Fangen wir mit einer pragmatischen Frage an: Wie haben Sie gewonnen? Wie verlief Ihre Arbeit vor Ort?

Am Anfang des Wahlkampfs wusste ich noch nicht im Detail, worauf ich mich da einlasse, aber ich wusste, was für einen Wahlkampf mein Gegner führen würde: die übliche Standard-Kampagne der Demokraten. Solche Wahlkämpfe konzentrieren sich meist nicht auf den Bezirk. Ich ging mit meinen Erfahrungen aus der Gemeinwesenarbeit in den Wahlkampf. Von Anfang an lag mein Schwerpunkt konsequent darauf, die Aufgaben zu verteilen, eine Koalition zu schaffen und diese Koalition mit weiteren Helfern vor Ort auszubauen. Der Wahlkampf war fast ausschließlich auf diese Mobilisierung im Wahlbezirk ausgerichtet, dazu kam eine Internet-Kampagne zur Stärkung der Arbeit vor Ort. [...] Wir haben an 120 000 Türen geklopft. Wir haben 170 000 Kurznachrichten verschickt. Wir haben weitere 120 000 Anrufe getätigt. Ein Jahr, bevor wir überhaupt diese Mobilisierungsphase erreichten, haben wir bereits eine Wählerregistrierungskampagne durchgeführt. Die Leute sollten sich erst mal registrieren lassen, denn New York ist in Hinblick auf die Wahlregistrierung einer der restriktivsten Bundesstaaten der USA. [...] Wir verließen uns nicht auf Experten. Wir haben uns auf eine Botschaft gestützt, die die Menschen mitreißt. Als sie dann begeistert waren und fragten: „Was kann ich tun?“, haben wir sie selbst angelernt. Wir haben gesagt: „Hör zu, es ist nicht so schwierig. Lade dir die App hier hoch. Und so geht es.“ Wahlkampforganisation ist gar nicht so schwierig. Klar, es gibt bestimmte Abläufe, aber man braucht nur etwa eine Stunde zum Üben, und dann lernt man draußen vor Ort weiter. Genauso haben wir es gemacht. Wir haben ganz normalen Leuten, die sich engagieren wollten, die Grundbegriffe beigebracht. Der Wahlkampf beschränkte sich im Grunde auf unseren Einsatz vor Ort. Wir haben keine Fernsehwerbung gemacht. Mein Gegner hat den ganzen Juni lang Werbespots gebracht. Er hat zehn oder fünfzehn Hochglanzbroschüren an so gut wie jeden registrierten Demokraten im Bezirk geschickt. Ich sage immer, das ist der Victoria's Secret-Prospekt.

Wandert direkt in den Mülleimer.

Ja, genau, das sind diese Vierfarb-Hochglanz-Dinger mit Porträt vorne drauf. Und der Briefkasten der Leute war vollgestopft mit solchen Prospekten. Wir haben drei Postkarten an etwa 50 000 Menschen verschickt, weil wir uns das gerade noch leisten konnten. Bei der Fernsehwerbung und Briefkastenwerbung konnten wir nicht mithalten. [...]

Vertreter des Partei-Establishments haben Ihren Sieg darauf reduziert, dass Sie eben besser zur Bevölkerungsstruktur Ihres Bezirks passen. So lässt sich recht bequem das Ausmaß der Welle leugnen, die genau diesen Leuten gefährlich werden könnte. Wie sehen Sie die Versuche des Systems, gegen das Sie angetreten sind, Ihren Sieg wegzureden und zu verdrehen?

Mich kümmert das nicht sonderlich. Anfangs, in den ersten vierundzwanzig oder achtundvierzig Stunden, habe ich mir die vielen Erklärungen für meinen Sieg noch angehört. Ich war aber nicht weiter beunruhigt, weil keiner dieser Leute den Wahlkampf genau beobachtet oder überhaupt beachtet hatte.

