Die Saat ist aufgegangen. Ein professioneller Mörder hat Boris Nemcov im tiefen Schatten der Kremlmauern erschossen. Mit ihm sollte das andere Russland hingerichtet werden: Das Russland der Öffnung, der Demokratie, der Liberalität. Wer den Ermordeten hat kennen lernen dürfen, dem wird ein Streiter für europäische Werte in Erinnerung bleiben. Gestochen und auch hart konnte er, analytisch begabt, die Krankheiten der russischen Übergänge bloß legen: Von der kommunistischen Diktatur bis zur immer mehr zur Farce verkommenden „gelenkten“ Demokratie. Er kannte die Machtgier des russischen Präsidenten. Korruption und Verachtung, die wahren Insignien der russischen Präsidentschaft, erzeugen seit der zweiten Amtseinführung Putins mehr und mehr ein Klima der Angst. Ob befohlen oder vorauseilend befolgt: diese Exekution soll Schrecken verbreiten.

Eine Blutspur politischer Morde begleitet Putins Weg als Präsident der Russischen Föderation. Sie begann mit Sergej Yushenko, einem aufrechten Sozialliberalen, der klug und entschlossen einen Weg der inneren Reform in der Duma gehen wollte. Als früherer Militär kannte er die Gefahr, die aus dem Krieg in Tschetschenien für die innere Entwicklung Russlands drohte. Sergej wurde im April 2003 erschossen. Kaum ein Jahr verging seither, dass nicht ein unbequemer Gegner Putins eines nicht natürlichen Todes starb. Welcher schwarzen Logik folgt diese Gewalt? Außerhalb jeder Verschwörungstheorie scheint klar, welches Ergebnis die eiskalt durchgeführte Operation am Herzen des russischen politischen Systems haben soll – Zensur durch Töten. Kritische Journalisten, Politiker, die sich dem Regime Putins nicht unterwerden wollen, zivilgesellschaftliche Gruppen – sie sollen eingeschüchtert werden.

Kaum ein Jahr verging seither, dass nicht ein unbequemer Gegner Putins eines nicht natürlichen Todes starb.

Die Feinde im Innern sind gezeichnet. Wer sich gegen die Herrschaft der gelenkten Demokratie wendet und das von der Verfassung verbürgte Recht auf das freie Wort wahrnimmt, wird bedroht. Gegenüber der Agentur Sobesednik sagte Boris Nemcov am 10. Februar 2015: „Ich fürchte, Putin wird mich töten.“ Er war davon überzeugt, dass Putin den Krieg in der Ukraine frei gegeben hatte. Die Annexion der Krim schien ihm eine Blaupause der Aggression im Osten der Ukraine. Und er sprach offen aus, was für ihn mehr war als Vermutungen. Er wollte ein europäisches Russland, das sich befreien sollte von den Schrecken der Vergangenheit. Weil er zu erkennen glaubte, dass Putin Russland in den Ruin führt, wollte er dem sein Bild einer alternativen russischen Zukunft entgegen setzen. Ihm war wohl bewusst, wie schwer es ist, gegen den Rausch des Nationalismus die Stärke der zivilisatorischen Vernunft geltend zu machen. Mit der Klarheit seines Denkens, der Offenheit seines Charakters und der Bestimmtheit seines Mutes hat er ein Zeichen gesetzt.

Am 1. März 2015 wollte Boris Nemcov für den Beginn eines politischen Frühlings in Moskau demonstrieren. Viele Zehntausende Moskowiter demonstrierten am Sonntag für Boris Nemcov, der ihnen eine Hoffnung war. Der Mörder - wer auch immer dahinter steckte - wollte mit seinen Schüssen die Sehnsucht nach einem anderen Russland töten. Dieser Mord wird nicht in der Verzweiflung enden. Die europäische Zukunft Russlands kann nicht ermordet werden.