Viele Afghanen flüchten zurzeit nach Europa. Wer sind die, die da aufbrechen, was sind ihre Gründe?
Die wichtigste Ursache des gegenwärtigen Exodus ist die Hoffnungslosigkeit. Und diese wurzelt in der Mischung aus schlechter Sicherheits- und katastrophaler Wirtschaftslage. Familien „senden“ ihre Söhne als Anker und Investitionen nach Europa. Das heißt, es fliehen aber auch die, deren Familien noch investieren können – durch Aufnahme von Schulden, Verkauf von Immobilien und Besitz. Entsprechend komplex ist die Motivation der Migranten, die Unterscheidung zwischen akut bedrohten und „Wirtschaftsflüchtlingen“ wird immer schwieriger. Es gibt keine schnelle Lösung für diese Migrationsbewegung, viel mehr etabliert sich ein neues systemisches Migrationsmuster und Afghanistan wird zu einem Entsendeland auf lange Sicht. Ein bestimmter Teil der fliehenden Afghanen kommt dabei gar nicht aus Afghanistan, sondern aus den Flüchtlingsmilieus Irans und Pakistans, in denen sie teilweise Jahrzehnte verbracht hatten.
Man hört immer wieder, dass der sogenannte IS auch in Afghanistan Fuß fasst. Inwiefern trifft das zu?
Ja, es ist richtig, dass es IS-Kämpfer in Afghanistan gibt. Man muss aber auch dazu sagen, dass es sich dabei um militante Gruppen handelt, die nicht neu sind. So wechselten einige ehemalige pakistanische Taliban-Kommandeure unter die Fahnen des IS. Es hat allerdings länger als ein Jahr gedauert, bis der IS die afghanische „Filiale“ anerkannt hat: Das zeigt auch, wie schwach die Verbindungen noch sind. Eine manifeste Präsenz hat der IS in der Provinz Nangarhar, Zusammenstöße mit den Taliban, Regierungstruppen und Milizen gab es aber auch in Zabul und Kunar. Medial beherrscht der IS allerdings tatsächlich die Schlagzeilen, erst neulich trugen in Kabul Tausende von Menschen sieben Särge mit Leichen von durch den IS hingerichteten Vertretern der schiitischen Minderheit der Hazara und protestierten gegen die Unfähigkeit der Regierung, für Sicherheit im Land zu sorgen.
Kommt Iran nach dem Atomdeal eine neue Rolle in Afghanistan zu? Wird Iran hier eingebunden?
Iran kann eine sehr große Rolle in Afghanistan spielen und ist bisher nicht im ausreichenden Maße in regionale und internationale Formate eingebunden worden. Wie konstruktiv Irans Beteiligung an der Stabilisierung und Entwicklung Afghanistans ausfallen wird, ist noch vollkommen unklar. Einerseits gibt es schon konkrete Ideen, wie nach Sanktionsaufhebung iranisch-afghanische Projekte mit internationalen Mitteln finanziert werden könnten, etwa eine Anbindung der Stadt Herat an den iranischen Hafen von Chahbahar. Andererseits gibt es die Sorge, Teheran könnte durch privilegierte Beziehungen zu ausgewählten Gouverneuren und Politikern die Zentralregierung eher schwächen als stärken.
Besonders Frauen fürchten den kompletten Rückzug der internationalen Präsenz, wie stellt sich das Leben seit dem Rückzug für sie dar?
Der allgemeine wirtschaftliche Niedergang und die fragile Situation im Land bilden denkbar schlechte Rahmenbedingungen für den Erhalt der Errungenschaften der letzten 15 Jahre. Nominell sind Frauenrechte und die Emanzipation der afghanischen Frauen in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft weiterhin ein Wert, an dem Kabul festhält. Es gibt aber auch Anzeichen dafür, dass der traditionelle Konservatismus aus dem Privaten nun ins Öffentliche zurückkehrt. Bislang reagieren Medien und die Kabuler Zivilgesellschaft sehr sichtbar auf solche Vorfälle, wie den Lynchmord von Farkhunda, einer jungen Frau, der die Verbrennung eines Korans fälschlicherweise vorgeworfen, oder die Steinigung von Rochsahana, einer jungen Frau in Ghor, der Ehebruch zu Last gelegt worden war. Die Lage in Afghanistan spitzt sich zu, darunter leiden als erste – wie immer – die Minderheiten, die Frauen, die sozial Schwachen.
Die Fragen stellte <link ipg unsere-autoren autor ipg-author detail author hannes-alpen _blank external link in new>Hannes Alpen.
Hinweis: Im Willy-Brandt-Haus läuft noch bis zum 24. Januar 2016 die Ausstellung "Die Unbeugsamen- Vier Frauen in Kabul."
2 Leserbriefe
Wie waere es sonst zu erklaeren? WICHTIG ist doch nur eins: Profitrate muss stimmen, dann geht alles andere den Bach runter!
Nachzulesen schon bei Karl Marx Das Kapital - Band I 1867
F. Engels gab dann aufgrund von Manuskripten zwei weitere Baende heraus 1885 / 1894