Lange Zeit hatte Alicia Bárcena die überaus angenehme und seltene Aufgabe, fortwährend gute Nachrichten zu verbreiten. Alljährlich trat die Chefin der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika, der Cepal, vor die Presse, um immer höhere Wachstumszahlen zu verkünden. Sätze wie die folgenden gehörten angesichts der Aufwärtsentwicklung folglich zum Standardrepertoire lateinamerikanischer Politiker und Wirtschaftsexperten: „Dieses Jahrzehnt könnte das Jahrzehnt Lateinamerikas werden“, hieß es; oder: „Lateinamerika ist nicht mehr das Problem, sondern Teil der Lösung.“ Oft gehört auch: „Lateinamerika steckt Krisen besser weg als andere Gebiete dieser Welt.“

Und hatten sie nicht Recht, die Propagandisten eines in der lateinamerikanischen Geschichte unerhörten Aufschwungs? Seit der Jahrtausendwende hatte der Halbkontinent mehr als eine Dekade lang eine atemberaubende Entwicklung hingelegt: Stabile Wachstumszahlen zwischen vier und zehn Prozent gehörten zur Normalität, die Inflation schien gebannt zu sein, der Mittelstand wuchs, die Armut sank, die Demokratien stabilisierten sich. Ja, der einstige Krisenkontinent schien dem Rest der Welt sogar eine Lektion zu erteilen.

 

Abflauendes Wachstum und steigende Proteste

Inzwischen hat sich Ernüchterung breitgemacht. Dieses Jahr konnte Alicia Bárcena nur noch mit einer Prognose von 2,2 Prozent Wachstum aufwarten. Und das auch nur, weil einige Länder nach wie vor voranpreschen. Interessanterweise sind das nicht die großen, sondern eher Nebenakteure wie Panama, Bolivien oder Ecuador. Argentinien hingegen verharrt bei Nullwachstum. Ende Juli schienen sogar die Gespenster der Vergangenheit an ihren Ketten zu rasseln, als dem Land nach einem verlorenen Streit mit US-Hedgefonds um Altschulden von den Ratingagenturen Zahlungsunfähigkeit bescheinigt wurde.

Und selbst der einstige Motor Brasilien ist ins Stottern gekommen. 1,4 Prozent wird dieses Jahr das Wachstum betragen, das ist nichts für einen Giganten, der mehr als die Hälfte der Wirtschaftsleistung des Halbkontinents erbringt und eine Führungs- und Vorbildrolle für sich beansprucht. Ein wichtiger Indikator für die Verunsicherung der Konsumenten ist, dass der Autokauf in Brasilien im August um 17 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat eingebrochen ist.

Was ist los mit Lateinamerika? Ist die kurze Blüte schon zu Ende? In der Tat hat Lateinamerika viele seiner Hausaufgaben nicht oder nicht schnell genug gemacht. Es besteht die Gefahr, dass die Effekte des Rohstoffbooms verpuffen, ohne dass sich an den althergebrachten Problemen nachhaltig etwas ändert. Noch immer ist nirgendwo auf der Welt der Reichtum so ungleich verteilt. Der Mittelstand ist zwar fast überall stärker geworden, klagt jedoch über extreme Vulnerabilität. Den meisten Menschen steht nach wie vor nur der Weg nach unten offen.

Die Proteste vor der Fußball-WM in Brasilien haben darüber hinaus gezeigt, dass gerade den Kindern des neuen Mittelstands schieres Wachstum als Entwicklungsziel nicht mehr ausreicht. Sie wollen nicht nur überleben, sie wollen gut leben, und dazu gehört Lebensqualität, eine funktionierende Gesundheitsversorgung, transparente Bildung, eine intakte Umwelt, funktionierender Nahverkehr. Sie bemängeln, dass ihre Politiker auf diese Forderungen keine Antwort haben.

Paradoxerweise sind gerade die Proteste jedoch mitnichten ein Anzeichen dafür, dass Lateinamerika erneut in eine existenzielle Krise rutscht. Im Gegenteil: Eigentlich ist es ein Zeichen demokratischer Reife, wenn die Bevölkerung eines Landes sich nicht mehr mit Brot und Spielen abspeisen lässt. Es ist eine Form von Reife, die auf mittlere Sicht auch eine nachhaltigere Wirtschaftsentwicklung hervorbringen könnte, die nicht mehr nur auf Rohstoffverkauf fußt.

