Wenn man die Bemerkungen des französischen Ministerpräsidenten Manuel Valls kurz vor dem EU-Gipfel Mitte Februar 2016 aufmerksam studiert, ist der fast offene Bruch der deutsch-französischen Beziehungen kaum noch zu ignorieren. Daher ist es an der Zeit, sich den deutsch-französischen Beziehungen und mithin einigen französischen Büchern zuzuwenden, die vielleicht eine Erklärung dafür bereithalten.

Da ist zunächst das Aufkommen des Front National (FN), der zu einer ernsthaften Bedrohung des französischen Parteiensystems geworden ist. Pascal Perrineau erklärt in La France au Front, warum der FN unter anderem vor allem bei Jugendlichen zwischen 2012 und 2015 rund 15 Prozentpunkte hinzugewinnen konnte und warum immer mehr Frauen den FN wählen. Der Aufstieg des FN ist im Zusammenhang mit der Euro-Krise zu sehen, die zu enormen sozialen Verwerfungen in Frankreich geführt hat. Diese, so argumentiert Jean-Luc Micheá in seinem brillanten Buch „Das Reich des kleineren Übels“, sei auch in einem falsch verstandenen Liberalismus zu suchen. Er meint damit eine Politik, die immer mehr Menschen in Konkurrenz zueinander setze. Ferner leide Frankreich an einem Verlust der „Republik“ als gesellschaftlicher Organisationsform und einem Bewusstsein für das Öffentliche schlechthin. Dass den westlichen Demokratien, in denen sich (fast) alles nur noch um Geld drehe, wesentliche anthropologische Begriffe wie Ehre, Scham und Stolz abhandengekommen seien sowie ein grundsätzliches Verständnis von Anstand und gesundem Menschenverstand, sei das Grundübel eines heute pervertieren Liberalismus-Verständnisses.

Diese Perversion, so der französische Philosoph Etienne Balibar, beruhe maßgeblich auf der Tatsache, dass man das Mantra der Französischen Revolution, den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ nicht mehr beachtet habe: wahre Freiheit sei ohne Gleichheit nicht denkbar. Beide Begriffe gehörten inhärent zusammen. Dies drückt Balibar durch die Zusammenziehung beider Wörter aus: Gleichfreiheit.

Wer nachvollziehen will, wie ähnliche Debatten über das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit schon in der frühen Neuzeit stattgefunden haben, der sei auf den Sammelband von Olaf Asbach verwiesen. Darin belegt der Politikwissenschaftler anhand von Interpretationen von Texten von Johann Gottlieb Fichte, Immanuel Kant, Jean-Jacques Rousseau oder Adam Smith historisch überzeugend, dass der freie Handel – le doux commerce – nicht selten in die Unfreiheit und Ungleichheit geführt hat. Diese Texte und ihre historische Kontextualisierung sind eine erfrischende Lektüre, um heutige Debatten etwa über das Freihandelsabkommen TTIP noch einmal ganz neu zu beleuchten und damit auch die Frage zu stellen, welchen gesellschaftlichen Preis der Freihandel hat.

Alle Bücher und ihr „intellektuelles Rumoren“ zusammengenommen, ist man dann am Schluss nicht mehr überrascht, dass es große Sollbruchstellen zwischen Deutschland und Frankreich gibt, wie Wirtschaftsordnungen beschaffen sein sollten, welche soziale Kontrolle wir für die Märkte bräuchten, wie Deutschland und Frankreich unterschiedlich mit dieser Frage umgehen – und warum das zunehmend zur Belastung der deutsch-französischen Beziehungen, wie Wolf Lepenies es beschreibt, und damit zu einer Gefahr für Europa wird.