Der Angriff eines siebenköpfigen Selbstmordkommandos auf eine von der Armee betriebene öffentliche Schule in Peschawar im Nordwesten Pakistans ist selbst für das immer wieder von Terroranschlägen heimgesuchte Land ein enormer Schock. Nach neuester Zählung wurden bei dem Angriff am 16. Dezember 150 Personen, darunter 134 Kinder, getötet. Viele wurden mit gezielten Kopfschüssen exekutiert. Für diesen in seiner Brutalität und Kaltblütigkeit gegen Kinder einmaligen Angriff übernahmen die pakistanischen Taliban (TTP) die Verantwortung. Ein Sprecher der Gruppe erklärte, damit habe eine seit Juni laufende Offensive der Armee in Nordwasiristan gerächt werden sollen. Denn dabei seien auch Frauen und Kinder der Taliban getötet worden.
Der Angriff auf die Schulkinder in Peschawar resultierte nicht nur in Empörung, sondern auch in der Hoffnung, dass militante Islamisten nun endlich entschlossener bekämpft werden. Das war schon oft versprochen worden. Pakistan hat Schätzungen zufolge 50 000 bis 70 000 Menschenleben durch islamistischen Terror verloren, darunter mehrere tausend Soldaten und Polizisten.
Zwar blieben die militanten Islamisten bei Wahlen bisher bedeutungslos. Doch beeinflussen sie durchaus die öffentliche Debatte und setzen ihren Gegner unter Druck. So gelang es ihnen und ihren Apologeten etwa die spätere Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai als Agentin des Westens zu diskreditieren. Sie setzt sich mutig für Schulbildung für Mädchen ein und fordert die Taliban ideologisch heraus. Als 15-Jährige überlebte sie ein gezieltes Attentat der Glaubenskrieger im Swat-Tal. War das gescheiterte Attentat zunächst ein Desaster für die Propaganda der Taliban, gelang es, die innenpolitische Stimmung gegen das im Ausland hoch verehrte Mädchen zu wenden. Sie wurde als von fremden Interessen gesteuert dargestellt. Das Attentat sei gar vom Ausland geplant worden, um Pakistans Ansehen zu schaden. So wurde Malala Yousafzais Integrität und Botschaft erfolgreich untergraben.
„Pakistans 11. September“
Nach dem Terror gegen die Schulkinder gab es wieder die offiziellen Appelle und Versprechen, nun endlich durchzugreifen. Der amtierende Außenminister Sartaj Aziz etwa bezeichnete den Tag als „unseren 11. September“ und als „Game Changer“. Auch Ministerpräsident Nawaz Sharif sagte, die Peschawar-Tragödie habe das Land verändert. Es werde keinen Platz für „Terrorismus, Extremismus, Sektierertum und Intoleranz“ in Pakistan mehr geben. Und es würde nicht mehr zwischen „guten und schlechten Taliban“ unterschieden.
Sharifs Äußerung war entlarvend. Denn sie beinhaltet das Eingeständnis, bisher gegenüber islamistischem Terror mit zweierlei Maß gemessen zu haben. Als „Gute“ galten bisher jene, die sich wie etwa die afghanischen Taliban oder die im indischen Teil Kaschmirs aktiven Dschihadisten als Werkzeuge des pakistanischen Militärgeheimdienstes ISI instrumentalisieren ließen. Als „schlecht“ galten hingegen jene, die gegen den eigenen Staat und seine Armee gewaltsam vorgehen. Dabei wurden natürlich die Gruppen jedweder Couleur gelegentlich auch für innenpolitische Interessen instrumentalisiert. Da die „guten und schlechten Taliban“ trotz organisatorischer Abgrenzungen die gleiche dschihadistische Ideologie teilen, zum Teil ihr Personal tauschen und identische Terrormethoden einsetzen, ist ihre Unterscheidung in Gut und Böse so künstlich wie willkürlich. In der Praxis ist diese Politik für Pakistan fatal. Die frühere US-Außenministerin Hillary Clinton drückte es einmal so aus: „Man kann nicht erwarten, dass die Schlangen im eigenen Hinterhof nur die Nachbarn beißen“.
