Zu den großen Fragen, die sich die Regierenden unserer Zeit stellen müssen, gehört, wie man mit Hedgefonds, Ratingagenturen und anderen Institutionen des internationalen Finanzkapitalismus umgeht. Immer mehr schicken diese sich an, die eigentliche Macht auf dieser Welt zu übernehmen. Die meisten Regierungen haben sich für eine Haltung der Demut entschieden. Argentinien hat nun eine andere Variante aufgezeigt: Als Wirtschaftsminister Axel Kiciloff in der letzten Juliwoche nach gescheiterten Verhandlungen mit US-Hedgefonds gefragt wurde, wie er es finde, dass sein Land von Ratingagenturen nun als zahlungsunfähig eingestuft wurde, entgegnete er: „Aber wer glaubt denn noch an Ratingagenturen?“
Keine Macht den Hedgefonds
Die etwas kühne Art und Weise, wie Argentinien die achte Staatspleite seiner Geschichte managt, kann als Lehrstück für den Umgang mit Macht in Zeiten des Turbokapitalismus gelten. Macht hat, wem man Macht zugesteht. Kann man die Hoheit über den eigenen Geldbeutel zurückgewinnen, indem man arrogant über Ratingagenturen und Hedgefonds hinweggeht? Argentinien meint ja – und erhält dafür in etwa gleichviel Lob wie Schelte.
Der konservative britische Economist urteilt, die Regierung von Cristina Fernández de Kirchner hätte sich viel Ärger und ihrer Bevölkerung viel Leid ersparen können, wenn sie sich verhandlungsbereiter gezeigt hätte und den Hedgefonds entgegengekommen wäre. In den Kommentarspalten unter Kirchner-freundlichen Artikeln hingegen waren häufig Sätze wie dieser über die streitbare Argentinierin zu lesen: „Merkel könnte sich von dieser mutigen Frau begeistern lassen.“ Es war genau dieser Eindruck, Vorkämpferin eines neuen Weges zu sein, den Präsidentin Fernández de Kirchner erwecken wollte. Damit hat sie nicht nur international, sondern auch zuhause gepunktet – zumindest bei denen, die der Meinung sind, der Gringo sei an der Misere schuld, in der das Land zweifelsohne steckt.
Argentinien ist pleite und nicht pleite zugleich.
Argentinien ist pleite und nicht pleite zugleich. Es ist pleite nach den Kriterien der Ratingagenturen, denn es bedient seine internationalen Verpflichtungen nicht. Argentinien selbst hält sich jedoch keineswegs für pleite, wie Wirtschaftsminister Axel Kiciloff in New York verkündete: Argentinien hat Geld, tiene plata, sagte er auf gut argentinisch. „Wir können unsere Schulden zahlen – nur man lässt uns nicht.“
Um diese komplexe Situation zu verstehen, muss man zurückblenden bis 2001: Damals war Argentinien wirklich bankrott. Nach einer desaströsen Wirtschaftspolitik stand das Land mit 200 Milliarden Dollar international in der Kreide. Bankkonten wurden gesperrt, die Wirtschaft brach zusammen, eine riesige Auswanderungswelle folgte. „¡Que se vayan todos!“ – Sie sollen alle abhauen! riefen die Demonstranten in Buenos Aires. Gerichtet war die Forderung an einheimische Politiker, die dieser flugs nachkamen: Präsident Fernando de la Rúa türmte mit einem Helikopter, vier Interimspräsidenten gaben sich die Klinke des Präsidentensitzes Casa Rosada in die Hand.
Der selbstverschuldete Verschleiß des kompletten Establishments gab einem bis dato weithin unbekannten Provinzpolitiker die Chance, etwas gänzlich Neues zu probieren. Néstor Kirchner, mittlerweile verstorbener Ehemann der jetzigen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner, kam 2002 ins höchste Staatsamt: Er beschloss, einfach nicht mehr mitzumachen im Rattenrennen der Finanzmärkte, nahm das Land sozusagen freiwillig vom Markt und schickte es auf einen sehr umstrittenen Weg der Autarkie. Der Rohstoffboom und gute Exportwerte machten es möglich. Kirchner wies den internationalen Finanzinstitutionen die Tür, die meisten Anleger speiste man mit einem Bruchteil ihrer Forderungen ab. Das führte langfristig dazu, dass die Staatsschuld heute nur noch 12,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts beträgt; 2002 waren es 124 Prozent gewesen.
