Als die Millenniumsfeier nahte, gehörte es mancherorts zum Nationalsport, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, worin wohl der größte Unterschied zwischen dem 20. und 21. Jahrhundert bestehen wird. Man tippte häufig auf den technischen Fortschritt. Kaum jemand hat allerdings geahnt, dass die technischen Errungenschaften – und darunter hauptsächlich die sozialen Medien – uns nicht in sophistischere, sondern in emotionalere Wesen verwandeln.

Dank der sozialen Medien leben wir heute in einer Welt, wo man schnell begeistert und verschreckt wird. Viel komplizierter ist es schon, etwas Beständigeres aufzubauen oder aufrechtzuerhalten. Eine moderne, demokratische, inklusive Gesellschaft mag ein gutes Beispiel sein, die Vision vom vereinigten Europa ein anderes. Trotz der allgemeinen Popularität und der enormen Verbreitung der sozialen Medien muss man sich aber vor einer Pauschalisierung hüten. Es gibt Gesellschaften, denen der Umgang mit den sozialen Medien besser gelingt und Gesellschaften, die allzu einfach der unkritischen oder panischen Stimmungsmache zum Opfer fallen.

Einer der Meinungsführer der ägyptischen „Facebook-Revolution“ in Kairo, Wael Ghonim, hat Ende 2015 die Rolle analysiert, welche die sozialen Medien bei seinem Versuch, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, gespielt haben. Das Ergebnis ist niederschmetternd: Nachdem die Euphorie verebbte, konnten sich die siegreichen Revolutionäre auf keinen Konsens einigen. Die sozialen Medien haben dabei nur polarisiert. Zum Schluss hat man jegliche Geduld mit dieser Welt verloren. Noch vor fünf Jahren glaubte Ghonim, dass das Internet die Voraussetzung für die Befreiung der Gesellschaft sei. Heute vermutet er, dass dafür die Verbesserung der sozialen Kompetenz von Menschen ausschlaggebend ist und nicht die der Medien. Die Medizin ist der reale Gedankenaustausch „Face-to-Face“ und nicht via Facebook. Nur das hilft, um die sprichwörtliche „Einheit in der Vielfalt“ zu ertragen.

Es zeichnet sich ab, dass die tschechische Gesellschaft beim Meistern der Migrationskrise im Umgang mit den sozialen Medien versagt.

Um sich von der Richtigkeit von Ghonims Worten zu überzeugen, braucht man nicht nach Ägypten zu schauen. Man kann ruhig in Mitteleuropa bleiben. Es zeichnet sich ab, dass die tschechische Gesellschaft beim Meistern der Migrationskrise im Umgang mit den sozialen Medien leider verzagt, wenn nicht gar versagt. Man hat zwar im Land nur wenige Flüchtlinge und Migranten, doch die virtuelle Stimmungsmache produziert Kleinmut in großen Mengen. Die Probleme, die ohnehin schon groß genug sind, können dank dieses Kleinmuts nur als noch größer wahrgenommen werden als sie sind.

Die deutsche Gesellschaft scheint umgekehrt die sozialen Medien anders zu nutzen: Sie helfen ihr, den vorhandenen Optimismus – oder zumindest was wir, die Nachbarn Deutschlands für Optimismus halten – zu verstetigen oder gar zu verstärken. Kein Wunder also, dass, solange Deutsche und Tschechen miteinander via soziale Medien kommunizieren, die Ergebnisse dieser Debatten eher unbefriedigend sind.

In der heutigen Welt darf man sich den Luxus des sozialen „Aneinandervorbeitweetens“ nicht leisten.

In der heutigen Welt, wo kurzfristige Begeisterung und langanhaltende Frustration gedeihen, darf man sich den Luxus des sozialen „Aneinandervorbeitweetens“ nicht leisten. Deswegen ist es begrüßenswert, dass Anfang dieses Jahres eine offizielle deutsch-tschechische Arbeitsgruppe zum Thema Migration entstand. Auf deutscher Seite steht dieser Arbeitsgruppe Staatsminister Michael Roth vor, auf der tschechischen Seite der Chefberater von Ministerpräsident Vladimír Špidla. Es ist noch zu früh, von der Gruppe konkrete Ergebnisse zu erwarten, doch eines steht jetzt schon fest: Eine Konstellation, in der sich reale Menschen gemeinsam um die bessere Erfassung eines gravierenden Problems redlich bemühen, ist schon ein guter Anfang.

Jeder gute Anfang ist dabei EU-weit dringend vonnöten. Nie zuvor war es wohl wichtiger, aktiv dafür zu sorgen, dass uns die Europäische Union sprichwörtlich nicht gestohlen wird. Nur so werden wir imstande sein, beides zu leisten: die EU als Bestandteil der Lösung der Migrationswelle zu nutzen und nicht darin ein zusätzliches Problem zu sehen. Die Lage ist ernst, aber noch ist nichts verloren. Für diese Feststellung braucht man (noch) kein deutscher Optimist zu sein.