Kein sportliches Großereignis hat je in der öffentlichen Wahrnehmung eine solche Achterbahnkarriere hingelegt wie die Fußball-WM in Brasilien. Vom Ausweis neuer brasilianischer Leistungskraft sank sie zwischenzeitlich herab zum Symbol einer fehlgeleiteten Gigantomanie und endemischer Korruption - um nun abermals Auferstehung zu feiern als das, was eine WM sein sollte: ein hochspannendes Turnier voller packender Spiele, in denen vor allem die Lateinamerikaner mit ihrem temperamentvollen, manchmal zu tragischen Ausbrüchen neigenden Einsatz und der Emotionalität ihres Publikums der Welt ein Beispiel für Hingabe und Begeisterungsfähigkeit geben.

Doch bei aller Fußballseligkeit mehren sich die Zeichen, dass der WM-Zirkus nach 2014 nie mehr so sein kann wie vorher, sich wird neu erfinden müssen, um nicht an sich selbst zu ersticken. Und das hat die Welt Brasilien zu verdanken.

Als Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva 2006 verkündete, er habe die Zusage für Brasilien als Austragungsort ergattert, wurde er als Held gefeiert. Es schien die Krönung einer unerhörten Erfolgsgeschichte zu sein, gekennzeichnet von Wachstumsraten um die sechs Prozent, politischer Konsolidierung, klarer Vormachtstellung in Lateinamerika, einer von Protektionismus gestärkten Industrie, einen durch Sozialprogramme wachsenden Mittelstand und sinkender Armut. Brasilien fand gigantische Mengen Öl vor der Küste und wurde zum Magneten für Arbeitsmigranten aus den Nachbarländern und sogar aus den europäischen Krisenstaaten Spanien und Portugal, „Brazil takes off“, Brasilien hebt ab, titelte der britische Economist im Boomjahr 2009 und bildete die Erlöserstatue des Cristo Redentor in Rio als abhebende Mondrakete ab. Noch kurz vor Anpfiff tönte Lulas Nachfolgerin und politische Ziehtochter Dilma Rousseff: „Wir sind ein Siegerland.“

 

Zweifel am „Siegerland Brasilien“?

Breite Bevölkerungsschichten hatten zu dieser Zeit allerdings bereits heftige Zweifel an dieser Version angemeldet. Und hatten sie nicht recht? Das Wachstum Brasiliens beträgt inzwischen nur noch wenig mehr als ein Prozent, auf sechs Prozent geklettert ist dafür die Inflation, die alten Gespenster der lateinamerikanischen Instabilität rasseln an ihren Ketten. Die fehlende Nachhaltigkeit in der Wirtschaftsentwicklung macht sich besonders dann bemerkbar, wenn – wie jetzt – die Rohstoffpreise flattern. Die gigantische Bautätigkeit vor der WM, der Run auf Aufträge, hat die ohnehin endemische Korruption noch verstärkt. Auf die Natur wurde so wenig Rücksicht genommen wie auf die Bedürfnisse der breiten Bevölkerung, die tagtäglich unter der miserablen Infrastruktur leidet. Kurz vor dem Eröffnungsspiel sammelte Brasilien nur noch schlechte Nachrichten: Gewalt, Proteste, Misswirtschaft – die alten Klischees von Lateinamerika als Hort von Krisen und Katastrophen schienen all jenen Recht zu geben, die der Kunde von der Konsolidierung des alten Chaoskontinents ohnehin nie getraut hatten. Ist die brasilianische Rakete abgeschmiert?

Brasiliens Höhenflug dauert an, nur die Geschwindigkeit ist langsamer geworden, was im Zweifelsfall gesünder ist. 

