Wie soll man auf die derzeitige Entwicklung in Polen regieren? Ein erster wichtiger Schritt wäre, nicht nur die staatsrechtlichen Veränderungen, welche die neue nationalkonservative Regierung in ihren Nacht-und-Nebel-Aktionen durchs Parlament peitscht, sondern auch ihren Umgang mit der Opposition und der kritischen Öffentlichkeit politisch und medial genau zu beobachten. Was die regierende Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) von Jarosław Kaczyński, die Opposition und die EU brauchen, ist eine offene und öffentliche Debatte über die Normen der parlamentarischen Demokratie, Gewaltenteilung und medialen Ausgewogenheit.

Insofern ist es gut, dass die Europäische Union ein Prüfungsverfahren eingeleitet hat, ob durch die neuen Gesetze das Verfassungsgericht entmachtet und die öffentlich-rechtlichen Medien zum Sprachrohr der Regierung degradiert wurden. Es zwingt die nationalkonservative Partei, sich einer europäischen Debatte zu stellen, in der man Kritiker nicht – wie im Inland – vorwiegend mit Hohn, Verachtung und Denunziation beiseite wischen kann. Die PiS ist eine ausgesprochen innenpolitisch ausgerichtete Partei, die sich jahrelang einigelte und in ihrer Wagenburg so lange koalitionsunfähig war, bis sie die Politikverdrossenheit im Land und eine moderate Mogelpackung im Wahlkampf wieder in die Regierungsverantwortung katapultierte.

Sie hat zwar die Stärkung des internationalen Prestiges Polens auf ihr Banner geschrieben, es aber während ihrer achtjährigen Oppositionszeit nicht verstanden, sich in der EU als ein künftiger zuverlässiger Partner zu profilieren. Sie verfügt – auch unter ihren Europa-Abgeordneten – über keinen einzigen Außenpolitiker von internationalem Format. Im Europäischen Parlament sitzen ihre Abgeordneten – anders als die Parteifreunde von Viktor Orbán – nicht mit der CDU-CSU zusammen in der christdemokratischen Fraktion, sondern mit David Cameron und der AfD zusammen bei den euroskeptischen Konservativen, was den vertraulichen Meinungsaustausch über die kommunizieren Röhren in der EU sichtlich erschwerte. Das Entfernen der Europa-Fahnen aus dem Raum, in dem die Ministerpräsidentin Beata Szydło ihre Pressekonferenzen abhält, deutete das verengte Weltbild der bislang wenig bekannten Politikerin an.

Jetzt zwingt die öffentliche Polen-Debatte, die PiS zu substanziellen und nicht allein – wie im Inland – propagandistischen Antworten auf die grundsätzlichen Strukturfragen ihrer „guten Wende“ in Polen. Innerhalb weniger Wochen erreichte die Kaczyński-Partei das genaue Gegenteil ihres Vorhabens: Das Ansehen des Landes sank rapide – gemessen nicht nur an kritischen Kommentaren der europäischen und amerikanischen Medien, sondern auch an der ersten Herabstufung Polens durch eine Ratingagentur in der Geschichte. Polen, noch vor kurzem das stolze Land einer wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte seit der Wende 1989, schien ein unsicherer Kantonist in der EU zu sein.

Nach der Methode „Haltet den Dieb!“ beschuldigt die PiS mit unflätigen Worten die Oppositionspolitiker, die protestierende Zivilgesellschaft und kritische Journalistinnen des Verrats am Vaterland.

