In den letzten Monaten hat der Territorialkonflikt um die Spratly- und Paracel-Inseln, winzige Inseln und Riffe im Südchinesischen Meer, wöchentlich für Schlagzeilen gesorgt. Inzwischen ist selbst das zuvor mangels eigener Gebietsansprüche neutrale Indonesien durch arrogantes Verhalten Chinas in den Konflikt hineingezogen worden. Ein Appell der Außenminister der G-7-Staaten an alle Beteiligten, von Provokationen Abstand zu nehmen, wurde von China schroff als Einmischung in innere Angelegenheiten zurückgewiesen. Die Regierung in Peking bestellte gar die Gesandten der Industrieländer ein, um ihnen die Leviten zu lesen.

Die Volksrepublik China hat es geschafft, mit ihrem inzwischen als aggressiv empfundenen Vordringen in der Region alle andere Beteiligten gegen sich aufzubringen – mit Ausnahme Taiwans. Dessen scheidender Präsident Ma Ying-jeou, der früher für sich (eine von Peking abgelehnte) Vermittlerrolle anstrebte, schlug sich inzwischen auf Pekings Seite.

Die Philippinen und Vietnam haben derweil die verteidigungspolitische Nähe der USA gesucht. Das kann nicht in Chinas Interesse sein. Doch während Peking früher mit dem Beharren auf nur bilateralen Gesprächen mit seinen Nachbarn eine Politik des „Teile und Herrsche“ praktizierte und versuchte, sie gegeneinander auszuspielen, hatte es in den letzten Monaten keinerlei Skrupel mehr, ihnen gemeinsam vor den Kopf zu stoßen.

 

Peking verliert die Scheu vor außenpolitischen Konflikten

Der Konflikt im Südchinesischen Meer offenbart eine Neuausrichtung von Chinas Außenpolitik. Die einst von Deng Xiaoping formulierte Politik, sich auf die eigene wirtschaftliche Entwicklung zu konzentrieren und sich deshalb aus potenziellen militärischen Konflikten rauszuhalten, ist passé. Unter Xi Jingping muss jetzt sogar das erreichte wirtschaftliche Entwicklungsniveau dafür herhalten, es militärstrategisch abzusichern: Durch den Zugang zu Rohstoffen und Fischgründen, die Kontrolle der Handelswege und die Kontrolle des eigenen „Hinterhofs“, als den Peking das Südchinesische Meer versteht. Während China, von Ausnahmen abgesehen, früher in dem Konflikt vorsichtig auftrat, ist es risikobereiter geworden und zunehmend gewillt, anderen seine Position aufzudrücken und sie damit direkt herauszufordern.

Die Zuspitzung des Konflikts ist eine Folge von Chinas wirtschaftlichem Aufstieg.

Die Zuspitzung des Konflikts ist eine Folge von Chinas wirtschaftlichem Aufstieg und den daraus entstandenen neuen außen- und militärpolitischen Möglichkeiten. Dabei geht es natürlich auch um legitime Sicherheitsinteressen der Volksrepublik, aber eben auch um eine angestrebte Dominanz. Diese berührt dann ihrerseits legitime Sicherheitsinteressen der betroffenen Nachbarn. In Peking zu glauben, Letztere künftig ignorieren zu können, dürfte auch auf Machtkalküle der chinesischen Innenpolitik zurückzuführen sein.

Geht es im Kern des Konflikts um Chinas Aufstieg und die künftige Rolle der Volksrepublik im regionalen und globalen Machtgefüge, so ähneln dabei Pekings Interessenslagen, Argumentationsmuster und Verhaltensweisen denen Washingtons vor knapp 200 Jahren.

1825 formulierte der damalige US-Präsident James Monroe die nach ihm benannte Monroe-Doktrin. Sie wird unter dem Motto „Amerika den Amerikanern“ zusammengefasst und zielte – vereinfacht gesagt – vor allem darauf, die europäischen Kolonialmächte aus der westlichen Hemisphäre zu drängen und dort Washingtons Einfluss zu vergrößern. In der Folge ebnete die Doktrin der regionalen Dominanz und zunehmend imperialistischen Politik der Vereinigten Staaten den Weg.

Lateinamerika und die Karibik wurden zum US-Hinterhof – ein Szenario, was auch für das Südchinesische Meer und China zutreffen könnte. Zumindest war dies nach chinesischer Geschichtsinterpretation, auf die Peking seine Ansprüche auf die Region ableitet, bereits früher der Fall.

 

Hinterhofpolitik – gestern und heute

In ihrem „Hinterhof“ konnte sich ohne Zustimmung der USA bald keine Regierung mehr an der Macht halten oder auch nicht gegen amerikanische Interessen verstoßen. Bis heute sehen die USA ihre Sicherheitsinteressen berührt, wenn eine andere Großmacht in der Region aktiv wird. Bei der Kuba-Krise fühlten sich die USA so existenziell bedroht, dass sie zum Atomkrieg bereit waren.

