Nach Jahrzehnten des Afrika-Pessimismus hatten Kommentatoren und Analysten zuletzt am Gegenteil Geschmack gefunden, und das mit ähnlicher Beharrlichkeit. Der einstige „Katastrophen-Kontinent“ wurde nun zum „Erfolgsmodell“ umgeschrieben. Womöglich beobachteten die Autoren solcher Elogen aus den Augenwinkeln das Verhalten internationaler Investoren, aber dass ihre Lobeshymnen auf makro-ökonomischen Daten basierten, ist nicht zu bestreiten. Auf dem Kontinent wachsen viele Volkswirtschaften seit Jahren in einem beachtlichen Tempo, mit Zuwachsraten im hohen einstelligen oder im zweistelligen Bereich.

Hin und wieder merkte jemand kritisch an, dass dieses Wachstum vor allem dem Rohstoffboom geschuldet war und wenig wirkliche Entwicklung brachte. Dass der Aufschwung an der Bevölkerungsmehrheit vorbeiging, deren Armut unverändert blieb. Dass aber die Autos und Villen der Elite größer wurden, ihr Lebensstil immer pompöser. In etlichen Hauptstädten wuchs eine Skyline heran. Nur hier und da wurden auch ein paar Straßenkilometer asphaltiert.  

Der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg ging sogar weiter, als die Wirtschaft in Europa und den USA zuletzt stark abkühlte. Denn das internationale Interesse an Afrikas Rohstoffen hielt trotz der Krise vorerst an: an Diamanten und Erdöl, Gold, Koltan und Kupfer oder Platin, um nur einige zu nennen. Allerdings war der Verfall der Erdölpreise zuletzt so massiv, dass nun auch viele afrikanische Volkswirtschaften deutliche Verluste hinnehmen müssen.

Wie drastisch der Einbruch für manche Länder ist, kam Anfang Oktober während der Erdölwoche in Kapstadt zur Sprache. Beispiel Nigeria: Der größte Erdölproduzent des Kontinents fördert rund zwei Millionen Barrel am Tag. Der Erdölexport macht nach den Zahlen des Internationalen Währungsfonds 90 Prozent der Exporterlöse aus. Doch seit diesem Frühjahr gehen die Erlöse massiv zurück, die Staatseinnahmen werden voraussichtlich um 40 Prozent fallen. Trotz des Booms der letzten Jahre lebt in Nigeria immer noch weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze: 100 Millionen der inzwischen 175 Millionen.

Nun rächt sich in Nigeria und anderen Ländern, dass das afrikanische Führungspersonal in den wirtschaftlich guten Zeiten nur an das eigene Konto, den eigenen Lebensstil dachte.

Nun rächt sich in Nigeria und anderen Ländern, dass das afrikanische Führungspersonal in den wirtschaftlich guten Zeiten nur an das eigene Konto, den eigenen Lebensstil dachte. Denn auf das dramatische Bevölkerungswachstum, das Afrika weiterhin vor sich hat, ist der Kontinent trotz des Booms nicht eingestellt. Bis zum Jahr 2100 wird sich die Zahl der Menschen fast vervierfachen, von derzeit 1,2 auf etwa 4,5 Milliarden. Das jedenfalls ist die Prognose der Vereinten Nationen, festgehalten in ihrem jüngsten Bericht zur Bevölkerungsentwicklung.

Dieser Bevölkerungszuwachs ist wirtschaftlich eine Zeitbombe. Während des Aufschwungs wurde nichts getan, um sie zu entschärfen. Schon heute ist ein Viertel der Bevölkerung jünger als 18 Jahre, das sind 225 Millionen Menschen. Sie könnten das Potential des Kontinents sein, denn junge Menschen sind erfahrungsgemäß aufgeschlossener für neue Wege und eher bereit, auch entwicklungshemmende Traditionen hinter sich zu lassen. Tatsächlich aber sind die vielen jungen Menschen ein Problem, vielleicht sogar eine Bedrohung. Denn sie werden bald auf den Arbeitsmarkt drängen, werden Jobs und eine Wohnung suchen, Geld zum Überleben brauchen. 225 Millionen Jobs werden nötig sein! Wo sollen die herkommen, jetzt auf die Schnelle, in nur so wenigen Jahren? Kein Land ist industrialisiert, trotz der jahrelangen Zuwachsraten. In den meisten Volkswirtschaften trägt die Industrie bloß zehn bis zwanzig Prozent zum Bruttosozialprodukt bei. Fast überall spielt die Landwirtschaft eine wichtige Rolle. Eine Landwirtschaft, die oft kaum die Eigentümer der Scholle ernährt. Vielerorts werden noch kleinste Felder mit Hacken oder bestenfalls Ochsen bestellt. Die Erträge solcher Parzellen werden auch in Zukunft nicht ausreichen, die ständig wachsende Bevölkerung zu ernähren. Noch weniger ist die Landwirtschaft in der Lage, zusätzliche Arbeitskräfte aufzunehmen.

