Die Fragen stellte Philipp Kauppert.

Sie sind derzeit „Sonderbeauftragter für die sozialdemokratische Erneuerung“ in der S&D-Fraktion im Europäischen Parlament. Was bedeutet diese Erneuerung für Sie?

In ganz Europa stehen wir vor nahezu derselben Situation. Die Krise ist nicht national – sie ist europäisch, ja westlich. Was wir in den USA mit der MAGA-Bewegung sehen, spiegelt sich hier wider. Angesichts des Aufstiegs der extremen Rechten und des Mangels an Energie und Substanz auf unserer eigenen Seite müssen wir grundlegende Fragen stellen: Wer sind wir? Wofür stehen wir? Wie können wir nicht nur die europäische Sozialdemokratie, sondern auch die europäische Demokratie selbst retten?

Deshalb haben wir in unserer Fraktion beschlossen, dass es nicht reicht, drei Wochen vor den Wahlen ein gemeinsames Manifest zu schreiben. Dann wiederholen wir nur Schlagworte – soziale Gerechtigkeit, gerechte Transformation, soziale Ökologie. Wir brauchen eine tiefere Reflexion. Erstens: Was haben wir falsch gemacht? Wenn man überall Wahlen verliert, funktioniert irgendetwas nicht. Zweitens: Warum sind wir überhaupt Sozialdemokraten? Was wollen wir verändern? Und drittens: Wie wollen wir das tun?

Politik ist nicht nur transaktional – ein Reagieren auf Bedürfnisse oder Ängste –, sie ist auch transformativ.

Politik ist nicht nur transaktional – ein Reagieren auf Bedürfnisse oder Ängste –, sie ist auch transformativ. Wir müssen die Agenda gestalten und nicht nur auf eine reagieren, die uns andere aufzwingen. Andernfalls spielen wir jede Partie auf dem Spielfeld des Gegners. Wir wollen aber auch zu Hause, auf unserem eigenen Platz spielen – müssen dafür aber zunächst neu definieren, was dieses „Zuhause“ für uns bedeutet. Paradoxerweise hat es die nationalistische extreme Rechte geschafft, sich über Grenzen hinweg besser zu koordinieren als wir. Sie handeln international, während wir, die selbsternannten Internationalisten, fragmentiert bleiben. Dieser Widerspruch muss enden, sonst werden wir weiter verlieren.

Sie haben einige Tage in Deutschland verbracht und mit SPD-Politikern und Intellektuellen gesprochen, während die Partei an einem neuen Grundsatzprogramm arbeitet, das 2027 fertiggestellt sein soll. Geben solche langfristigen Programme heute noch die nötige Orientierung?

Es geht nicht nur um ein Programm. Entscheidend ist der Prozess der Selbstbefragung – dieselben Fragen, die wir uns in Frankreich und in ganz Europa stellen: Wer sind wir, und welche Vision bieten wir an? Ja, ein glaubwürdiges politisches Programm ist notwendig. Aber vor den politischen Maßnahmen müssen Werte und ein gemeinsames Verständnis von Politik stehen. Die Herausforderung der SPD ist besonders komplex: Sie muss Lehren aus den jüngsten Wahlen und der Stimmung in Deutschland ziehen – und gleichzeitig regieren. Das erzeugt Konflikte, nicht nur inhaltlicher, sondern auch zeitlicher Art.

Wenn man in der Regierung ist, insbesondere als Juniorpartner, trägt man Verantwortung für Entscheidungen, die nicht unbedingt von einem selbst stammen – und sieht sich gleichzeitig einer Krise nach der anderen gegenüber. Dennoch darf man langfristiges Denken nicht zugunsten kurzfristigen Überlebens opfern. In Frankreich haben wir das zu oft getan – taktisch auf jede Krise reagiert und die tiefere Erneuerung vernachlässigt. Man übersteht zwar jede Welle, aber am Ende fehlt die Substanz für eine transformative Agenda. Alle, mit denen ich hier gesprochen habe, verstehen, dass jenseits taktischer Fehler oder einzelner Themen eine tiefere Krise der Sozialdemokratie besteht. Und genau jetzt ist der richtige Moment, sich ihr zu stellen.