Keineswegs. Brasiliens Höhenflug dauert an, nur die Geschwindigkeit ist langsamer geworden, was im Zweifelsfall gesünder ist. Die Proteste seit dem Confed-Cup 2013, dem Vorbereitungsturnier für die WM, waren im Kern die logische Folge einer Positiventwicklung, was nur auf den ersten Blick paradox anmutet. Die Erschütterungen haben auf eindrucksvolle Weise klargemacht, dass eine rasant wachsende Zahl Brasilianer sich nicht mehr mit Spielen abspeisen lässt, wenn es am Brot und anderen elementaren Teilen der Grundversorgung wie Gesundheit und Bildung fehlt. Früher durften in Lateinamerika sogar Diktatoren sicher sein, dass Fußballsiege noch jedes Aufbegehren im Volk besänftigen würden. Doch die Zeiten haben sich geändert. Brasilien hat zwischen der Vergabe der Spiele 2006 und ihrer Ausführung 2014 eine rasante gesellschaftliche Entwicklung hingelegt, die alte Gewissheiten hinweggefegt hat.

Es war die unter dem Strich erfolgreiche Wirtschaftspolitik von Lula und Rousseff, Wachstum gepaart mit Umverteilung, die breite Schichten überhaupt erst in den Stand versetzt hat, über ihr Schicksal nachzudenken und sich die Frage zu stellen, ob schrankenloses Wachstum und Konsum wirklich der einzig mögliche Weg zu mehr Lebensqualität sind. Ihr Protest gegen die Auswüchse ist Ausdruck eines unumkehrbaren Reifeprozesses. Dass die öffentlichen Demonstrationen nach Beginn der WM erstmal abgenommen haben, ist ebenfalls nur folgerichtig. Die Macht der Straße erschöpft sich irgendwann, es gilt, andere Formen zivilgesellschaftlichen Aufbegehrens und politischen Engagements zu entwickeln. Mitten in diesem Prozess befindet sich Brasilien gerade. Er ist spannend, unberechenbar, bewusstseinsverändernd und hat einen offenen Ausgang.

 

Brasiliens Kampf um das gute Leben

Angeführt wird die Debatte von einem neuen, noch sehr instabilen Mittelstand, hochgebildet, weitgereist und international vernetzt, doch mit einem Fuß nach wie vor in der Prekarität. Diese Menschen haben viel zu verlieren, sie wissen, was es heißt, für den minimalen Lebensunterhalt kämpfen zu müssen; deshalb fordern sie anders als die behütet aufgewachsenen 68er der Industrieländer keine Utopien. Sie wollen keine Revolution, sondern weniger Korruption und mehr Partizipation. Sie wollen nicht mehr nur überleben, sondern gut leben – wozu eine lebenswerte Umgebung gehört. Ihr Aufstand richtet sich letztlich gegen die Clanherrschaft der alten Eliten, die den Aufschwung durch ihre gut geölten Machtmaschinerien zwar möglich gemacht, dabei aber Werte wie demokratische Teilnahme und Nachhaltigkeit komplett vernachlässigt haben.

Doch nicht nur der Mittelstand ist zu einem neuen Bewusstsein gelangt. Auch in den Favelas haben sich neue Formen gesellschaftlicher Teilhabe herausgebildet. Favelas sind ja nicht nur Trutzburgen von Drogendealern, sondern hochvernetzte soziale Gebilde mit enorm dynamischen wirtschaftlichen und sozialen Verflechtungen. Diese werden etwa über die digitalen Kanäle sichtbar, über Nachrichtenportale wie Viva Rocinha, die das das Bild konfliktiver, aber auch kreativer Gebiete nachzeichnen, denen ein noch weithin ungenutztes Fortschrittspotenzial innewohnt.

Jeder Brasilien-Besucher, der sich die Zeit nimmt, kann das spüren; nicht umsonst sind geführte Busausflüge in die Rocinha und andere Favelas inzwischen unverzichtbarer Bestandteil jedes sich als cool verstehenden Hipster-Trips. In Zeiten, in denen die Favela – in ihren unterschiedlichen regionalen Ausprägungen – längst die weltweit verbreitetste urbane Lebensform darstellt, könnten die brasilianische Selbstreflexion und Selbstorganisation sogar zum Vorbild für die Milliarden Menschen in anderen Kontinenten werden, die in vergleichbaren Verhältnissen leben.