Was an „cash-crops“ in den Export geht, wird wie eh‘ und je ohne Verarbeitung ausgeführt. Um das zu ändern, wären gewaltige Anstrengungen und finanzielle Mittel nötig – Gelder, die in Boomzeiten vielleicht sogar verdient, aber überwiegend verpulvert wurden. Wer beispielsweise zur Zeit der Mango-Ernte durch Westafrika fährt, für den sind Mengen von verfaulendem Fallobst ein vertrauter Anblick. Weil es keine Straßen gibt, könnten die Früchte gar nicht schnell genug in eine Fabrik gebracht werden, um dort zu Säften, Marmelade, Dosenobst oder Chutney verarbeitet zu werden. Ganz zu schweigen davon, dass es die entsprechenden Fabriken nicht gibt.

Und gäbe es, trotz der vielen jungen Menschen, ausreichend Arbeitskräfte, um solche und ähnliche Fabriken zu betreiben? Nein, denn es fehlt überall schon an der Schulbildung. Nach Angaben der UN-Kulturorganisation Unesco bekommen südlich der Sahara rund 30 Millionen Kinder im Grundschulalter keinen Unterricht. Von denen, die eingeschult wurden, schließen nur 56 Prozent die Grundschule erfolgreich ab. An höhere und berufliche Bildung ist da gar nicht zu denken.

Was also tun, fragt sich Europa jetzt, und denkt mit leichtem Gruseln an die Flüchtlingsboote der Zukunft (wobei gegenwärtig nur rund 20 Prozent aller Flüchtlinge aus Afrika kommen).

Diejenigen, die etwas unternehmen können und müssen, sitzen in Afrika und in Europa. Die erste Verantwortung für das Wohlergehen ihrer Bevölkerung haben selbstverständlich die afrikanischen Regierungen. Was denen aber kaum bewusst zu sein scheint. Im Krisenfall rufen sie nach Entwicklungs- oder Katastrophenhilfe, statt etwas mehr von dem vorhandenen Geld in den öffentlichen Kassen zu belassen. Europäische und andere Regierungen sollten deutlich mehr Druck ausüben, damit die Reichtümer des Kontinents nicht veruntreut, verschleudert und auf ausländische Konten verschoben werden.

Europa sollte Afrika endlich als Handelspartner begegnen, und es nicht länger in der Rolle des Almosenempfängers halten.

Europas eigentliche Verantwortung ist aber eine andere. Es sollte Afrika endlich als Handelspartner begegnen, und es nicht länger in der Rolle des Almosenempfängers halten. Soll heißen: Noch immer definiert Europa handelspolitische Spielregeln, die afrikanische Wirtschaften krass benachteiligen. Einen Bruchteil dessen, was Europa dank dieser Regeln verdient und was Afrika dadurch vorenthalten bleibt, bekommt der Kontinent dann als so genannte „Entwicklungshilfe“ zurück. Eine Hilfe, die nicht nötig wäre, wenn der internationale Handel fairer würde.

Ein Beispiel dafür ist das Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zwischen der Europäischen Union und afrikanischen Ländern. Nach diesem Abkommen sollen afrikanische Länder ihre Märke um bis zu 83 Prozent mehr als bisher für Importprodukte aus Europa öffnen. Das heißt, sie schaffen Zölle und Gebühren schrittweise ab. Dafür erhalten afrikanische Unternehmen zollfreien Zugang zum europäischen Markt. Das renommierte deutsche Forschungsinstitut GIGA hält diese Abkommen für absolut kontraproduktiv, jedenfalls für die Entwicklung afrikanischer Länder. Dem österreichischen Rundfunk erklärte Robert Kappel vom GIGA: „Diese Regelung erschwert einen industriellen Aufbruch weitgehend, da europäische Produkte von höherer Qualität sind und die geringe Wettbewerbsfähigkeit der meisten afrikanischen Unternehmen im Vergleich zu den EU-Unternehmen zu einem Verdrängungswettbewerb führen wird.“

Die EU-Darstellung ist naturgemäß anders. Die Europäische Union schildert das Freihandelsabkommen als eine Chance für afrikanische Länder bei der Integration in die Weltwirtschaft und als einen Garanten für nachhaltiges Wachstum. Ein solches Wachstum setzt aber anderes voraus: faire Abkommen für den internationalen Handel und afrikanische Regierungen, die ihr Geld tatsächlich in Entwicklung investieren.

Man muss kein Wachstumsfetischist sein, um Wirtschaftswachstum in diesem Fall für dringend nötig zu halten. Nur dadurch können die afrikanischen Staaten viele Millionen weitere Bürgerinnen und Bürger in ihre Wirtschaft und ihre Gesellschaft integrieren. Andernfalls wird der absehbare Bevölkerungszuwachs eine Bedrohung, vor allem für den Kontinent selbst.