Die Fragen stellten Kirsten Schönefeld und Nikolaos Gavalakis.

Serbien unterhält einerseits traditionell enge Beziehungen zu Russland. Zugleich ist das Land auch EU-Beitrittskandidat. Wird sich Belgrad bald entscheiden müssen, welchen Weg es einschlägt?

­Die traditionell guten Be­ziehungen zu Russland wurden in den vergangenen Jahrzehnten hauptsächlich von Slobodan Milošević gepflegt. An dessen Politik knüpft der amtierende serbische Präsident Aleksandar Vučić nahtlos an. Serbien hat das Unglück, dass diese Art von Politiker fast durchweg seit 1990 regieren. Dazwischen hat es nur eine kurze Pause von sieben Jahren gegeben, in der die Demokratische Partei Gelegenheit hatte, Serbien in Richtung Europa zu führen, wo es hingehört. Die starke Propaganda hat es jedoch geschafft, ein Bild von Serbien als Land zu prägen, das Russland widerspruchslos zugetan ist. Doch die Wahrheit dabei ist, dass die nationalistischen Regierungen in Serbien schlicht kompatible Interessen mit dem nationalistischen Regime von Vladimir Putin haben.

Wenn serbische Staatsbürger nach einem besseren Ort zum Leben suchen, dann ziehen sie in den Westen – in die USA, nach Deutschland, Kanada, Skandinavien – und nicht nach Russland. Die jungen Leute aus Serbien studieren an Universitäten im Westen, sie hören Musik von den dortigen Gruppen und kaufen Waren mit dortigen Markenzeichen. Serbien näher an Russland heranzuführen, kann kein erfolgreiches politisches Projekt sein, zumal es den augenscheinlichen Emotionen der Bürger absolut widerspricht. Die Annäherung an Russland ist destruktiv genug, um Serbiens Weg in die EU zu sabotieren. Dabei geht es rein um das Eigeninteresse von Aleksandar Vučić. Ich bitte unsere westlichen Partner, das zu verstehen. Serbien muss sich entscheiden, doch die autokratische Regierungsform lässt das nicht zu. Das Land ist eine Geisel von kriminell-nationalistischen Strukturen. Serbien ist ein entführtes Land, und es ist wie jede Geisel auf Hilfe und Solidarität angewiesen.

Im Rahmen des sogenannten „Berliner Prozesses“ tauschen sich sechs sehr verschiedene Länder des Westlichen Balkans über regionale Zusammenarbeit und die Annäherung an die EU aus – bis dato mit ziemlich bescheidenem Erfolg. Wie vielversprechend ist dieses Format und wie beurteilen Sie die Ergebnisse des vergangenen Gipfeltreffens?

Wir brauchen mehr als das, was bislang erreicht wurde. Die Priorität ist, dass Serbien nicht von dem Weg der Integration in die Europäische Union abkommt. In den letzten zehn Jahren wurde jedoch nichts erreicht. Soweit der Berliner Prozess eine aktivere Beteiligung der deutschen Regierung und eine Unterstützung für Serbien bei der Erfüllung von Standards auf dem Weg hin zu einer EU-Mitgliedschaft bedeutet, dann ist das hilfreich. Was jedoch keinen Sinn ergibt, ist die Politik der „Stabilokratie“, die die einstige Bundeskanzlerin Angela Merkel für Serbien vorgesehen hatte, und zwar mit Hilfe eines ihrer Lieblingsautokraten aus Osteuropa, Aleksandar Vučić. Der Grund, warum die Menschen in Serbien den Kampf um die EU-Integration aufgeben, ist die Unterstützung durch europäische Amtsträger eines Mannes, der Serbien in die finstere Ära von Slobodan Milošević zurückversetzt hat. Wir erwarten von Deutschland Unterstützung bei der Anstrengung, die Demokratie zurück nach Serbien zu bringen. Diese ist notwendig für die zukünftige Entwicklung, angefangen mit einer Lösung für das Kosovo bis hin zur europäischen Integration.

In den letzten zehn Jahren wurde nichts erreicht.