Plötzlicher Aktivismus
Um ihre Entschlossenheit zu demonstrieren, entfalteten Pakistans Regierung und Militär nach dem Angriff auf die Schule ein Feuerwerk des Aktivismus: Das Militär verstärkte seine Offensive in Nordwasiristan, bei der bis dahin nach Armeeangaben schon 1 200 bewaffnete Islamisten getötet worden sein sollen. Diese Zahl lässt sich so wenig überprüfen wie die Angaben über die seitdem angeblich weiteren 80 getöteten Dschihadisten.
Pakistans Armee- und Geheimdienstchef reiste schon am 17. Dezember nach Kabul, um dort mit Afghanistans Regierung und Generalstab sowie dem Kommandanten der internationalen Truppen ein härteres Vorgehen gegen den pakistanischen Talibanführer Mullah Fazlullah zu vereinbaren. Der soll sich in der ostafghanischen Provinz Kunar aufhalten. Eine engere militärische Kooperation auf beiden Seiten der Grenze ist seit Jahren überfällig und zu begrüßen. Doch ist nicht überliefert, dass etwa Islamabad im Gegenzug für Hilfszusagen aus Kabul zusagte, seinerseits auch gegen die afghanischen Taliban wie gegen das afghanische Haqqani-Netzwerk auf pakistanischem Boden vorzugehen. Afghanistans Taliban-Führer Mullah Omar wird bei der pakistanischen Stadt Quetta in Belutschistan vermutet. Das Hauptquartier des mit den afghanischen Taliban wie mit al-Qaida verbundenen Haqqani-Netzwerks soll bei Miranschah sein, dem Hauptort Nordwasiristans. Das Netzwerk zählt nicht zu den Zielen von Pakistans Armeeoffensive.
Schuldzuweisungen an andere
Dafür passt die Kabul-Reise in ein in Islamabad gern angewandtes Muster: Statt eigene Versäumnisse einzugestehen, wird die Aufmerksamkeit auf das Ausland gelenkt und anderen eine Mitschuld am Terror in Pakistan gegeben. Andere wie der frühere Militärdiktator, Staatspräsident und Armeechef Pervez Musharraf machten denn gleich Indien als Drahtzieher des Schulmassakers aus – ohne jeden Beweis. All dies nährt die in Pakistan sprießenden Verschwörungstheorien.
Statt eigene Versäumnisse einzugestehen, wird die Aufmerksamkeit auf das Ausland gelenkt und anderen eine Mitschuld am Terror in Pakistan gegeben.
Die Regierung Sharif, die seit August aufgrund von Massenprotesten der Opposition gegen angeblichen Wahlbetrug unter Druck stand und deshalb kaum noch zum Regieren kam, nutzte das Schulmassaker, um innenpolitisch die Initiative zurückzugewinnen. So beendete Sharif sofort ein sechsjähriges Moratorium für Hinrichtungen. Der Schritt ist Umfragen zufolge sehr populär. Pakistan zählt rekordverdächtige 8 000 Todeskandidaten, darunter 500, die wegen Terrorismus verurteilt wurden.
Bis zum Jahreswechsel wurden gleich die ersten sieben Personen gehängt, sechs davon wegen zweier Attentatsversuche auf den damaligen Diktator Musharraf. Schien die Regierung damit plötzlich sagen zu wollen „Nur ein toter Taliban ist ein guter Taliban“, so ist ihr Vorgehen, gegen das u.a. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon protestierte, menschenrechtlich bedenklich und zur Terrorbekämpfung weitgehend wirkungslos. Denn Exekutionen dürften Selbstmordattentäter kaum abschrecken. Zugleich erweckt die plötzliche Eile den Eindruck staatlicher Rache.
