Die Fragen stellte Alexander Isele.
Dieses Jahr hat sich der Militärputsch in Chile, mit dem der demokratische sozialistische Präsident Salvador Allende gewaltsam abgesetzt wurde, zum 50. Mal gejährt. Eine Junta unter Führung von Augusto Pinochet regierte Chile daraufhin bis zum 11. März 1990 als Militärdiktatur. Sie und ihre Familie waren auch direkt betroffen und sind später in die DDR geflohen. Welche Folgen des Putsches und der Diktatur sind bis heute in Chile spürbar?
Die Bombardierung des Regierungspalastes am 11. September 1973 und die folgende Militärjunta war ein vollkommener Umbruch in Chile. Das Trauma, die Verletzung der Menschenrechte, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, all das lastet weiter schwer auf unserer Gesellschaft. Nichts kann einen Militärputsch rechtfertigen. Auch wenn versucht wurde, das wiedergutzumachen: Noch immer ist die Gesellschaft polarisiert, viele Familien spüren weiter den Schmerz. Es gibt immer noch über 3 000 Verschwundene, deren Familien nicht wissen, wo ihre Geliebten verblieben sind und was mit ihnen geschehen ist. Das ist weiterhin eine offene Wunde im Herzen unseres Volkes.
Das ist weiterhin eine offene Wunde im Herzen unseres Volkes.
In Chile gibt es heute noch Leute, die das Ganze relativieren und rechtfertigen. Ganz offensichtlich sind unsere gesellschaftlichen Probleme noch nicht gelöst. Wir haben eine Verfassung, die zwar unter den demokratischen Regierungen abgeändert worden ist, die aber trotzdem noch viel zu wenig Demokratie in sich birgt. Das extrem neoliberale Wirtschaftsmodell, das Pinochet und seine Regierung aufgebaut haben, mit sehr ausgeprägtem Individualismus, belastet weiterhin unsere Gesellschaft. Es fehlt noch an dem „Wir“, am Kollektiven. Es gibt natürlich sehr solidarische Gruppen, Menschen, die sich zusammenschließen, um anderen zu helfen, aber der Individualismus in Chile ist sehr komplex und hat viele Formen. Ein gutes Beispiel ist die Rentenreform, bei der Solidarität wichtig ist. Viele möchten ihren eigenen Rentenfond haben und nichts von Generationengerechtigkeit wissen.
Im vergangenen Jahr ist das Referendum über eine neue Verfassung gescheitert. Bei der Wahl der Mitglieder des Verfassungsrats im Mai ist die rechtsextreme Republikanische Partei als großer Sieger hervorgegangen – ausgerechnet die Partei, die gar keine neue Verfassung will. Nun wurde ein neuer Entwurf für eine Verfassung vorgelegt – wie geht es in diesem Prozess weiter?
Die Verfassung aus dem Jahr 1980 hat die Pinochet-Diktatur praktisch institutionalisiert. Sie repräsentiert mit den von ihr verfestigten Strukturen nicht die Gesellschaft, sondern das antidemokratische, dunkle Kapitel unserer Geschichte. Wir brauchen eine neue Verfassung, die aus der Demokratie geboren ist und einen Rahmen für alle Chileninnen und Chilenen bietet. Die Wahl der Mitglieder des Verfassungsrates spiegelt die derzeitigen Institutionen und zeigt, wie komplex die politische Landschaft in Chile ist.
Ich bin voller Sorge. Die Wahlen zum Verfassungsrat wurden zwar demokratisch legitim gewonnen – die Mehrheit im Verfassungsrat hat aber ohne Kompromisse ihre eigenen Ideen umgesetzt. Der Verfassungsentwurf sieht etwa ein verschärftes Abtreibungsverbot, die Deportation von Migrantinnen und Migranten, die illegal ins Land gekommen sind, oder ein Streikverbot für Beamte vor. Im Dezember wird es ein Referendum über den Entwurf geben.
Neben der Krise der repräsentativen Demokratie hat Chile auch eine soziale Krise, die mit einer großen Ungleichheit einhergeht. Seit Herbst 2019 gibt es massive Proteste. Wie können die Krise der repräsentativen Demokratie und der massive Vertrauensverlust in die Institutionen und ihre Vertreterinnen und Vertreter überwunden werden?
Zum Ende der Diktatur lag der Anteil der von Armut betroffenen Bevölkerung bei 48 Prozent, sehr viele litten unter extremer Armut. Seither haben die verschiedenen demokratischen Regierungen versucht, gegen die Ungleichheit anzukämpfen und die soziale Situation zu verbessern. Einige dieser Probleme haben sich extrem verbessert, aber weiterhin gibt es Ungleichheit – nicht nur in Sachen Einkommen, sondern auch, was die Qualität der Daseinsvorsorge betrifft. Dass die sozialen Fragen noch nicht angemessen gelöst wurden, ist auch ein Grund der Krise der repräsentativen Demokratie sowie des Vertrauensverlusts in die politischen Institutionen, Parteien und deren Vertreterinnen und Vertreter.