Früher durften in Lateinamerika sogar Diktatoren sicher sein, dass Fußballsiege jedes Aufbegehren besänftigen würden. Doch die Zeiten haben sich geändert. 

Brasiliens Präsidentin Rousseff wirkte wie die gesamte politische Klasse anfangs völlig überfahren von dieser sozialen Bewusstseinswerdung. Man muss Rousseff zu Gute halten, dass sie sich schnell gefangen hat. Sie legte ein eilig zusammengeschustertes Reformprogramm gegen Korruption und Misswirtschaft vor, das jedoch von den Vertretern der alten Garden im Parlament abgeschmettert wurde. Dahinter steckten zwei Gründe: Einmal wollen die postkolonialen Eliten nichts hinnehmen, was ihre Privilegien ins Wanken bringen könnte. Zum anderen hat die konservative Opposition die Gelegenheit erkannt, Schwachpunkte bei der zuvor unschlagbar erscheinenden Dilma Rousseff vor der Wahl im Oktober bloßzulegen.

Der konservative Senator Aecio Neves ist als Präsidentschaftskandidat ein sehr viel stärkerer Gegner für Rousseff, als es bei der letzten Wahl 2010 der blasse José Serra gewesen war, der nur mit einer leicht liberalisierten Version der Lula’schen Tropen-Sozialdemokratie aufwartete. Neves will den Staat sehr viel weiter zurückdrängen, damit kann er bei Unternehmern, Eliten und Aufsteigern punkten, die sich – berechtigt oder unberechtigt – vor dem Wiederabstieg sicher fühlen.

Das alles würde womöglich nicht reichen für eine Niederlage, wenn Rousseff nicht Konkurrenz von links erwachsen wäre, die sie Stimmen kosten wird, vor allem bei den Anhängern der Protestbewegung. Das ist allen voran der Sozialist Eduardo Campos, der in einer vielversprechenden Formel zusammen mit der früheren Umweltministerin Marina Silva antritt, einer Dissidentin des Lula-Lagers. Entgegen ihrem Namen präsentiert sich die sozialistische Partei business-freundlich, sie will die Staatsausgaben reduzieren, allerdings die wichtigen Sozialprogramme beibehalten. Silva erhielt als Kandidatin der Grünen schon 2010 knapp 20 Prozent. Die Partei hat sie inzwischen verlassen, aber bei der ehemaligen Kautschuksammlerin bündelt sich noch immer der Unmut über den hohen ökologischen Preis, den Brasilien für sein Wachstum zahlt. Daneben gibt es den eigentlichen grünen Kandidaten der Partido Verde, Eduardo Jorge, dem jedoch nur wenige Prozente zugetraut werden. Das Bild rundet der Prediger Everaldo Pereira ab, der viele Stimmen bei den wachsenden evangelikalen Bewegungen sammeln dürfte.

Ob die Opposition allerdings mit einer Kampagne, die das derzeitige Brasilien in ein schlechtes Licht rückt, triumphieren wird, ist die Frage. Denn trotz aller Unzufriedenheit – eines steht so fest wie der Zuckerhut: Brasilianer wollen stolz sein auf Brasilien. Und die Brasilianer können stolz sein, unabhängig vom sportlichen Erfolg: darauf, erstmals einem weltweit zunehmenden Überdruss an Megalomanie bei Sportereignissen und am postkolonialen Betragen der Fifa wirklich hörbar Stimme verliehen zu haben. Und zum zweiten darauf, trotzdem ein WM-Turnier hingekriegt zu haben, das vom sportlichen Spannungsfaktor her die Welt begeistert.