Nach der Methode „Haltet den Dieb!“ beschuldigt die PiS mit unflätigen Worten die Oppositionspolitiker, die protestierende Zivilgesellschaft und kritische Journalistinnen des Verrats am Vaterland. Sie seien Polinnen und Polen „minderer Sorte“, die nur den notorischen Polen-Hassern Stoff lieferten, während die neue Regierung den Staat so repariere, wie es sich mit ihrer Wahl „die Polen wünschten“. Die Opposition hingegen sieht in dieser angepeilten Staatssanierung eine „Putinisierung“ des Landes, die der Exekutive absoluten Vorrang und womöglich auch Raum für künftige Wahlmanipulationen einräumen könnte. Bei einem beschämend vor laufenden Kameras ausgetragenen Streit um das Verfassungsgericht – mit abgeschalteten Mikrofonen während der Redebeiträge der gehänselten Oppositionsabgeordneten – bewies die siegestrunkene PiS ihre Kritikresistenz. Als eine „Führer-Partei“ – ihr Vorsitzender bekleidet kein Staatsamt und trägt somit keine juristische Verantwortung, wird aber als der große „Dirigent“ im Hintergrund hofiert – pflegt sie das Carl Schmitt’sche „Freund-Feind“-Denken, wobei sie viel Feind und wenig Freund um sich sieht. Der innenpolitische Dialog bedeutet meistens Konfrontation, ist kaum mit einem Bekenntnis eigener Fehler verbunden, und Kompromissbereitschaft gilt als Schwäche, die bald übertrumpft werden muss.

Insofern kann man in dem eingeleiteten Prüfungsverfahren der EU weniger eine „Strafmaßnahme“ als beinahe eine „pädagogische Anstalt“ sehen. Politiker der PiS können sich da nicht mit den gleichen Winkelzügen wie daheim den grundsätzlichen juristischen Fragen entziehen. Sie mögen zwar geltend machen, dass ihnen am Ende ohnehin keine Wirtschaftssanktionen drohten, da Ungarn von seinem Vetorecht Gebrauch machen werde. Doch dürften sie sich bewusst sein, dass der Ruf eines Landes in der EU ein konkretes politisches Gewicht hat. Dieses Gewicht kann in fragilen Bereichen der Außen-, Wirtschafts- und der – schließlich der PiS so teuren – Prestige-Politik positiv oder negativ zu Buche schlagen. Und es gibt einige solche fragilen Bereiche: die Russland-Ukraine-Politik der EU, in der Polen mehr als bisher präsent sein will, die Schengen-Krise angesichts der Flüchtlingswelle, in der Polen nicht nur an der Sicherung der EU-Außengrenzen interessiert ist, sondern zugleich von den offenen Binnengrenzen wirtschaftlich profitiert, bis hin zu künftigen Verhandlungen über die EU-Strukturfonds und Agrarzuwendungen. In all diesen Fragen möchte die PiS-Regierung nicht nur mitreden, sondern auch entscheidend mitgestalten können. Das kann sie nur, wenn sie in der EU keine offenen Flanken zeigt. Bis dato aber eröffnet sie eine Front nach der anderen … Zeitgleich mit dem Streit um das Verfassungsgericht und die Massenentlassungen in den öffentlich-rechtlichen Medien hob sie die Ausschreibungen für leitende Posten im öffentlichen Dienst auf und ersetzte sie durch Nominierungen durch Parlament und Regierung. Und – als Tüpfelchen auf dem i – brachte sie mit der Ankündigung, im Urwald von Białowieża, dem einmaligen Naturpark Europas, breit angelegte Abholzungen vorzunehmen, auch noch die Umweltschützer gegen sich auf. Selten ist die Arroganz frisch erworbener Macht so tumb und brachial zum Vorschein gekommen.

Selten ist die Arroganz frisch erworbener Macht so tumb und brachial zum Vorschein gekommen.

Wie also darauf reagieren? Als Jörg Haider in die österreichische Regierung aufgenommen wurde, waren die Polen gespalten. Die Nationalkonservativen pochten auf das Recht jeder Nation, sich eine Regierung wählen zu dürfen, wie es ihr behagt. Die Liberalen begrüßten eine Maßnahme, die Österreich wirtschaftlich nicht schadete, es aber mit einer Art gesellschaftlichem Bannfluch belegte. Dabei hatten sie den Hintergedanken: Sollten auch wir irgendwann mal verrücktspielen, wäre gut zu wissen, dass es eine Instanz gibt, die uns an die Hand nimmt und sagt: „Freunde, wir wollen euch gerne dabei haben, haltet euch aber gefälligst an die Spielregeln“. Diese Hoffnung wurde leider bald enttäuscht, als in Italien der „Cavaliere“ jahrelang sein Unwesen treiben konnte. Nicht gesellschaftliche „Ächtung“ durch die EU wegen der Gesetzesbeugungen und Finanzaffären, sondern „die Märkte“ brachten Silvio Berlusconi zu Fall. Und die 2000 gegen Österreich erprobten „Sanktionen“ erwiesen sich bald als stumpfes Schwert: Mit der Zeit verschwand zwar Haider von der politischen Bühne, seine FPÖ aber ist unter dem smarten Nationalisten Heinz-Christian Stracher heute stärker denn je.