Menschenrechtsgruppen verweisen zudem darauf, dass 200 der wegen Terrorismus verurteilten Todeskandidaten durch mit Folter erpresste Aussagen oder aufgrund von Fehlurteilen auf die Todesliste geraten seien. Ein Beispiel: Die Todesstrafe gegen den zum Zeitpunkt der angeblichen Tat 14-jährigen Shafquat Hussein. Er soll sich nach wochenlanger Folter mit einem „Geständnis“ selbst belastet haben. Jetzt muss er mit baldiger Exekution rechnen. Dabei verstößt die Hinrichtung Minderjähriger gegen grundsätzliche Menschenrechtsnormen.
Einrichtung von Militärtribunalen
Neben der angestrebten raschen Vollstreckung von Todesurteilen setzt die Regierung vor allem auf die Einrichtung von Militärtribunalen gegen Terrorverdächtige. Die innenpolitisch umstrittenen Militärgerichte, für die es eigentlich einer Verfassungsänderung bedarf, sollen innerhalb der nächsten zwei Jahre mit Terrorverdächtigen kurzen Prozess machen.
Der von der Regierung in nur gut einer Woche vorgelegte Nationale Aktionsplan gegen Terrorismus umfasst 20 Punkte. Darunter sind einige, die Verständnis für die große Komplexität des Problems durchaus erkennen lassen. So sollen Maßnahmen gegen Hassreden ergriffen werden, verbotene Organisationen sich nicht einfach unter neuem Namen wieder gründen dürfen und endlich die Koranschulen (Madrassen) registriert und reguliert werden. Seit Jahren wird kritisiert, dass diese Bildungseinrichtungen für vor allem arme Schichten von Dschihadisten zur Nachwuchsrekrutierung missbraucht werden.
Terrorismus kann selbstverständlich nicht mit militärischen und polizeilichen Mitteln allein überwunden werden, sondern es bedarf eines breiten Bündels von Reformen, die etwa auch den Bildungs-, Justiz- und Finanzbereich betreffen. Doch wenngleich der Aktionsplan viele Problembereiche nennt, ist aufgrund der bisherigen Erfahrungen zweifelhaft, ob wirklich genug unternommen wird und nicht vielmehr die Macht des ohnehin innenpolitisch bereits zu mächtigen Militärs nur noch weiter gestärkt wird. Bisher war das Militär – trotz eigener hoher Verluste – bei der Terrorbekämpfung mindestens so sehr ein Teil des Problems wie seiner vermeintlichen Lösung.
Schwäche von Politik und Zivilgesellschaft
Es bedarf eines Endes der Instrumentalisierung dschihadistischer Gruppen durch Teile des Militärs und seines Geheimdienstes. Dies setzt allerdings eine politische Neuorientierung voraus. Und die würde zu Machteinbußen der Generäle führen statt zu deren weiterer Stärkung. Dafür sind sie so wenig bereit, wie die politischen Parteien und die Zivilgesellschaft zu schwach sind, um dies durchzusetzen.
Die große innenpolitische und wirtschaftliche Macht des Militärs, das einem Staat im Staate gleichkommt, speist sich außer aus der kultivierten Erbfeindschaft mit Indien, die auch die Einmischung in Afghanistan legitimiert, inzwischen auch aus der Bedrohung durch die Dschihadisten. Dabei blieb das Militär in der Terrorbekämpfung aufgrund seiner bisherigen Unterscheidung zwischen „guten und schlechten“ Dschihadisten oft selbst erfolglos.
Bisher war das Militär – trotz eigener hoher Verluste – bei der Terrorbekämpfung mindestens so sehr ein Teil des Problems wie seiner vermeintlichen Lösung.
