandelsabkommen (TPP), das Stephen Harper trotz Wahlkampfes vorangetrieben hat und das am 5. Oktober unterzeichnet wurde, entpuppt sich nun kurz vor der Wahl als eines der zentralen Themen für NDP und Konservative. Harper verkauft TPP als wirtschaftspolitischen Erfolg. Die NDP grenzt sich dagegen vor allem in der TPP-skeptischen Provinz Quebec deutlich vom Abkommen ab, um Stimmen zurückzugewinnen.

Laut Umfragen vom 4. Oktober liegen die Liberalen derzeit mit 32,4 Prozent knapp vorne, gefolgt von den Konservativen mit 31,6 Prozent und den Sozialdemokraten mit 25,3 Prozent. Diese Zahlen sind jedoch nur bedingt aussagekräftig, da Kanada ein absolutes Mehrheitswahlrecht hat. Abgeordnete können nur direkt über ihren Wahlkreis gewählt werden. Prognosen über die Sitzverteilung sehen die Konservativen mit 122 Sitzen an der Spitze, gefolgt von den Liberalen mit 118 Sitzen und der NDP mit 96 Sitzen – für eine absolute Mehrheit werden 170 Sitze benötigt.

Derzeit ist die Wahrscheinlichkeit einer konservativen Mehrheitsregierung gering. Während für die Konservativen vor allem die Provinz Alberta eine sichere Bank ist, wird die große Herausforderung für die NDP darin bestehen, die 2011 gewonnenen Wahlkreise in der Provinz Quebec zu verteidigen, denn die schlechter werdenden Umfragewerte sind vor allem auf Verluste in Quebec zurückzuführen. In Ontario scheinen die Liberalen eine neue Stärke zu entwickeln und wichtige Wahlkreise für sich zu gewinnen. Aktuelle Umfragen deuten darauf hin, dass die Partei hier 40 Sitze mehr als in der letzten Wahl gewinnen könnte. Die beiden Provinzen haben aufgrund der großen Bevölkerungszahl zentrale Bedeutung.

Aktuelle Berechnungen zeigen, dass nach der Wahl mit einer 65-prozentigen Wahrscheinlichkeit eine konservative Minderheitsregierung gebildet werden wird. Dies ist das Ergebnis des absoluten Mehrheitswahlrechts, welches (bisher) keine Koalitionsbildung kennt und somit nicht für drei und mehr Parteien geschaffen ist. Da sich NDP und Liberale gegenseitig die Stimmen links von der Mitte wegnehmen steht zu befürchten, dass knappe 30 Prozent Unterstützung in der Bevölkerung ausreichen werden, um aus dem alten auch den neuen Premierminister zu machen – wenn auch nur in einer Minderheitsregierung.

Spätestens im Frühjahr 2016 könnten deshalb der konservativen Partei bei der jährlichen Haushaltverabschiedung im Parlament die Stimmen fehlen. Es wird sich dann die Frage stellen, ob Liberale und NDP die Situation für die Bildung einer eigenen Koalition nutzen wollen, oder ob Neuwahlen ausgerufen werden.