Der Schuldenschnitt gilt als die große historische Leistung, als die eigentliche Raison d’être des Kirchnerismo, jener Politik des selbstbewussten, ja trotzigen Auftretens gegenüber Gläubigern und Nordamerikanern, die Néstor Kirchner einen nie gekannten Popularitätsschub nicht nur zuhause verschaffte, sondern in ganz Lateinamerika. Man kann Kirchners Triumph als Initialzündung für den Linksruck ansehen, der anschließend auf dem Halbkontinent stattfand und der schon historisch zu nennen ist. Kirchner organisierte maßgeblich die Ablehnung des Freihandelsabkommens mit den USA und formierte die Organisation UNASUR als schlagkräftiges Bündnis südamerikanischer Staaten.
Hoffnung auf Riesengewinne
13 Jahre später wird seine Witwe nun von der Vergangenheit eingeholt: Das Imperium schlägt sozusagen zurück. Sieben Prozent der Gläubiger akzeptierten den Schuldenschnitt damals nicht. Die Verweigerer sind Hedgefonds, darunter bekannte Firmen wie Paul Singers NML Capital Ltd, Aurelius Capital und Elliott Management Corp. Sie hatten Anleihen im Nominalwert von 1,3 Milliarden Dollar mit riesigen Abschlägen auf dem Sekundärmarkt gekauft und hofften auf entsprechend hohe Renditen – die sie nun einstreichen wollen. Bis zu 1 608 Prozent Gewinn winken. Der US-Milliardär Paul Singer, der sich einen Ruf als Staatenfledderer erworben hat, kann mit 832 Millionen Dollar rechnen. Argentiniens Präsidentin ist der Meinung, mit seriöser Kreditfinanzierung habe Singers Methode nichts zu tun. Eher schon mit Ausplünderung ganzer Volkswirtschaften.
Möglich wurden die Gewinne durch die zwischenzeitliche Erholung Argentiniens, zu der die Fonds natürlich nichts beigetragen haben. Sie erwirkten nun ein Urteil vor einem New Yorker Gericht, das Argentinien zur Zahlung seiner kompletten Schulden bei ihnen verpflichtete. Eine Berufung Argentiniens akzeptierte der Supreme Court nicht. Die 1,3 Milliarden Dollar allein hätte Argentinien sogar begleichen können. Doch Richter Thomas Griesa entschied auch, dass Argentinien seine anderen Gläubiger, die damals den Schuldenschnitt akzeptierten, nicht bedienen darf, solange die Fonds nicht ausbezahlt sind. Eine Klausel in den Verträgen verbietet jedoch die Besserstellung einzelner Gläubiger. Überweist Argentinien an die Hedgefonds die volle Summe, könnten andere Gläubiger dasselbe verlangen, so dass sich die Verpflichtungen leicht auf 120 Milliarden Dollar summieren können – zu viel plata für Argentinien. Allerdings läuft die Klausel Ende 2014 aus. Dass ein amerikanischer Richter solche Macht hat, liegt daran, dass Argentinien seine Papiere seinerzeit nach amerikanischem Recht ausgab – sonst hätte sie womöglich keiner gekauft.
Argentiniens eigener Weg
Dass Präsidentin Fernández de Kirchner nicht zahlen will und es nun mit so viel Chuzpe auf die Staatspleite ankommen ließ, hat mit dem Credo, ja der Ideologie des Kirchnerismo zu tun. Diese besagt, dass es Argentinien aus eigener Kraft schaffen kann und dass man mit der internationalen Finanzindustrie so wenig wie möglich zu tun haben will. Das knüpft direkt an bei dem großen Vordenker Juan Domingo Perón, der der zusammengewürfelten, nur am Eigeninteresse orientierten argentinischen Einwanderergesellschaft in den 1940er- und 1950er-Jahren eine Form von korporativer Staatsbürgerlichkeit verordnen wollte, gepaart mit wirtschaftlicher sowie militärischer Autarkie. Perón scheiterte als Präsident an der eigenen Selbstherrlichkeit und daran, dass sich staatsbürgerliche Verantwortung nicht erzwingen lässt. Für die Finanzierung der Sozialgeschenke an seine „descamisados“ – „hemdlose“ – genannte Wählerklientel warf die Wirtschaft schlicht nicht genügend ab.
Das hat sich in den letzten fünfzig Jahren nicht gebessert. Korruption, Misswirtschaft, Schulden und Eigennutz ließen die einst blühende argentinische Wirtschaft verfallen, das Land blieb bei dem Versuch, zu den Reichen aufzuschließen, trotz Rohstoffen und kreativer Bevölkerung stets ein Aspirant. Vor allem in den Neunzigerjahren baute die Wirtschaft ab. Der neoliberale Präsident Carlos Menem, ein Musterschüler Washingtons, verordnete Privatisierung, demontierte Eisenbahnen und Exportindustrie. Man erfand die Dollarbindung des Peso und gab windige Schuldpapiere aus in der Hoffnung auf eine wundersame Entwicklung. Viele Anleger ließen sich in dem kurzlebigen Boom vor der Jahrtausendwende fragwürdige Argentinien-Papiere von ihren Banken aufschwatzen, ohne sich vorher über die wahren wirtschaftlichen Verhältnisse in dem Land klar zu werden. 2001 kollabierte das System Menem.