Die Notwendigkeit wie die Schwierigkeiten eines Kurswechsels zeigen zwei symptomatische Fälle. Einer betrifft Raki-ur-Rehman Lakkvi, einen Führer der pakistanisch-kaschmirischen Terrortruppe Laschkar e-Taiba (LeT, „Armee der Reinen“). Ihm wird vorgeworfen, Drahtzieher des Terrorangriffs auf Indiens Wirtschaftsmetropole Mumbai im November 2008 mit 166 Toten zu sein. Seit 2009 wurde Lakhvi in Pakistan in Untersuchungshaft „zwischengelagert“. Islamabad hatte kein Interesse an seiner Verurteilung, konnte ihn wegen des Drucks Indiens, das seine Auslieferung fordert, aber auch nicht einfach freilassen. Doch nur zwei Tage nach dem Schulmassaker von Peschawar ordnete ein Gericht zum Ärger Islamabads, das gerade selbst nach einer Antwort auf den Terror suchte, Lakhvis Freilassung auf Kaution an. Inzwischen konnte mit einer Anzeige wegen Entführung seine Freilassung vorläufig verhindert werden.
Von den USA mit Kopfgeld gesucht, von Sharif hofiert
Lakhvis LeT wird von Indien, den USA, Australien und der EU als Terrororganisation geführt. Sie ist auch in Pakistan offiziell verboten, doch weiter aktiv und ein Instrument des Geheimdienstes ISI im Kaschmir-Konflikt. Als ihre legale Front gilt die Hilfsorganisation Dschamat-ud-Dawa (JuD). Die erklärte wiederholt, mit LeT nichts zu tun zu haben, was Experten jedoch bestreiten. JuD half als eine der ersten Organisationen beim Kaschmir-Erdbeben 2005 und versorgte auch jetzt beim Schulmassaker in Peschawar die Opfer. Wie die afghanischen Taliban, die sich vom Angriff ihrer pakistanischen Namensvettern auf die Schule distanzierten, zählten JuD und Let in Pakistan im Sinne von Premierminister Sharif bisher zu den „Guten“. Er hatte bisher auch kein Problem damit, mit Hafiz Mohammed Saeed, dem Gründer beider Organisationen, öffentlich aufzutreten. Dabei haben die USA auf diesen ein Kopfgeld ausgesetzt.
Der andere Fall betrifft Maulana Abdul Aziz, den Imam der Roten Moschee in der Hauptstadt Islamabad. Er äußerte in einer Predigt Verständnis für das Massaker an den Schülern in Peschawar. Zuvor schon bekundete er Sympathien für die Terrororganisation Islamischer Staat (IS). Beides löste Proteste aus. Nach dem Schulmassaker demonstrierten Aktivisten gegen ihn vor der Moschee. Als sie bedroht wurden und Anzeige erstatteten, wurde ein Haftbefehl gegen Aziz ausgestellt, der jedoch nicht vollstreckt worden ist.
Imam des Terrors amtiert weiter
Aziz war schon einmal als Imam der wichtigen staatlichen Moschee offiziell abgesetzt worden. Er hatte eine „Fatwa“ ausgesprochen, derzufolge Soldaten, die im Kampf gegen die Taliban sterben, keine Märtyrer seien. Seine Absetzung wurde jedoch nie vollstreckt. Der damalige Machthaber Musharraf soll einen Aufschrei der Islamisten befürchtet haben. Stattdessen wagte die Aziz hörige Miliz der Moschee im Sommer 2007 selbst einen offenen Aufstand. Unter den damals mehr als einhundert Toten war auch Aziz' Bruder. Aziz selbst wurde verhaftet, kam aber 2009 wieder frei. Alle 27 Klagen gegen ihn wurden nacheinander abgewiesen. Längst leitet er wieder die Moschee. Dass er 2014 Medienberichten zufolge die Bibliothek einer Koranschule der Moschee nach dem getöteten al-Qaida-Chef Osama bin Laden benannte, blieb folgenlos.
Am Umgang mit Personen wie Zaki-ur-Rehman Lakkvi und Maulana Abdul Aziz wird sich zeigen, ob der Atomwaffenstaat Pakistan künftig weiter zwischen guten und schlechten Terroristen unterscheidet und welchen Raum er geistigen Brandstiftern sowie Drahtziehern und Apologeten des Terrors künftig einräumen will. Nach den bisherigen Erfahrungen zu urteilen gibt es für Optimismus leider wenig Anlass.
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