Die Reaktionen ließen sich ja auch dadurch erklären, dass es sowohl für das politische Establishment als auch für viele Mainstream-Medien eine Situation wie in „Des Kaisers neue Kleider“ war: Da hatte sich US-weit etwas Riesiges und Schockierendes entwickelt, und niemand hatte es überhaupt bemerkt.

Viele derer, die sich da abstrampelten, um das Wahlergebnis zu erklären, hätten es durchaus erklären können. Vor dem Wahlkampf hatte ich mich stundenlang mit Journalisten der New York Times unterhalten, man kann also nicht sagen, dass ich nicht mit ihnen geredet hätte. Ich erklärte ihnen, wer ich bin. Und sie beschlossen, nicht über den Wahlkampf zu berichten. Er hätte also durchaus nicht unbemerkt bleiben müssen. Die Geschichte kommt scheinbar aus dem Nichts, in Wahrheit war es anders.

Ich konnte es nicht fassen, dass mir nach einer vollen Woche der Medienberichterstattung die Journalisten immer noch dieselben Fragen stellten.  Reporter des [spanischsprachigen] Senders Univsion, denen ich ein Interview gab, fragten mich: „Wie definieren Sie sich selbst?“ Es war das erste Mal, dass jemand im Fernsehen mir diese Frage stellte.

Wie lautete Ihre Antwort?

Ich sagte: „Ich bin Pädagogin, ich mache Sozialarbeit, und ich engagiere mich ohne Wenn und Aber für Arbeiterfamilien.“ Ich verstehe mich als Organisatorin für das Gemeinwesen. Kein anderer Sender erlaubte mir, diese Geschichte zu erzählen; das ist schon in Ordnung. Ehrlich, es ist gut. Es ist gut, wenn das politische Establishment meinen Sieg aus oberflächlichen Gründen kleinredet. Wenn Leute behaupten, mein Wahlsieg hätte demographische Gründe, ist das meiner Meinung nach, ehrlich gesagt, eine Art intellektueller Faulheit, aber soll es doch so sein.

Dann lernen sie ihre Lektion eben nicht, denn die progressive Bewegung, die Bewegung für Arbeiterfamilien, die Bewegung für wirtschaftliche, soziale und ethnische Gerechtigkeit, die Bewegung für eine Ermächtigung der Arbeiterklasse, die Bewegung für Puerto Rico, die Bewegung für Ferguson, die Bewegung für eine Justizreform – das sind lauter Leute, die genau hinschauen. Das sind Leute, die sagen: „Wie hat sie eigentlich die Wahl gewonnen?“ Sie stellen mir heute diese Frage. DSA [Democratic Socialists in America] will auch eine Antwort haben. Die wollen es wirklich wissen, denn das sind die Gruppen, mit denen wir eine Koalition gebildet haben. DSA spielte eine sehr wichtige Rolle, aber das gilt auch für Black Lives Matter und Greater New York, Justice Democrats und viele Arbeiter- und Mieterorganisationen, muslimische Sozialnetzwerke, junge jüdische Organisationen. Wir haben ganz gezielt eine Koalition von Menschen aufgebaut, die in der progressiven Bewegung federführend aktiv sind. […]

Eine große Chance für alle linken Herausforderer ist es doch, von einer geringen Wahlbeteiligung zu profitieren, indem sie Wähler mobilisieren und die Amtsinhaber überraschen.

Ganz genau. Sich auf die Mitte zu konzentrieren, ist in meinen Augen eine Verschwendung von Ressourcen. Denn es geht doch darum: Diese Mitte entscheidet sich erst eine Woche vor der Wahl. Wer eine Woche vor der Wahl nicht weiß, wen er wählen soll, lässt sich auch mit dem größten Aufwand nicht dazu bringen, diese Entscheidung früher zu fällen.