Wir müssen Selbstkritik üben und reflektieren, das wäre der erste Schritt zu einem tatsächlichen Dialog mit der politischen Klasse.
Wir müssen Selbstkritik üben und reflektieren, das wäre der erste Schritt zu einem tatsächlichen Dialog mit der politischen Klasse. Es ist grundlegend, dass die Bürgerinnen und Bürger die Entscheidungsfindungen verstehen und mittragen. Weltweit ist die repräsentative, aber auch die partizipative Demokratie in der Krise. Deshalb müssen Räume für die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger in der Politik geschaffen werden. Zu meiner Regierungszeit habe ich mit Hilfe von Kommissionen, Ausschüssen und Expertengruppen versucht, ein System aufzubauen, bei dem viele verschiedene Gruppen vertreten sind. Ich wollte erreichen, dass man nicht nur den Expertinnen und Experten zuhört, sondern auch den Zielgruppen in der Bevölkerung. Politik muss für die Menschen gemacht werden und darf nicht so gestaltet sein, dass die Menschen sich an alles anpassen müssen. Was für den Einen gut sein mag – für eine bestimmte Altersgruppe, eine bestimmte soziale Gruppe, ein bestimmtes Geschlecht –, muss für den Rest nicht auch gut sein. Es gibt verletzliche Gruppen in der Gesellschaft, die von der Politik manchmal außen vor gelassen werden. Deshalb ist es wichtig, intersektional zu arbeiten.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Nehmen wir die Pandemie: Alle waren verwundbar, konnten sich anstecken. Aber die Alten, Kranken, Frauen, Indigene oder Bevölkerungsgruppen afrikanischer Abstammung in ländlichen Gebieten waren diesen Schwierigkeiten stärker ausgesetzt. Oft lassen wir Gruppen außen vor, da müssen wir zuhören: Was sind die Forderungen derer, die auf Unterstützung angewiesen sind? Und was dazu kommt: Die Machthabenden und Regierenden sind den Bürgerinnen und Bürgern gegenüber zur Rechenschaft verpflichtet. Das haben wir in der Vergangenheit getan und das muss auch in Zukunft geschehen.
Wie kann Teilhabe in einer sozial auseinanderdriftenden Gesellschaft gewährleistet werden?
Wenn wir von Ungleichheit sprechen, dann geht es nicht nur um Einkommensunterschiede, sondern auch um Dinge wie den Zugang zu guter Bildung, zu einem menschenwürdigen Gesundheitssystem und natürlich auch um echte soziale Mobilität. Bildung ist ein Schlüssel. Nicht nur gibt sie das Instrumentarium für die professionelle und persönliche Entwicklung, sie ist auch entscheidend dafür, dass Menschen ihre Rechte wahrnehmen und ausüben können. Dazu ist eine bürgerliche Erziehung nötig. Von klein auf müssen Kinder und Jugendliche verstehen, wie wichtig Demokratie und Menschenrechte sind, aber sie müssen auch wissen, was ihre Rechte und Pflichten als Staatsbürger sind, wie wichtig der Dialog und ihr bürgerliches Engagement sind.
Eine gerechtere Verteilung des Wohlstands ist ein weiterer Schlüssel.
Eine gerechtere Verteilung des Wohlstands ist ein weiterer Schlüssel. Dazu gehört eine gerechte Erhebung der Steuern, aber auch würdige Arbeitsplätze und eine gute Rente. In einer polarisierten Gesellschaft und ohne Mehrheit im Parlament sind die notwendigen Maßnahmen aber schwer einzuleiten. Politische Prozesse wie eine Rentenreform können sehr komplex sein. Wenn man sich aber davor wegduckt, wird die Demokratie einer Gefahr ausgesetzt und die Gesellschaft polarisiert sich noch weiter. Die Bevölkerung bekommt das Gefühl, dass die Politik sich nicht um ihre wirklichen Probleme kümmert. Dann sinkt das Vertrauen und die Demokratie verliert an Relevanz. Was bringt es mir zu wählen, wenn ich den Gewählten vertrauen muss, sie aber andererseits die Probleme nicht lösen?
Wie kommt man da heraus?
Um Fortschritte in diesem schwierigen Umfeld zu erzielen, ist es wichtig, dass es eine neue Aktivierung der Bürgerinnen und Bürger gibt. Denn damit die Menschen auch wirklich eine Stimme haben und sozusagen von der Basis aus Dinge anschieben können, müssen die Volksvertreterinnen und -vertreter wissen, dass es einen Preis hat, wenn man nicht das macht, was die Menschen brauchen. Wer nur auf der Stelle tritt, verliert die Hoffnung. Die Leute brauchen aber Hoffnung. Die Leute müssen daran glauben können, dass ihr Leben besser werden kann. Und sie müssen die Hoffnung haben, dass sie den Respekt erhalten und mit der Würde behandelt werden, die sie verdienen. Ich denke, dass das eine Verantwortung aller Politikerinnen und Politiker ist, ein inklusiveres und gleichberechtigteres Land zu schaffen.