Ja, man kann sagen: Lateinamerika und die Lateinamerikaner haben so viel erreicht, dass sie nun eben mit anderen, strengeren Parametern gemessen werden.

Das Abflauen des Wachstums kann womöglich sogar als ein Zeichen zunehmender Normalität gewertet werden. Ein andauerndes Wachstum von um die zehn Prozent wäre ungesund, auf jede Hausse muss eine Baisse folgen, das sind Zyklen der Wirtschaft. Ebenso wie es zu einer Demokratie dazugehört, dass auch erfolgreiche Regierungen in Krisen rutschen, was dazu führt, dass sie abgewählt werden und andere an die Macht kommen. So erlebt Lateinamerika gerade eine nachhaltige Erschütterung der Gewissheiten einer ganzen Dekade, deren Paten wie Lula da Silva, Dilma Rousseff oder Cristina Fernández de Kirchner massiv in Frage gestellt werden. Nicht in Frage gestellt wird hingegen, dass Demokratie und eine staatlich kontrollierte Marktwirtschaft der richtige Weg sind.

Ja, man kann sagen: Lateinamerika und die Lateinamerikaner haben so viel erreicht, dass sie nun eben mit anderen, strengeren Parametern gemessen werden. Früher galt Korruption in Brasilien als endemisch, man nahm sie hin und arrangierte sich, heute wird sie lautstark angeprangert. Auch schaut die Welt genau hin, wie das Land mit seinen Minderheiten umgeht, und wie es Ökologie und Wachstum in Einklang bringt. Lateinamerika ist ein normaler Teil dieser Welt geworden.

Die größten Mängel bestehen nach wie vor im Bildungssystem. In Technologie und Wissenschaft hinkt Lateinamerika seit jeher zurück, es ist bei seiner Entwicklung auf fremde Hilfe angewiesen, und wird es noch lange Zeit sein. Davon profitiert unter anderem China, das Produkte, Knowhow, Entwicklungshilfe und Anlagen liefert und Lateinamerika damit in eine neue Abhängigkeit bringt, nachdem die alte totale Dependenz zu den Vereinigten Staaten von Nordamerika eben erst überwunden zu sein schien. Auch deutsche Firmen profitieren von der Nachfrage nach Technik, insbesondere im Umweltbereich, in dem Lateinamerika die größten Defizite hat, die es im Sinne steigender Lebensqualität aufholen möchte.

 

Nicht besser, sondern gut

Das „Gute Leben“ ist in Ecuador und Bolivien inzwischen sogar Teil der Staatsraison. Gemeint ist damit aber nicht die ständige Anhäufung materieller Güter, eher das Prinzip der Mäßigung. Der Politiker und Wirtschaftswissenschaftler Alberto Acosta hat als Präsident der verfassungsgebenden Versammlung Ecuadors 2008 dafür gesorgt, dass der indigene Naturbegriff Einzug ins Grundgesetz des Landes fand. Bolivien zog später nach. Nach Überzeugung der Urvölker ist die Natur ein atmendes Wesen, das man zwar behutsam zum eigenen Unterhalt nutzen darf, jedoch zu achten hat.

Diese Form von Ressourcenschutz stand jahrhundertelang im Widerspruch zum „Extraktivismus“, der Überzeugung, dass man der Erde ihre Reichtümer entreißen muss, um voranzukommen – wovon letztlich stets nur eine schmale postkoloniale Elite profitierte. Die Andenbewohner ziehen traditionell in Zweifel, dass das Morgen immer besser sein muss als das Heute. Ihrem Denken liegt ein Begriff von Zeit zugrunde, die nicht linear verläuft, sondern zyklisch – und die in die Rückkehr in einen paradiesischen Urzustand mündet. Für die Völker der Quechua und Aymara stellt "Sumak kawsay", „Gut leben“, mithin ein höheres Gut dar als das westliche „Besser leben“. Dahinter steht der Appell, sich mit dem zufrieden zu geben, was man hat, statt ständig nach mehr zu streben. Angesichts einer weltweit grassierenden Wachstumsmüdigkeit findet Acosta im Denken der Völker der Anden Ansätze, die nicht nur für die Schwellenländer, sondern in der gegenwärtigen Werte- und Klimakrise auch für die Industrienationen nützlich sein könnten.

