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Die hiesige Presse hat den Ausgang der Kommunalwahlen in der Türkei als Niederlage für Präsident Erdogan gewertet. Ist diese Lesart zutreffend?

Die AKP hat grundsätzlich keine massiven Stimmverluste erlitten. Der konservative Block hat nach wie vor etwa die Hälfte der Wählerinnen und Wähler hinter sich. Allerdings gibt es in der Tat sehr wichtige Verschiebungen in den großen Städten. Im Kerngebiet der AKP, dem anatolischen Hochland, verfügt sie weiterhin über solide Mehrheiten. Insgesamt stellt die AKP weitaus mehr Bürgermeister als die Opposition. Die tiefe Spaltung der Gesellschaft besteht weiterhin und hat sich nun auch regional manifestiert: Die großen Städte sowie die Küstenregionen werden von der Oppositionspartei CHP regiert, der Südosten, das Kernland der Kurden, ist – wenn auch abgeschwächt – nach wie vor in Händen der HDP. Gewonnen hat innerhalb der regierenden Koalition vor allem die rechtsextreme, nationalkonservative MHP, die elf Rathäuser für sich gewinnen konnte.

Insbesondere in den Großstädten erlitt die Regierungspartei herbe Einbußen. Warum haben sich zahlreiche urbane Wählerinnen und Wähler von ihr abgewandt?

Die wichtigsten Gründe für die Gewinne der Opposition in den Großstädten sind einerseits die schwierige wirtschaftliche Lage mit zunehmender Arbeitslosigkeit, massiver Inflation vor allem der Nahrungsmittelpreise sowie dem starken Verfall der türkischen Lira. Fast alle Bürgerinnen und Bürger spüren die Krise unmittelbar an ihrem abnehmenden Lebensstandard. Die aussichtslose Lage der vielen arbeitslosen Jugendlichen trägt zusätzlich zur pessimistischen Grundstimmung bei. Die Wirtschaftskrise wird vor allem der Regierung angelastet.

Andererseits hat die polarisierende Wahlkampfstrategie des Präsidenten viele Wählerinnen und Wähler abgeschreckt. Sie nahmen ihm die Rhetorik nicht mehr ab, dass es sich hier um eine Schicksalswahl handele und das Land in den Abgrund stürzen würde, wenn die Opposition gewinnt. Auch der Verweis auf die zahlreichen Feinde vor allem im westlichen Ausland, vor denen nur eine starke AKP die Bevölkerung schützen könne, verfängt besonders bei den gebildeten Schichten in den Städten nicht mehr.

In Instanbul setzte sich der Sozialdemokrat Ekrem İmamoğlu gegen den ehemaligen AKP-Premierminister Binali Yildirim durch. Die AKP beklagt einen Wahlbetrug und hat die Neuauszählung der Stimmen beantragt. Wie groß sind die Chancen, dass İmamoğlu tatsächlich ins Rathaus einzieht?

Die Wahlen liegen nun bereits elf Tage zurück und noch immer wurde kein Wahlsieger von der Wahlkommission verkündet. Als das erste offizielle Ergebnis in der Wahlnacht vorlag, wurde der knappe Sieg von Ekrem İmamoğlu verkündet. Seitdem werden auf Antrag der AKP nach wie vor einzelne Wahlurnen erneut ausgezählt, ohne dass es zu einer massiven Verschiebung der Stimmen kommt. Entsprechend fordern der bisherige Wahlsieger sowie seine Partei CHP wiederholt die Wahlkommission auf, nun dem Spiel ein Ende zu bereiten und endlich die Wahlergebnisse anzuerkennen. Ob İmamoğlu ins Rathaus einziehen kann, hängt letztendlich davon ab, ob die Wahlkommission in der Lage ist, unabhängig vom Druck der Regierung zu entscheiden. Die Chancen liegen derzeit 50:50.

„Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei“, hat Erdogan selbst vor der Wahl gesagt. Welchen Einfluss haben die Bürgermeister der Millionenmetropolen Istanbul und Ankara tatsächlich - können sie der AKP die Stirn bieten?

Diese Aussage „Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei“, hatte Erdoğan bereits bei seiner eigenen Wahl als Bürgermeister Istanbuls im Jahre 1994 gemacht und tatsächlich ist es dann so gekommen. Es spricht einiges dafür, dass sich solch eine Entwicklung wiederholen könnte. Deshalb ist der Präsident auch so nervös ob des für ihn enttäuschenden Ergebnisses in Istanbul. Der Großraum Istanbul beherbergt nicht nur etwa 16 Millionen Menschen, er erwirtschaftet auch über 30 Prozent des türkischen Bruttosozialprodukts. Die Zugriffsmöglichkeit auf einen so wichtigen Teil der Wirtschaftskraft bietet zahlreiche Möglichkeiten, sich durch Auftragsvergaben Loyalitäten zu erkaufen. Diese Ressourcen werden der AKP aus der Hand genommen, wenn die CHP ins Rathaus einzieht.