Viele argumentieren, sozialdemokratische und Mitte-links-Parteien hätten die Arbeiterschaft verloren, die zunehmend rechtsextrem wählt. Wie kann dieser Trend umgekehrt werden?

Das ist tatsächlich der Kern des Problems. Die Arbeiterklasse hat sich verlagert – frühere sozialistische Wähler in Frankreich stimmen nun für die extreme Rechte. Doch das ist nicht nur eine Krise der Sozialdemokratie; es ist eine Krise der Demokratie selbst. Jahrzehntelang waren westliche Demokratien stabil, weil sie den arbeitenden Menschen ein zentrales Versprechen gaben: Durch Arbeit kannst du dir ein besseres Leben aufbauen. Dieses Versprechen wurde lange erfüllt – es trug Wohlstand und Vertrauen in die Demokratie. Jetzt ist es gebrochen. Und wenn es zerbricht, wächst der Populismus.

Arbeitende Menschen müssen wieder eine demokratische Zukunft erkennen, die ihnen Verbesserungen bietet.

Wir können nicht länger einfach sagen: „No pasarán.“ Moralische Empörung reicht nicht aus. Wir müssen verstehen, warum ein Fabrikarbeiter in Michigan oder Nordfrankreich, der sein Leben lang links gewählt hat, heute Trump oder Le Pen unterstützt. Die Antwort ist: Er sieht keinen Fortschritt und keine Würde mehr innerhalb der Demokratie. Die Erneuerung der Sozialdemokratie bedeutet daher eine Rückkehr zu ihren Quellen. Arbeitende Menschen müssen wieder eine demokratische Zukunft erkennen, die ihnen Verbesserungen bietet. Andernfalls schwächt sich die Demokratie, und die extreme Rechte wird zur Partei der Arbeiter – wie es bereits geschehen ist. Das ist nicht nur eine tödliche Gefahr für die Sozialdemokratie, sondern für die Demokratie selbst.

Natürlich ist die heutige Arbeiterschaft nicht mehr dieselbe wie früher: diversifizierter, fragmentierter, individualisierter. Wir müssen diese Transformation verstehen und dürfen die Vergangenheit nicht romantisieren. Und wir müssen klar definieren, für wen wir sprechen und gegen wen wir kämpfen. Heute stehen wir einem Phänomen gegenüber, das ich „Kapitalismus der Einsamkeit“ nenne. Große digitale Plattformen beherrschen nicht nur den politischen Diskurs, sondern auch den Alltag. Sie profitieren von Vereinzelung und Isolierung – und diese untergräbt Solidarität, die Grundlage der Sozialdemokratie. Wir stehen Machtkonzentrationen gegenüber wie der von Elon Musk oder auch der Kommunistischen Partei Chinas mit TikTok, wo Geschäftsinteressen mit ideologischem Einfluss verschmelzen. Um die Demokratie zu verteidigen, müssen wir wissen, für wen wir kämpfen – und gegen wen.

Kommen wir zur französischen Politik. Die Lage dort wirkt extrem angespannt. Wie beurteilen Sie den aktuellen Moment? Und würden Sie eine Kandidatur bei den nächsten Präsidentschaftswahlen in Erwägung ziehen?

Die Wahlen 2027 werden ein Moment von Leben oder Tod für die französische Demokratie – und für das europäische Projekt insgesamt. Die Möglichkeit, dass Marine Le Pen oder ein anderer rechtsextremer Kandidat gewinnen könnte, ist sehr real. Es gibt keine Obergrenze mehr für ihre Unterstützung. Das bedeutet: Jede Entscheidung, die heute getroffen wird, muss mit einer Ernsthaftigkeit erfolgen, die der französischen Politik oft fehlt. Die Geschichte wird uns daran messen, was wir jetzt tun – oder unterlassen. Wenn die französische Demokratie kollabiert, wird das gesamte europäische Demokratieprojekt erschüttert.