Die Regierung von Rafael Correa möchte die Infrastruktur so schnell wie möglich ausbauen und eine Wissensgesellschaft schaffen, wofür er die Einnahmen aus der Ölförderung braucht.

Trotz dieses Bekenntnisses ist das Wachstum in Ecuador und Bolivien in diesem Jahr sogar mit am höchsten in ganz Lateinamerika. Das hat zum einen mit dem großen Nachholbedarf zu tun — und zum anderen damit, dass die Präsidenten Rafael Correa und Evo Morales ihren Ländern trotz aller Affinität zum andinen Denken ein ehrgeiziges Entwicklungsprogramm verordnet haben. Die Regierung von Rafael Correa möchte die Infrastruktur so schnell wie möglich ausbauen und eine Wissensgesellschaft schaffen, wofür er die Einnahmen aus der Ölförderung braucht. Das bringt ihn in zunehmenden Konflikt mit Teilen seiner eigentlichen Anhängerschaft, Vertretern indigener Gruppen und Naturschützern, die eine tatsächliche Umsetzung des Prinzips vom „Gut Leben“ einfordern – so auch Alberto Acosta, der sich mit seinem einstigen Weggefährten Correa überworfen hat. Der energische und mitunter rabiate Staatspräsident ist der auf den ersten Blick paradox anmutenden Meinung, man müsse sich extraktivistischer Methoden bedienen, um vom Extraktivismus wegzukommen. Mit anderen Worten: Das Land müsse sich mit Hilfe seiner Rohstoffeinnahmen erst nachhaltig modernisieren, bis es sich dereinst vom reinen Wachstumsprinzip verabschieden kann.

Auch in anderen Ländern geraten die ehrgeizigen gesellschaftlichen Projekte der Regierenden zunehmend in die Kritik. Argentinien etwa setzt in der Wirtschaftspolitik unverdrossen auf Abschottung und Autarkie. Dahinter steckt der Wunsch der Regierung von Cristina Fernández de Kirchner, die eigene Volkswirtschaft von innen heraus stark zu machen, wofür jedoch zumindest in Argentinien der Rückhalt und die Opferbereitschaft in einem großen Teil der Bevölkerung fehlt, der nicht bereit ist, dafür auf Konsum zu verzichten.

Darüber wird ein anderes Problem, das sich gerade ankündigt, in vielen Ländern sträflich vernachlässigt: Weil sich die Lebensbedingungen verbessert haben, werden Lateinamerikaner immer älter. 2010 gab es je 36 alte Menschen auf 100 Kinder in der Region. 2040 werden es nach Prognosen der Cepal 116 Senioren auf 100 Nachgeborene sein. Darauf sind die Versorgungssysteme nicht vorbereitet, Renten sind überhaupt die Ausnahme, da in den meisten Ländern mehr als sechzig Prozent der Bevölkerung in informellen Jobs arbeiten.

Staaten wie Bolivien oder Brasilien versuchen gegenzusteuern, indem sie Grundrenten für Marktfrauen oder Bauern eingeführt haben, die im bolivianischen Fall mit Rohstoffeinnahmen bezahlt werden. Nicht umsonst aber ist ein privater Pensionsfonds aus Kolumbien eines der erfolgreicheren international tätigen Unternehmen des Halbkontinents. Es kann kein Zweifel bestehen, dass die Forderungen an die Regierungen, bei der Altersversorgung nachzubessern, in den nächsten Jahren sehr viel lauter werden.

Die Präsidentin der in Hamburg beheimateten EU-Lateinamerika-Stiftung, Benita Ferrero-Waldner, fasst die Entwicklung so zusammen: „Die Leute wollen bessere Infrastruktur, Transport, Gesundheit, Pensionen – eben Lebensqualität. Wir hatten Wachstum, jetzt ist Wohlbefinden gefragt.“ Beides in Einklang zu bringen, wird die große Herausforderung für die lateinamerikanische Politik in der anstehenden Dekade. Aber auch das ist ja ein Zeichen von Normalität.