Die Fragen stellte Nikolaos Gavalakis.
Die größte Überraschung dieser Wahl scheint der starke Auftritt der progressiv-liberalen Partei D66 zu sein. Wie erklären Sie ihren Erfolg? Was hat sie richtig gemacht, was andere nicht geschafft haben?
D66 ist eine Partei, die es so in Deutschland nicht gibt. Sie ist nicht wie die FDP, sondern eher sozialliberal – in mancher Hinsicht den Grünen ähnlich. Ihre Wählerbasis besteht vor allem aus akademischen Berufstätigen: sehr pro-europäisch, pro-Migration, pro-Klima. Eine Woche vor der Wahl war noch alles offen. Jede Partei hätte am Ende vorne liegen können. Das zeigt, wie unentschlossen und skeptisch viele Wählerinnen und Wähler waren. Viele hatten das Gefühl, dass keiner der Kandidaten wirklich das Zeug zum Premierminister hatte.
Dann gelang es dem D66-Vorsitzenden Rob Jetten, einem jungen und dynamischen Politiker, die Stimmung zu drehen. Seine Kampagne erinnerte an Obama – selbstbewusst, optimistisch und nach vorne schauend. In den letzten TV-Debatten stellte er sich Geert Wilders direkt entgegen und sagte: „Warum sollten wir Angst vor Wilders haben? Lasst uns ihn schlagen – yes, we can.“ Das hat bei den Menschen Eindruck gemacht.
Jetten hatte den Mut, Wilders frontal zu konfrontieren, und wurde so zur eigentlichen Anti-Wilders-Figur – etwas, das Frans Timmermans nicht gelungen ist. Er warf Wilders vor, die vorige Regierung ruiniert zu haben und für eine demokratische Politik viel zu aggressiv zu sein. Gleichzeitig wurde um Wilders herum wieder eine Art Brandmauer errichtet – ein cordon sanitaire. Jetten verstand es, diese Isolation geschickt zu nutzen und mit einer scharfen Kritik an Wilders’ Regierungsbilanz zu verbinden.
Auch beim Thema Migration ging Jetten klug vor. Im Wahlkampf rückten er und D66 leicht nach rechts – mit einem realistischeren, pragmatischeren Ansatz. Erstmals nutzte D66 in ihrer Kampagne die niederländische Flagge, mit der Botschaft, dass sie nicht allein der extremen Rechten gehören dürfe, sondern auch der politischen Mitte. Diese subtile, aber clevere Geste half, D66 als progressive Partei zu positionieren, die dennoch für die gesellschaftliche Mitte spricht. Diese Kombination – Mut gegenüber Wilders, ein moderater Ton in der Migrationsfrage und symbolische Signale wie die Rückeroberung der Flagge – erklärt den Durchbruch von D66.
Die PVV von Geert Wilders hat zwar erneut stark abgeschnitten, aber eine beträchtliche Zahl an Sitzen verloren. Wie erklären Sie diese Verluste, obwohl das Thema Migration – traditionell eines seiner Kernthemen – wieder ganz oben auf der öffentlichen Agenda stand?
Die PVV könnte trotzdem noch die stärkste Partei werden – es ist ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit D66. Im Moment ist es einfach zu knapp, um eine eindeutige Aussage zu treffen. Symbolisch wäre es allerdings sehr wichtig, wenn Wilders nicht vorne läge. Denn sollte er gewinnen, würde er versuchen, die Koalitionsverhandlungen zu führen – obwohl jeder weiß, dass das zu nichts führen würde. Keine andere Partei will mehr mit ihm regieren. Trotzdem würde er den Prozess zur Koalitionsbildung für einige Wochen dominieren – und das wäre ein Desaster für die politische Stabilität in den Niederlanden.
Migration steht nach wie vor ganz oben auf der politischen Agenda.
Ja, er hat viele Sitze verloren, aber er bleibt dennoch stark. Manche dachten, die Ära Wilders sei vielleicht vorbei, doch das Wahlergebnis zeigt: Sie ist es nicht. Er ist weiterhin da, weiterhin einflussreich. Migration steht nach wie vor ganz oben auf der politischen Agenda, und insgesamt hat sich das Land mit dieser Wahl deutlich nach rechts bewegt. Das gesamte linke Spektrum in den Niederlanden ist stark geschwächt – fast zerstört. Und das ist eine sehr schlechte Nachricht für die Linke, nicht nur in den Niederlanden, sondern in ganz Europa.
Das Bündnis aus Grünen und Sozialdemokraten unter Frans Timmermans hat eine deutliche Niederlage erlitten, und Timmermans ist bereits zurückgetreten. Warum konnte ihre Kampagne bei den Wählern nicht verfangen?
Es gibt zwei Hauptgründe. Erstens: die Unbeliebtheit von Frans Timmermans selbst. In Brüssel wurde er respektiert, aber in den Niederlanden nicht. Viele Niederländer sahen in ihm eine Art „Klimapapst“, der aus Brüssel herabkommt, um ihnen zu sagen, was sie tun sollen – das kommt in den Niederlanden nicht gut an. Es ist immer schwierig, wenn ein Brüsseler Politiker in die nationale Politik zurückkehrt. Dazu kommt, dass er vom Typ her nicht ganz einfach ist. Selbst in seiner eigenen Partei war er nicht besonders beliebt. Tatsächlich war Rob Jetten von D66 bei vielen Anhängern der Grünen und der Sozialdemokraten populärer als Timmermans – das sagt einiges.