Wir müssen daher mit einem Ziel handeln: diesen Kollaps zu verhindern. Die Sozialdemokratie muss zeigen, dass sie der echte Schutzwall der Demokratie ist. Ja, wir teilen mit den Konservativen die Überzeugung, dass eine starke Verteidigung gegen Putins Aggression notwendig ist. Aber wir verstehen „Verteidigung“ ganzheitlich: Sie umfasst militärische Stärke, sozialen Zusammenhalt und den ökologischen Übergang. Diese drei Säulen bilden gemeinsam die Verteidigung der Demokratie. Nur wir können eine solche umfassende Vision anbieten – eine Alternative zu den antidemokratischen Kräften. In Frankreich arbeite ich daran, diesen Ansatz aufzubauen, ohne Sektierertum und ohne Dogma. In diesem Kampf werden wir alle brauchen, die an die Demokratie glauben – auch jene, die in der Vergangenheit Macron gewählt haben.

Es reicht nicht, „gegen die extreme Rechte“ zu sein. Die Menschen müssen auch wissen, wofür wir stehen.

Was auf der persönlichen Ebene geschieht, weiß ich noch nicht. Aber es geht nicht um individuelle Ambitionen. Es geht darum, einen Zusammenbruch zu verhindern. Die Wahl besteht nicht zwischen Sieg oder Niederlage – sondern zwischen Erneuerung oder Ruin. Um erfolgreich zu sein, müssen wir zuerst klären, wer wir sind. Es reicht nicht, „gegen die extreme Rechte“ zu sein. Die Menschen müssen auch wissen, wofür wir stehen. Sie wissen vielleicht, dass wir für soziale Gerechtigkeit oder höhere Löhne eintreten, aber unsere politische Identität bleibt unklar – während nationalistische Kräfte eine sehr klare haben. Diese Klarheit ist unser fehlendes Puzzlestück.

Zum Schluss: Wie sehen Sie die linksextreme La France Insoumise im größeren Kampf um die Demokratie – und was bedeutet das für mögliche Kooperationen bei zukünftigen Wahlen?

Wenn man den Kampf für die Demokratie anführt, kann man sich nicht mit antidemokratischen Kräften verbünden. Tut man es doch, schenkt man der extremen Rechten den Sieg. Sie wird einfach auf unsere Inkohärenz verweisen: „Ihr werft uns Autoritarismus oder Putin-Nähe vor, aber ihr verbündet euch mit Populisten, die gegen die EU und die europäische Verteidigung sind.“ Sozialdemokrat zu sein, bedeutet zuallererst, Demokrat zu sein. Das unterscheidet uns von der populistischen Linken. Wenn wir diesen Unterschied verwischen, verlieren wir unsere Identität. Und dieses Verwischen ist nicht nur moralisch falsch, sondern auch strategisch ein Fehler.

Deshalb: keine Allianz mit La France Insoumise (LFI). Sie würde eine Niederlage garantieren. Wenn ein LFI-Kandidat die zweite Runde der Präsidentschafts- oder Parlamentswahlen erreichen würde, wäre ein Sieg der extremen Rechten sicher. Und sogar wenn wir selbst den Kandidaten stellten [aber in einer Allianz mit LFI, Anmerkung der Redaktion], würden wir das moralische Argument verlieren. Man würde uns Komplizenschaft mit Kräften vorwerfen, die mit den schlimmsten Instinkten des Populismus gespielt haben. Ja, die Ablehnung solcher Allianzen wird auch Rückschläge bringen. Aber Kohärenz schafft langfristig mehr Glaubwürdigkeit. Ich werde sicherstellen, dass es keine „unscharfe Strategie“ gibt. Die Menschen verdienen Klarheit.

Am Ende zweifeln die Wählerinnen und Wähler nicht am meisten an unserer Kompetenz, sondern an unserer Aufrichtigkeit. Glaubwürdigkeitsprobleme kann man mit guter Politik lösen; Probleme der Aufrichtigkeit allerdings nicht. Die Menschen müssen glauben, dass wir meinen, was wir sagen – auch wenn es etwas kostet. Für die Sozialdemokratie in Frankreich wünsche ich mir, dass sie ohne Zögern wieder ihren Platz in der europäischen sozialdemokratischen Familie einnimmt. Wir sollten aufhören, so zu tun, als wären wir Radikale in der Opposition und Liberale an der Macht. Sagt den Menschen die Wahrheit darüber, wer ihr seid. Langfristig werden sie Authentizität dem politischen Schauspiel vorziehen.