Bei Washingtons Sicht auf China lösen schon kommerzielle Aktivitäten Bedrohungsszenarien aus, wie etwa im Jahr 1997, als der Hongkonger Mischkonzern Hutchison Whampoa des Peking-freundlichen Tycoons Li Ka-shing das Management von zwei der vier Häfen am Panama-Kanal übernahm. In Washington witterten manche schon Pekings Griff nach dem Kanal, der im Jahr 2000 erstmals unter Panamas Hoheit kam.

Ende des 19. Jahrhunderts führte der Konflikt um Kuba mit der im Niedergang befindlichen Kolonialmacht zum Spanisch-Amerikanischen Krieg. Das Ergebnis des in den USA zynisch als „splendid little war“ bezeichneten Konflikts war die Umwandlung Kubas in einen US-Vasallenstaat. Der Krieg brachte den USA unter anderem mit den Philippinen eine asiatische Kolonie vor der Haustür Chinas ein. Auf das Reich der Mitte hatten es um 1900 zahlreiche Kolonialmächte abgesehen, was beim Boxer-Aufstand einen Wettlauf zu seiner Niederschlagung auslöste.

Chinas Erfahrungen mit dem westlichen Kolonialismus, der das Land und seine Souveränität stark schwächten, sind traumatisch. Zugleich wird diese Zeit als Lektion inszeniert, aus der allein die herrschende Kommunistische Partei die richtigen Schlüsse gezogen habe und nur sie mutig für die Einigkeit eines wiedererstarkenden Chinas eintrete

Bei der Mythenbildung und Pflege seines Nationalismus biegt sich Peking historische Fakten zurecht.

Bei der Mythenbildung und Pflege seines Nationalismus biegt sich Peking historische Fakten zurecht wie etwa die, dass China noch nie ein Nachbarland angegriffen habe. Vietnamesen verweisen dagegen auf Jahrhunderte des Abwehrkampfs gegen Invasionsversuche aus dem Norden. Aus vietnamesischer Sicht ist der schreckliche Krieg der Amerikaner in ihrem Land eher eine kurzzeitige historische Dummheit, während die Abwehr des übermächtigen und in der Bevölkerung weitaus verhassteren Chinas als eigentliche Überlebensfrage der vietnamesischen Nation gewertet wird. 

 

Peking lehnt Verrechtlichung des Konflikts ab

Wenn Chinas Regierung heute fordert, Asiaten sollten den Territorialkonflikt im Südchinesischen Meer allein lösen, da er nur sie etwas angehe, erinnert das nicht nur an das „Amerika den Amerikanern“ der Monroe-Doktrin, sondern weckt bei den kleineren Nationen die Befürchtung, dem übermächtigen Nachbarn China allein ausgeliefert zu sein.

Um seine Nachbarn nicht zu verprellen, müsste China stärker auf sie eingehen und etwa bereit sein, den von den Philippinen angerufenen Ständigen Schiedshof in Den Haag für den Konflikt zu akzeptieren. Eine Verrechtlichung des Konflikts böte kleineren Nationen Schutz vor dem übermächtigen China. Doch wie die USA vielfach bis heute ist auch China nicht bereit, sich völkerrechtlich stärker binden zu lassen.

Der Volksrepublik geht es darum, der Pax Americana eine Pax Sinica entgegenzusetzen.

Der Volksrepublik geht es darum, zur Absicherung des eigenen Machtzuwachses das US-Militär aus der Region zu drängen und der Pax Americana eine Pax Sinica entgegenzusetzen. Folglich orientiert sich China vor allem an seinem strategischen Rivalen USA. Dieser erkennt selbst kaum internationale Schiedsgerichte an und ist seit 1945 in Asien weitaus brachialer vorgegangen als China.

Zweifellos ist es eine Ironie der Geschichte, dass Staaten wie Vietnam, die jahrelang unter US-Flächenbombardements gelitten haben, sich Washington inzwischen wieder an den Hals werfen. Gern präsentiert sich Washington jetzt als Friedensbewahrer. Dabei handeln die USA weder selbstlos noch sind ihre Appelle aufgrund der eigenen Geschichte besonders glaubwürdig. Während China vorerst die Dominanz in seinem selbst definierten Hinterhof sucht, geht es aus amerikanischer Sicht darum, weiter tonangebend in Asien zu sein und China nur so weit in die Weltgemeinschaft zu integrieren, dass sich kein Amerikaner chinesischen Regeln unterwerfen muss.

Länder wie Vietnam oder die Philippinen sind in diesem Konflikt der Großmächte vor allem Statisten. Sie haben nur die Wahl zwischen zwei Übeln und können dabei schnell zu Bauernopfern werden.