Stellen Sie sich doch einmal vor, sie hätten den US-Wahlkampf nur durch die deutschen Medien verfolgt. Ihr Bild von Trump? Klar, der wütende weiße Mann mit hochrotem Kopf, der brüllend, Spucke versprühend und Zähne fletschend wahlweise Frauen, Schwarze, Einwanderer, Muslime, Mexikaner und andere mehr beschimpft. Beim ersten TV-Duell zwischen Hillary Clinton und Donald Trump am gestrigen Abend war davon erstaunlich wenig zu sehen. Aber das Bild wollten viele Kommentatoren so schnell wohl nicht aufgeben.

Die deutschen Medien haben ziemlich flächendeckend einen atemlosen, fahrigen, rüpelhaften Trump gesehen, der gegen Clinton eine verheerende Niederlage eingefahren habe. Darin unterscheidet sich die deutsche 4. Gewalt offenbar nur unwesentlich von den amerikanischen Medien, die ebenfalls eine vermeintliche Demontage Trumps bejubeln. Aber warum nur? Eine solche Siegesgewissheit des Anti-Trump-Lagers kann eigentlich nur auf drei Irrtümern beruhen:

Irrtum 1: Trump hat sich im TV-Duell „entlarvt“.

Keineswegs: Wer noch vor dem Duell sicher war, dass Trump am Ende Opfer seiner Unbeherrschtheit werden würde, muss nun vielmehr feststellen, dass es offenbar „nur“ ein neues, hochprofessionell arbeitendes Wahlkampfteam braucht, um den rassistischen Choleriker Trump in kürzester Zeit in einen „Beinahe-Staatsmann“ zu verwandeln. Zwar fiel Trump Clinton 27mal ins Wort, das entspricht einem Einwurf alle drei Minuten oder durchschnittlich in jeder zweiten Redezeit Clintons. Aber Trump war sichtlich bemüht, die Hände am Pult und den Ton moderat zu halten. Dass ihm das nicht leicht fiel, war zu sehen – er hat allerdings bewiesen, dass er es kann. Nur noch ein bisschen mehr Training, ein bisschen Routine im neuen Selbst, und fertig ist der „Beinahe-Staatsmann“ Trump? Völlig auszuschließen ist das nach diesem Duell nicht mehr. 

Irrtum 2: Hillary siegt nach Punkten.

Natürlich kann keiner ernsthaft bestreiten, dass Clinton besser vorbereitet war, präziser auf die Fragen geantwortet hat, mehr Inhalt anzubieten hatte und weniger Unwahrheiten verbreitet hat. Allerdings waren ihre Ausführungen eher etwas für das wohlinformierte Publikum. Daraus einen klaren Sieg nach Punkten für Clinton oder gar ein K.O. für Trump abzuleiten, ist reichlich leichtfertig. Glauben wir wirklich, dass die Mehrzahl von Trumps Anhängern beeindruckt von Clintons Ausführungen ist? So beeindruckt, dass sie gegen Trumps einfache Botschaften immun würden? Trump hatte in der Tat wenig anzubieten, von Sinnhaftigkeit und Machbarkeit einmal ganz zu schweigen. Aber wer will schon von Anstrengungen und Kosten hören, wenn ihm doch Steuersenkungen, Jobs und die Rückkehr der guten alten Zeit versprochen wird?

Irrtum 3: Umfragen bestätigen Clintons Sieg.

Leider nein. Jeder zitiert die Umfrage, die ihm gefällt. Und so ist die Wahrheit unglücklicherweise, dass nicht nur die Aussagekraft von Blitzumfragen nach TV-Duellen umstritten ist, sondern dummerweise heute gleich mehrere Umfragen Trump zum Gewinner küren, wie beispielsweise im Time Magazine, bei The Hill,  bei CNBC und im Slate Magazine. Direkt nach dem Duell vermuteten US-Kommentatoren, dass Trump wohl keine Wähler aus dem Clinton-Lager gewinnen konnte, sein eigenes Lager aber mit Sicherheit verteidigt habe. Dem noch relativ großen Lager der Unentschiedenen hingegen mag „The Donald“ seit gestern wählbarer erscheinen, zumindest hat er gezeigt, dass er mehr kann als geifern und schreien. Für Clinton hingegen gilt: Pflicht erfüllt, die Kür…nun ja. Sie hat exakt die hochprofessionelle Performance gezeigt, die von ihr erwartet wurde, perfektionistisch und mit wohlkalkuliert eingebauter „Menschkeit“, aber ohne Leidenschaft und Charisma. Nicht verloren, aber auch (noch) nichts gewonnen.

Der Berichterstattung ist anzumerken, wie sehr ein Befreiungsschlag Clintons nach den erschreckenden Umfragewerten der vergangenen Wochen herbeigesehnt wurde. Wer kann es den Journalisten verdenken! Aber es bleibt ein herbeigeschriebener Sieg. Vorteil Clinton, das schon. Aber Trump hat gestern einen ziemlich entscheidenden Punkt gemacht: Er hat nicht gebrüllt.