Interview von Claudia Detsch
Seit Wochen kommt es in Chile zu heftigen Protesten gegen die liberale Sozial- und Wirtschaftspolitik. Es gibt zahlreiche Berichte über schwere Menschenrechtsverletzungen; so haben Hunderte Demonstranten Augenverletzungen davongetragen. Wie ist die Situation aktuell?
Die Lage ist tatsächlich sehr schwierig und mittlerweile hat Amnesty International die Menschenrechtsverletzungen bestätigt. Allerdings haben sowohl die Regierung als auch die Streitkräfte diese Information zurückgewisen. Die internationale Gemeinschaft sollte diese Entwicklung mit Besorgnis betrachten und Druck auf die Regierung ausüben.
Die Regierung hat offenbar darauf gesetzt, dass sich die Proteste durch einige Reformversprechen eindämmen ließen, aber das ist bislang nicht der Fall. Welche Erklärung gibt es für den hartnäckigen Unmut in weiten Teilen der Bevölkerung?
Die Regierung hat von Anfang an die Problematik nicht verstanden. Die erste Reaktion des Präsidenten war: Wir sind im Krieg. Das hat dazu beigetragen, dass die Demos noch größer und radikaler geworden sind. Dann ruderte die Regierung ein bisschen zurück und stellte Reformen im Bereich der Sozialpolitik in Aussicht. Doch dafür ist die Lage einfach zu dramatisch.
Wie könnte eine politische Lösung aussehen?
Die einzige langfristige Lösung ist eine Verfassungsgebende Versammlung. Nur so lässt sich die Legitimitätsproblematik umgehen. Glücklicherweise hat sich vor kurzem eine Mehrheit im Parlament darauf geeinigt, im April nächsten Jahres ein Referendum durchzuführen. Dann soll abgestimmt werden, ob Chile eine neue Verfassung bekommt und wer die neue Verfassung ausarbeiten soll (eine Versammlung aus Parlamentariern und Bürgern oder eine Versammlung, in der Parlamentier nicht beteiligt sind). Umfragen zeigen, dass 85 Prozent der Menschen eine neue Verfassung wollen. Und fast 70 Prozent sprechen sich für eine verfassungsgebende Versammlung aus. Dennoch haben bestimmte Akteure der Rechten eine Riesenangst davor.
Chile galt bislang als Erfolgsstory Lateinamerikas, mit einer prosperierenden Wirtschaft und einer im regionalen Verhältnis großen Mittelschicht. War dieser Eindruck ganz falsch?
Ja, es gibt eine breite Mittelschicht in Chile. Aber diese Mittelschicht kann man überhaupt nicht vergleichen mit dem deutschen Verständnis der Mittelschicht. Sie befindet sich in einer sehr prekären Situation. Eine Sekretärin beispielsweise gehört zur Mittelklasse. Mit ihrem Gehalt muss sie auch für ihren Vater sorgen – das von Pinochet privatisierte Rentensystem funktioniert nicht. Wenn ihre Schwester ihren Job verliert, muss sie auch Geld an ihre Schwester abgeben. Sie kann das natürlich nicht schaffen und muss sich dann verschulden. Das bedeutet: Sie darf nicht krank werden. Falls sie krank wird, kollabiert die ganze Familie. Dieses ganze System ist pervers. Die prekäre Lage der Mittelschicht hat dazu geführt, dass sie so wütend geworden ist gegenüber diesem System.
Sehen die protestierenden und unzufriedenen Menschen in den Oppositionsparteien Anwälte ihrer eigenen Anliegen oder trifft die Politikverdrossenheit diese Parteien gleichermaßen?
Die Politikverdrossenheit ist in Chile weit verbreitet. Das hat mit mehreren Korruptionsskandalen bei der Finanzierung der politischen Parteien zu tun. Dazu kommt noch, dass in den letzten Jahren Preisabsprache zahlreicher Firmen und Mechanismen der Steuervermeidung bekannt geworden sind. Deswegen ist ein Slogan der Demonstrationen ‚evade‘ (umgeh es). ‚Evade‘ wurde als Synonym für kollektives Schwarzfahren benutzt. Der Preis der Metro ist gestiegen. Viele haben gesagt: ‚evade‘: Ich bezahle es nicht. Wenn die Reichen keine Steuern zahlen, warum sollen wir die Erhöhung der Metropreise zahlen? Das Problem für die einfachen Menschen auf der Straße ist die politische Klasse an sich – egal, ob das die Linken oder die Rechten sind. Alle tun, was sie möchten, so der Eindruck. Lediglich zwei Prozent der Bevölkerung halten Parteien und Parlament für glaubwürdig.
Die chilenische Bevölkerung ist des neoliberalen Modells also überdrüssig. Was möchte sie stattdessen?
Die Mehrheit der Bevölkerung möchte ein „sozial-demokratisches Modell“. Sie möchten einen Wohlfahrtsstaat haben. Sie möchten nicht sofort die Renten, wie sie in Deutschland existieren, aber sie möchten mehr soziale Sicherheit. Bei diesem Thema ist die Polarisierung nicht ausgeprägt, wenn auch ein Teil der Elite dagegen ist. Bei anderen Themen ist die Polarisierung ausgeprägter, so zum Beispiel bei der Sicherheit bzw. der Bekämpfung der Kriminalität.