Allerdings darf nicht vergessen werden, dass die Mehrheiten im Stadtrat weiterhin bei der AKP und der MHP liegen, damit sind die Wirkungsmöglichkeiten für den Bürgermeister eingeschränkt. Zusätzlich kann die Regierung in zahlreichen Politikfeldern auf die Politik des Rathauses einwirken. Die Zuteilung von Ressourcen durch die Zentralregierung werden dabei das wichtigste Machtmittel sein. Trotzdem kann es durch das Spannungsfeld eines CHP Oberbürgermeisters gegenüber einem mit AKP/MHP-Mehrheit besetzten Stadtrat zu mehr Transparenz und zu einer Reduzierung der grassierenden Korruption kommen. Insofern haben die türkischen Wählerinnen und Wähler eine sehr kluge Wahl getroffen. Es hängt nun vom Geschick und der klugen Taktik des angehenden Oberbürgermeisters ab, ob er sich genügend Spielraum verschaffen kann, um die Stadt in eine positive Zukunft zu führen. Keine leichte Aufgabe, aber İmamoğlu hat mit seinem Angebot, für alle Istanbuler unabhängig von ihrer politischen Orientierung da zu sein, zuerst einmal den richtigen Ton getroffen.

İmamoğlus Erfolg in Istanbul wäre ohne die Unterstützung der Kurdenpartei HDP nicht denkbar gewesen, die auf einen eigenen Kandidaten verzichtete. Ebenso unterstützte die nationalkonservative İYİ –Partei die sozialdemokratische CHP. Ist diese Allianz der Oppositionsgruppen ein Modell für die Zukunft?

Diese Allianz, die im Falle der HDP allenfalls eine sehr informelle Allianz gewesen war, hat während der Kommunalwahlen prächtig funktioniert. Sie war ja erst als Reaktion darauf entstanden, dass sich die AKP und die MHP zu einem Bündnis zusammenschlossen. Für die Regierungsallianz kann man konstatieren, dass die MHP der Hauptprofiteur war. Bei der Oppositionsallianz war letztendlich die İYİ-Partei die große Verliererin. Sie konnte keinen der ihr zugesprochenen Wahlkreise gewinnen.

Im Falle der HDP gab es keine offizielle Allianz, sondern die HDP verzichtete in den für die CHP wichtigen Kommunen von sich aus auf die Aufstellung von Gegenkandidaten. Es war klar, dass sonst viele Kreise an den lachenden Dritten, die AKP, gegangen wären und sich die Opposition gegenseitig neutralisiert hätte. Man kann dies als eine Art Gegengeschenk der HDP an die CHP sehen, denn noch bei den Parlamentswahlen in 2018 hatten viel CHP-Anhänger bewusst die HDP gewählt, um sie über die in der Türkei bestehende 10-Prozent-Hürde zu bringen. Diese damaligen Leihstimmen wurden nun gewissermaßen an die CHP zurückgegeben.

Derartige Allianzen könnten durchaus auch in der Zukunft, abhängig von der konkreten politischen Konstellation, eine Rolle spielen. Allerdings muss auch bedacht werden, dass in der Geschichte der unabhängigen türkischen Republik Parteien-Allianzen nur selten von langer Dauer waren. Auch in der jetzigen Phase könnten sich schon bald neue Parteienkonstellationen ergeben. So halten sich hartnäckig Gerüchte, dass sich eine neue Partei aus unzufriedenen Teilen der AKP bilden könnte. Dies würde auch die politische Landschaft von möglichen Parteien-Koalitionen signifikant verändern.

Geht die türkische Demokratie gestärkt aus diesen Wahlen hervor?

Wenn es tatsächlich dazu kommt, dass Ekrem İmamoğlu als Wahlsieger vereidigt und zum Oberbürgermeister Istanbuls erklärt wird, dann kann man durchaus von einer Stärkung der türkischen Demokratie sprechen. Fest steht schon jetzt, dass diese von vielen unerwarteten Erfolge der CHP bei den Mitgliedern und Anhängern einen Motivationsschub bewirkt haben, der viel frischen Wind in die Partei geblasen hat.

Falls es tatsächlich zu Neuwahlen kommen sollte, wie es der Präsident und seine Partei derzeit fordern, dann wird allerdings der Glaube an die Demokratie gewaltigen Schaden nehmen. Nachdem die Regierung ständig betont hatte, dass die Wahlen in der Türkei unabhängig und professionell durchgeführt würden, sie nun aber angesichts ihrer Niederlage plötzlich grobe Unregelmäßigkeiten reklamiert, wirkt sie nicht besonders glaubwürdig. Zumal die AKP Regierung selbst für den ordnungsgemäßen Wahlablauf verantwortlich zeichnet und am Wahlabend die Vertretungen aller Parteien in jedem einzelnen Wahllokal gemeinsam die Ordnungsgemäßheit schriftlich attestiert hatten. Daher wäre eine solche erzwungene Neuwahl in Istanbul auch international nicht vermittelbar.

 

Die Fragen stellte Claudia Detsch.