Den polnischen Nationalkonservativen müsste man mit einer Art Neuauflage des bewährten „Wandels durch Annäherung“ beikommen. Sie in einen ständigen Dialog locken und einbinden. Komplexbeladen und europaskeptisch haben sie sich im „Polnisch-Allzupolnischen“ eingeigelt, dürsten zugleich aber nach europäischer Anerkennung. Die könnte sie aber nur in der Interaktion mit den Nachbarn und EU-Partnern gewinnen. Sie müssen aus ihrer Schmollecke heraus, und die EU braucht einen langen Atem. Polen ist nicht Ungarn. Polen hat eben nicht nur das autoritäre Biotop des Kultes um Józef Piłsudski, dem sich Kaczyńskis Verehrer verschreiben, sondern auch die tief eingeprägte Erfahrung der basisdemokratischen Solidarność, und Polen besitzt ein eigenes europäisches Gewicht. Es kann nicht ewig beleidigte Leberwurst spielen. Zumal es Gefahr läuft, von jenen in der EU, denen die Osterweiterung ohnehin ein Dorn im Auge war, zu einem Exempel des neuen „Bestrafungs“-Mechanismus gemacht zu werden. Davor warnte schon EU-Ratspräsident Donald Tusk in einem Polityka-Gespräch. Nach einem vertraulichen Gespräch mit dem neuen Staatspräsidenten Andrzej Duda nach der Eröffnung des Prüfungsverfahrens der EU traten die beiden etwas bemüht, aber demonstrativ versöhnlich vor die Presse, um den innerpolnischen Streit zu entschärfen.

Der Eifer und die Wucht, mit der Warschau von manchen Medien attackiert wird, befremdet auch manche deutsche Kommentatoren. Jacques Schuster weist in der „Welt“ auf die Fähigkeit der Polen zur Selbstkorrektur hin. Dabei gibt er zu, dass es durchaus Gründe für Irritationen gibt: „von der Entmachtung des Verfassungsgerichts bis zur Ausschaltung kritischer Journalisten im Staatsfernsehen. Es ist deshalb angebracht, dass die EU daran erinnert, nicht nur eine Wirtschafts-, sondern auch eine Wertegemeinschaft zu sein, die ihren Mitgliedern notfalls in Erinnerung ruft, was wichtig für sie ist. Nun hat sie das Prüfungsverfahren gegen Polen eröffnet. Richtig so. Man darf gespannt sein, zu welchem Urteil sie kommt. Bis dahin aber ist eines dienlich – Gelassenheit.“

Gelassenheit und eine offensive Einbindung auch der polnischen Nationalkonservativen in den grundsätzlichen europäischen Diskurs ist das Gebot der Stunde. Auch sie wissen nämlich, dass für Polen der Spruch gilt: Extra Europam nulla salus. Sie müssen aufpassen, dass sie Polen in der EU nicht in die Rolle des Prügelknaben hineinmanövrieren. Und die übereifrigen Kritiker wiederum müssten zusehen, dass sie das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Die publizistischen Kanonen sollten erst dann aufgefahren werden, wenn das Prüfungsverfahren dies als legitim ansieht. Ansonsten braucht nicht nur Polen, sondern brauchen alle ostmitteleuropäischen EU-Mitgliedstaaten viel mehr mediale Aufmerksamkeit im Westen, als es nach 2004 der Fall gewesen ist. Weder die Westerweiterung der „Ossi“-Gemüter der früheren „Brudervölker“ diesseits noch die Osterweiterung der „Wessi“-Gemüter jenseits des ehemaligen Eisernen Vorhangs ist in den vergangenen Jahren angemessen betrieben worden. Die Vereinigung Europas ist kein Selbstläufer, sie erfordert nach wie vor auch harte Denkarbeit.