Der zweite Grund war Gaza. Die Linke steckte all ihre Energie in dieses Thema. Es gab große Demonstrationen – 250 000 Menschen versammelten sich in Den Haag – viele in roten Jacken. Aber das war im Grunde die rot-grüne Blase, die zu sich selbst sprach. Die meisten Wähler treffen ihre Entscheidung nicht wegen Außenpolitik, und Gaza ist ein zutiefst spaltendes Thema. Es mobilisiert stark bei der Linken, aber nicht bei der breiten Wählerschaft. Gaza war nicht einmal unter den fünf wichtigsten Anliegen der Wähler.
Für viele Niederländer wirkte es, als würde sich die Linke mehr um Gaza kümmern als um die Probleme zu Hause. Wenn sie über Solidarität sprachen, dachten die Leute: „Sie meinen Gaza, nicht uns.“ Und dann kam zwei Wochen vor der Wahl noch die Diskussion um Trumps „Friedensplan“ auf, wodurch die Aufmerksamkeit ganz von Gaza abgelenkt wurde. Ihr Hauptthema verlor also kurz vor dem Wahltag an Bedeutung. Ein unbeliebter Spitzenkandidat und eine Kampagne, die sich auf ein polarisierendes Thema konzentrierte, wurden dem grün-roten Bündnis letztlich zum Verhängnis.
Die zentralen Themen dieses Wahlkampfs – Migration, Lebenshaltungskosten und Wohnungsmangel – sind Herausforderungen, die ganz Europa betreffen. Inwieweit spiegeln die niederländischen Wahlergebnisse breitere europäische politische Trends wider?
Wir sehen überall dasselbe Muster – in Deutschland und in ganz Europa, unabhängig vom politischen System oder den Parteitraditionen. Der Populismus ist in fast allen Ländern auf dem Vormarsch, wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen. Wilders ist nicht so extrem wie die AfD, aber auch in den Niederlanden gibt es jetzt eine Brandmauer, ähnlich wie in Deutschland. Migration spielt dabei eine zentrale Rolle, aber eher als Symbol. Es geht zwar auch um Migration selbst, aber noch stärker um Zukunftsängste – besonders in den unteren Mittelschichten. Für viele ist Migration zu einer Projektionsfläche für tiefere Sorgen geworden: um Arbeitsplätze, Identität und Stabilität.
Die Linke hingegen hat fast jeden Kontakt zu diesen gesellschaftlichen Gruppen verloren. Wenn man sich die Wähler von GroenLinks-PvdA ansieht, sind rund 80 Prozent Akademiker oder höher Gebildete – genau wie bei der SPD in Deutschland. Sie sind zu einer akademischen Elitepartei geworden. Diese völlige „Akademisierung“ der Linken sieht man fast überall – vielleicht mit Ausnahme Dänemarks.
Gleichzeitig sind unsere Gesellschaften tief gespalten: Die eine Hälfte ist fixiert auf Migration, die andere auf das Klima.
Gleichzeitig sind unsere Gesellschaften tief gespalten: Die eine Hälfte ist fixiert auf Migration, die andere auf das Klima. Die eigentliche Herausforderung besteht darin, diese beiden Hälften wieder zusammenzubringen, wenn wir unsere Demokratien wieder stärken wollen – vor allem angesichts der autokratischen Bedrohungen durch Russland, Trump oder China.
Wir erleben zunehmende Fragmentierung, Polarisierung und Instabilität. Und am stärksten leidet darunter die Linke. Man sieht es auch in Deutschland: Die SPD befindet sich im Abwärtstrend. Europaweit müssen wir die Idee der Volkspartei neu erfinden – einer Partei für die breite Bevölkerung. Die Niederlande zeigen, was passiert, wenn diese verschwinden: Es gibt zu viele kleine Parteien, jede zu schwach, um wirklich Führung zu übernehmen. Die größte Partei ist kleiner denn je. Das macht es fast unmöglich, stabile Regierungen zu bilden oder den Bürgern unpopuläre, aber notwendige Entscheidungen zu vermitteln.
Welche Lehren sollten andere europäische sozialdemokratische Parteien aus dieser Wahl ziehen? Gibt es Hinweise darauf, wie sie unter ähnlichen sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen wieder Wähler zurückgewinnen können?
Das ist die Eine-Million-Dollar-Frage. Ich habe es schon angedeutet: Sozialdemokraten müssen aufpassen, dass sie sich nicht auf Themen konzentrieren, die nur für ihr eigenes gebildetes, urbanes Publikum relevant sind. Themen wie Gaza oder auch der Klimawandel dominieren zwar unter Akademikern, sind aber nicht die Hauptsorgen der einfachen Bürger.
Migration hingegen bleibt eines der zentralen Themen. Ich war letzte Woche in Deutschland und konnte Friedrich Merz’ Bemerkungen über das „Stadtbild“ besser nachvollziehen. In manchen Gegenden hat man tatsächlich das Gefühl, in einem Land des Nahen Ostens zu leben. Wenn die Linke diese Wahrnehmungen ignoriert oder es nicht schafft, in ruhiger und konstruktiver Weise darauf einzugehen, dann wird die extreme Rechte weiter wachsen.
D66 hat gezeigt, dass man sich anpassen kann, ohne seine Grundsätze zu verraten. Rob Jetten, der als Klimaminister so etwas wie der „Habeck der Niederlande“ war, hat erkannt, dass er seine klimapolitische Radikalität zurücknehmen und beim Thema Migration eine ausgewogenere Linie finden musste. Die Sozialdemokraten und die Grünen haben diese Anpassung nicht vollzogen. Sie blieben zu starr und zu radikal für die politische Mitte – und haben dafür den Preis gezahlt.