Man muss Kundgebungen organisieren, immer mehr Leute erreichen. Es gab Leute, die hatten noch nie gewählt, aber die wussten schon Monate vor der Wahl, dass sie mich wählen würden, weil wir mit ihnen geredet haben. Sie wussten, dass wir uns kümmern, weil ich nicht den Fehler begangen habe, nur die Leute für mich zu gewinnen, die schon in den letzten drei Wahlen Demokraten gewählt haben, nur mit denen zu reden.

Ich wusste, dass diese Wähler für mich nicht oberste Priorität haben. Ich wusste, die stehen für mich an zweiter oder dritter Stelle. Die Leute, die wir aktiviert haben, die eine staatliche Krankenversicherung für alle wollen, die ein gebührenfreies College wollen, die sind als Allererste dabei, wenn man diese Positionen auch vertritt. Den Leuten ist das so wichtig, dass sie auch ihre Freunde und Angehörigen mobilisieren.

Senatorin Tammy Duckworth sagte kürzlich, Ihr Ansatz würde im Herzen Amerikas nicht aufgehen, ihre Strategie sei spezifisch für die Bronx. Ihre Reaktion fand ich fantastisch. Sie haben all die Staaten aufgelistet, in denen Bernie Sanders gewonnen hat, viele im Mittleren Westen, die dann in der Präsidentschaftswahl verloren gingen, und Sie fragten: „Wie lautet der Plan, damit sich das nicht wiederholt?“

Ich habe ja viel mit den Leuten geredet. Wir Demokraten sagen ja im Grunde: „Wir haben 1000 Sitze verloren, wir haben das Repräsentantenhaus verloren, wir haben den Senat verloren. Wir haben die Präsidentschaft verloren in einer Wahl, die wir ganz bestimmt nicht hätten verlieren dürfen. Und nun machen wir weiter mit denselben Kandidaten, denselben Strategien, demselben Plan?“ Als Partei haben wir unsere Strategie nämlich nicht verändert. Der Plan scheint fast derselbe zu sein. Was haben wir aus 2016 gelernt? Was werden wir anders machen?

So langsam fordern die Leute offenbar ein, dass das Establishment den Kurs wechselt. Dabei müssten wir eigentlich das Establishment austauschen und selbst den Kurs wechseln, oder?

Bei meinem Gegner kamen 99 Prozent der Wahlkampffinanzierung von Unternehmen, Lobbyisten und reichen Spendern. Weniger als ein Prozent kamen von kleinen Spendern. Wenn sich ein Amtsinhaber immer weiter von Unternehmen und der Wirtschaft finanzieren lässt, wenn er immer weiter das sagt, was wir Demokraten schon im September 2016 gesagt haben, dann sollten wir uns Sorgen machen.

Wer durch Trumps Präsidentschaft nicht dazu veranlasst wird, seine Herangehensweise zu ändern, der ändert sich selbst auch nicht. Ich glaube, einige haben sich geändert. Ich sage nicht: „Brennt alles nieder“, denn meiner Ansicht nach hat bei einigen wirklich ein Gesinnungswandel stattgefunden.

Viele hoffen, dass Ihr Sieg die neue Welle sozialistischer und linker Herausforderer anspornen und stärken wird. Wo geht es mit der Bewegung jetzt hin?

Wir haben eine riesige Chance, unsere Macht auszubauen, und da kann man überall anfangen. Man muss nicht unbedingt einen Sitz im Kongress erobern, es gibt auch viele andere Positionen, die große Chancen bieten.

Viele Leute sind zynisch und unzufrieden und glauben, dass die Wählerarbeit die Sache nicht wert ist. Die sollen wissen, dass ich das nachvollziehen kann. Ich verstehe den Zynismus. Und ich bitte diese Leute, es sich noch einmal zu überlegen, denn wir haben es in Wahrheit nicht mit einem unbesiegbaren Ungeheuer zu tun, wie viele behaupten. Geld ist in der Politik so einflussreich, weil sich Faulheit breitgemacht hat. Viele dieser „unangreifbaren“ politischen Schlachtrösser sind reine Hüllen, die keine hohe Wahlbeteiligung schaffen. Sie sind verbraucht.