Folge der staatlichen Ausgabenpolitik ist eine Inflation von inoffiziell um die 40 Prozent, die alte argentinische Krankheit, unter der die Menschen ächzen.
Die Kirchners haben es als überzeugte Linksperonisten mit einem Kurs in die Vergangenheit versucht. Präsidentin Fernández de Kirchner will wie einst Perón Argentiniens Wirtschaft wieder stark machen, investiert in Forschung und Bildung, das kostet Geld. Dabei legte sie sich mit denen an, die überhaupt erst die Voraussetzung für den Aufschwung und den Ausweg aus der Krise gewiesen hatten: Mit ihrer rigiden Zoll- und Steuerpolitik, den Abgaben auf Im- und Exporte, machte sie sich die Agrarindustrie und Teile des Mittelstands zum Feind. Kirchners Basis blieben die besitzlosen Massen, die von Sozialleistungen profitieren, die sich das Land eigentlich nicht leisten kann. Außerdem lebt man nicht mehr 1950, Abschottung funktioniert in der globalisierten Welt nicht gut. Folge der staatlichen Ausgabenpolitik ist eine Inflation von inoffiziell um die 40 Prozent, die alte argentinische Krankheit, unter der die Menschen ächzen. Zu Opfern, wie sie ein konsequenter Autarkiekurs erfordern würde, ist die Bevölkerung heute ebenso wenig bereit wie zu Peróns Zeiten.
Trotzdem weiß Fernández de Kirchner eine Mehrheit hinter sich, und das hat viel mit Emotionen zu tun, die im Land des Tangos leicht entzündbar sind: Man werde sich nicht den „Geierfonds“ aus den USA ergeben – für solche Sätze kann sie sich des Beifalls einer Mehrheit ihrer Anhänger sicher sein. Investor Paul Singer, der schon Präsidentenflugzeug und Segelschulschiff kapern wollte, ist ein ideales Feindbild.
Wenn es nicht doch noch zu einer Einigung kommt, wird Argentinien sich womöglich auf geraume Zeit hinter Kirchners Trotzkurs verschanzen müssen, denn eine Rückkehr an die Finanzmärkte – von denen das Land seit 2002 ohnehin ausgeschlossen ist – ist vorerst unmöglich. Die Pleite kommt in einem Moment, da sich Argentinien anschickte, eine Reihe von Gläubigern – darunter Deutschland – auszuzahlen. Auch die zuletzt schwächelnde Wirtschaft wies Erholungstendenzen auf. Hätte man sich verständigt, hätte man auf eine Erholung hoffen und sogar einen Großteil der Altschuldner auszahlen können, wie der Wirtschaftswissenschaftler Eduardo Levy Yeyati, Professor in Buenos Aires und Harvard, zu der spanischen Zeitung El País sagte. So wie es jetzt aussieht, wird Argentinien jedoch weiterhin der ewige Aspirant bleiben. Aber immerhin: „¡Qué se vayan todos!“ ruft derzeit keiner mehr.
5 Leserbriefe
Wie soll ein Land seine eigene Industrie entwickeln können, wenn der Pesos 1 : 1 an den Dollar gebunden wird? Davon profitieren nur transnationale Unternehmen, die auf diese Weise lästige potenzielle Konkurrenz loswerden.
Eigenwillig unpräzise ist der Hinweis auf die Gläubiger, die mit einem "Bruchteil" ihrer Assets abgespeist werden sollen - immerhin reden wir dabei von 70 Prozent der ursprünglichen Werte!
Die Frage, ob es eine Alternative zu Kirchners Politik geben könnte, wird umgangen. Lieber konzentriert sich der Autor auf Atmosphärisches ("Kirchners Trotzkurs"). Dass sich einige Hedgefonds (die berühmten 7 Prozent Gläubiger) zu keinem Zeitpunkt verhandlungsbereit gezeigt haben, geht mit der Äußerung "hätte man sich verständigt" im Wortnebel unter. Dass ein Land von bestimmten Akteuren des Finanzmarktes in die Knie gezwungen werden könnte - mit schlimmen Folgen für die Menschen - bleibt ganz außen vor. Irritierend!