Wie sieht es bei gesellschaftspolitischen Themen aus, Abtreibung beispielsweise?
Hier greift die klassiche Modernisierungstheorie – je reicher ein Land wird, desto liberaler wird es kulturell. Chile ist ein Paradebeispiel dafür. 1990, zu Beginn der Demokratie, war Chile ein erzkonservatives Land: gegen Abtreibung, gegen Diversität, gegen Sterbehilfe etc. Wenn Sie sich heute Umfragen anschauen, ist Chile viel liberaler geworden. Das hat ein Teil der Rechten aber noch nicht verstanden.
Gibt es in Chile eine rechtspopulistische Kraft?
Es gibt José Antonio Kast. Er kommt aus der UDI, die UDI ist die Partei der Diktatur, etwas plakativ gesagt. Er ist aus der Partei ausgetreten, nachdem die UDI sich etwas gemäßigt hat. Für ihn ist nicht Einwanderung das zentrale Thema wie bei den Rechtspopulisten in Europa, es geht eher um Sicherheit. Aber er hat eine ganz klare neoliberale Agenda. Er ist aber kein Nutznießer dieser Proteste. Zwar gibt es einen hohen Bedarf an Sicherheit aufgrund der Gewalt. Aber seine Sozialpolitik will niemand. Er will nach wie vor einen harten Neoliberalismus. Und wir haben die Proteste wegen des Neoliberalismus. Die Lösung ist nicht mehr Neoliberalismus.
Über Lateinamerika hinaus hat die Krise in Chile auch international große Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Warum ist das so?
Ich glaube, der Ausgang der Krise in Chile wird großen Einfluss auf die Region haben und darüber hinaus global. Global, weil Chile das Paradebeispiel des Neoliberalismus ist. Wenn die Chilenen jetzt eine Lösung im Sinne einer sozialen Marktwirtschaft finden, ist das ein Zeichen für die ganze Region, aber auch für die ganze Welt. Der Ausweg ist eine soziale Demokratie.
Das wäre für die arg gebeutelte europäische Sozialdemokratie eine grandiose Nachricht.
Es kann sich natürlich auch in eine andere Richtung bewegen. Anstelle von Reformen käme es dann zu harten Repressionen. Das wäre ebenfalls ein Zeichen für die Region und für die Welt: Der Neoliberalismus lebt weiter, aber in einer autoritären Version.
Das Rennen ist relativ offen im Moment?
Sehr offen. Die Menschen auf der Straße wollen die soziale Marktwirtschaft. Aber um das durchzusetzen, müssen die Eliten nachgeben. Ich glaube, es gibt Gründe, warum das passieren könnte. Aber es gibt auch Gründe, warum das nicht passieren könnte. Dann wäre José Antonio Kast, der Rechtspopulist, vielleicht doch der Gewinner.
Das IPG-Journal hat kürzlich ein Interview mit Chantal Mouffe veröffentlicht, in dem sie auf einen starken, selbstbewussten Linkspopulismus setzt, um den Rechtspopulismus zu bezwingen. Ist das die Lösung?
Das sehe ich ganz anders. Aus einer lateinamerikanischen Perspektive ist das Problem des Linkspopulismus die immense Radikalität. Die Wahrscheinlichkeit, dass etablierte Eliten bereit sind nachzugeben, ist mit solchen Diskursen gleich null. Solche linkspopulistischen Projekte sind zudem hochautoritär, polarisierend und moralisierend. Es gibt nur Gut und Böse. Diese Eliten sind die Bösen, und wir, das Volk, sind die Guten. Wenn ich mir Chile angucke: Natürlich haben viele Eliten schlecht gehandelt, aber nicht alle Eliten sind böse und manche sind doch bereit, Reformen in Richtung einer sozialen Marktwirtschaft einzuleiten.
Was wäre eine ausgewogene politische Antwort auf populistische Entwicklungen sowohl von links als auch von rechts?
Es gibt zwei Gegensätze zum Populismus. Einer ist Elitismus, der andere ist Pluralismus. Elitismus ist dem Populismus sehr ähnlich in Sinne von: Wenn ich elitär denke oder ein Elitist bin, denke ich, dass die Gesellschaft gespalten ist zwischen einer Elite und einem Volk. Aber die Guten sind die Eliten. Das Volk ist gefährlich. Technokraten sind das beste Beispiel dafür. Technokraten sagen: Wir haben die besten Lösungen. Das Volk fragen wir lieber nicht, das sind Idioten. Aber eigentlich sind sich Populismus und Elitismus sehr ähnlich wegen der Simplifizierung und Moralisierung der Realität. Der zweite Gegensatz ist der Pluralismus. Pluralisten sehen, wie vielschichtig das Volk ist. Ein Riesenfehler von uns Pluralisten ist, dass wir häufig Populismus in einer moralisierenden Art und Weise attackieren. Diese Idioten, Xenophoben etc. – bäh! Damit erreichen wir nur, dass die Populisten sagen: Guck dir diese abgehobene Elite an, sie verachtet dich. Was wir machen sollten, ist einfach, diese Leute zu verstehen, nicht zu dämonisieren. Die Dämonisierung bedeutet, Benzin ins Feuer zu gießen.