Viele der Demokratischen Parteien – vor allem die in den Bundesstaaten – sind am Steuer eingeschlafen. Die wurden sozusagen übernommen und agieren jetzt als kleine gesetzlich erlaubte Geldwäscheeinheiten. Das ist mittlerweile ihre Funktion. [...] Denen fehlen aber die Menschen. Wer Menschen mobilisieren kann, kann auch etwas verändern. [...] Mein Wahlkampf fand zu 90 Prozent in Wohnzimmern statt, buchstäblich. Ich habe gekellnert und den Wahlkampf mit einer Einkaufstüte begonnen. Das ist kein sentimentales Märchen, es ist die Wahrheit. Nach der Arbeit habe ich mir die Klamotten angezogen, die ich in der Einkaufstüte hatte. Ich zog mit einem kleinen Klemmbrett los, und meistens fand ich eine Person, die Interesse zeigte. Und die hat ihre Freundinnen und Nachbarn zu sich nach Hause eingeladen. Ich bin mit dem Zug hingefahren und habe mit den Leuten geredet, immer mit zehn auf einmal, acht Monate lang.

So sah mein Wahlkampf aus. Diese Grüppchen von fünf oder zehn Leuten, das war am Ende meine kleine Armee, der harte Kern meines Wahlkampfes vor Ort. [...]

Es gibt da eine eigene Branche, die Wahlkampfberatung. Die Berater empfehlen den Kandidatinnen, Geld auszugeben für Dinge, die wirken, aber das geht auf Provisionsbasis. Viele Berater nehmen 10 Prozent für jede Fernsehwerbung, die sie für den Kandidaten platzieren. Die empfehlen nichts, womit man gewinnt, sondern die empfehlen Aktionen, die ihnen Provision einbringen. In weiten Teilen dieser Branche ist das der marktübliche Anreiz.

Aber wir wissen, dass man anders gewinnt: Man gewinnt, wenn man von Tür zu Tür geht, wenn man Leute anruft, wenn man mit den Wählerinnen und Wählern Kontakt aufnimmt. Aber damit verdient niemand Geld. [...] Wir siegen im Bezirk. Wer einen Wahlkampf von unten gewinnen will, muss zählen, an wie viele Türen er geklopft hat. Man muss zählen, wie viele Kontakte man mit eins oder zwei bewertet hat. Man redet mit jemandem und bewertet die Person auf einer Skala von 1 bis 5. Wir haben 15 900 Kontakte mit eins oder zwei bewertet, und 15 900 Leute haben am Wahltag für uns gestimmt. Das war kein Zufall. [...]

Ihr Sieg gibt mir mehr Zuversicht denn je, dass die Linke eines Tages, vielleicht mittelfristig, die politische Mehrheit in diesem Land stellen wird. Aber viele unserer politischen Institutionen sind radikal undemokratisch, und eine konservative Minderheit könnte in den nächsten Jahren Institutionen wie das Oberste Gericht oder den Senat dafür nutzen, Volkes Willen zu blockieren. [...] Glauben Sie, wir müssten eine Diskussion über radikalere, konstitutionelle Maßnahmen beginnen, um das System zu demokratisieren?

Absolut. Es ist ein Jammer, was heutzutage als radikal gilt. Allen Menschen in Amerika das Wahlrecht zu geben, das sie nach der Verfassung bereits haben, ist das radikal? Ehrlich? [...]

Ich glaube darum geht es. Zieht los, mobilisiert die Leute. Das ist das Ziel, das Wesen unserer Demokratie.

 

Dieses Interview erscheint mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift Jacobin, in der es in einer ausführlicheren Fassung im Original erschienen ist. Die Fragen stellte Daniel Denvir.

Link: https://www.jacobinmag.com/2018/07/alexandria-ocasio-cortez-interview-democratic-primary

 Aus dem Englischen von Anne Emmert.