Die größte Ungewissheit, vor der die Öffentlichkeit in den Ländern des Westlichen Balkans steht, ist die Frage, welche regionale Initiative die maßgebliche ist. Das zweite Dilemma betrifft die Frage, ob die bestehenden regionalen Initiativen einen Ersatz für eine EU-Mitgliedschaft darstellen. Die Bürger in den Ländern des Westlichen Balkans sind auf eine klare Botschaft angewiesen, dass die EU die Länder des Westlichen Balkans in der EU haben will. Drittens, damit der Berliner Prozess zu entsprechenden Ergebnissen führen kann, sollte der Zusammenhang zwischen diesem und der Open-Balkan-Initiative erläutert werden. Der Berliner Prozess ist eindeutig mit dem Vorgang der europäischen Integration verknüpft, und umfasst sämtliche Beitrittskandidaten, was bei der Open-Balkan-Initiative nicht der Fall ist. Eine regionale Zusammenarbeit zwischen den Ländern des Westlichen Balkans ist notwendig, doch sie muss auch ein klares Ziel, eine Struktur und eine im Voraus festgelegte Dynamik haben. Anhand dessen, was bislang zu sehen war, sind bei der Open-Balkan-Initiative nur drei Länder miteinander verbunden, und diese Initiative ist nicht eindeutig mit dem Prozess der europäischen Integration verbunden.

Serbien sah sich wegen seiner Visapolitik und dem Umstand, dass immer mehr Flüchtlinge über die Balkanroute in die EU gelangen, starker Kritik ausgesetzt. Wie beurteilen Sie die Situation sowie die Lage der Flüchtlinge in Serbien?

Serbien hat sich sehr kooperativ gezeigt, als es um den Weitertransport von Flüchtlingen durch das eigene Staatsgebiet ging. Das Problem liegt darin, dass es die Frage nach Asyl beziehungsweise nach Unterbringung eines Teils der Flüchtlinge und Migranten vollkommen ignoriert hat. Dieses Regime wird auch damit in Erinnerung bleiben, dass es im Krieg in den Neunzigern selbst gegenüber seinen eigenen Landsleuten gastunfreundlich gewesen ist, die sich aus den kriegserfassten Gebieten zurückgezogen hatten. Die Nationalisten hatten diese Leute zuerst in diesen Krieg hineingezogen, und als dann der Krieg verloren ging, wurden 600 000 Menschen sich selbst überlassen. Serbien hat außerdem gegen Bestimmungen des Völkerrechts verstoßen, als es türkische Staatsbürger ausgeliefert hat, die auf der Flucht vor dem Erdogan-Regime Asyl beantragt hatten. Aus dieser Perspektive betrachtet lässt sich auch die Unglaubwürdigkeit dieser Regierung verstehen, und daher stammen auch die Probleme mit den Migranten, derentwegen Serbien als Schwachstelle in Europa bezeichnet wurde.

Sie kritisieren bereits seit Längerem den autoritären Regierungsstil des langjährigen Präsidenten Aleksandar Vučić. Wo sehen Sie die größten Probleme und wo sehen Sie Veränderungsbedarf?

Es handelt sich nicht nur um einen autoritären Regierungsstil, sondern um eine lupenreine Autokratie. Das größte Problem liegt darin, dass sämtliche Institutionen im System zum Schweigen gebracht wurden. Zudem wurde ein paralleles System an Institutionen jenseits des Staates geschaffen, das unter der Kontrolle von Spitzenleuten der Serbischen Fortschrittspartei von Vučić steht. Es gibt weder freie Medien noch eine unabhängige Gerichtsbarkeit. Wir brauchen Gerichte, die die Bürger vor der Obrigkeit in Schutz nehmen, und nicht umgekehrt.

Aleksandar Vučić muss abgelöst werden. Damit es dazu kommt, müssen freie und faire Wahlen ermöglicht werden und der Staat entkriminalisiert werden. In Serbien geht es nicht um die Ablösung einer politischen Garnitur, sondern einer kriminellen Struktur, die sich nebenbei noch mit Politik befasst. Wir brauchen eine Vision, wie die Veränderungen aussehen sollten und wohin sie führen. Das Ergebnis muss Folgendes sein: Serbien als Mitglied der Europäischen Union, das seine Mängel überwindet und seine eigenen Qualitäten mit einbringt. Man sollte sich mit den Partnern aus dem Westen an einen Tisch setzen und einen zehnjährigen Plan, nicht nur für Serbien, sondern für die gesamte Region aufstellen. Ich sage bewusst zehn Jahre, denn hier sind die Probleme sehr rasch zu lösen, wenn der entsprechende Wille vorliegt. Die Menschen vom Balkan werden die Vorteile der Europäischen Union schnell zu spüren bekommen und Europa kann rasch in den Genuss der Vorteile eines konsolidierten Balkans gelangen.