Der Nahe Osten versinkt wieder einmal im Chaos. Die Gewaltspirale im Heiligen Land dreht sich unaufhaltsam abwärts. Israelische Luftangriffe auf Gaza wechseln mit palästinensischem Raketenbeschuss. Wenige hundert Kilometer entfernt kämpfen 13 Millionen von der Welt vergessene syrische Flüchtlinge um ihr Leben. Der syrische Bürgerkrieg destabilisiert die gesamte Region. Und während der Westen dem syrischen Regime einerseits tatenlos beim Morden zusieht, gibt er sich zugleich erstaunt über den Aufstieg des faktischen Assad-Ziehkinds ISIS, das in kürzester Zeit ein Drittel des Irak unter seine Kontrolle bringen konnte. Der Arabische Frühling in Ägypten hat ein jähes Ende gefunden. Es gibt derzeit nichts Gutes aus dem Nahen Osten zu berichten. Gar nichts? Das stimmt nicht ganz.

 

Hoffnungsschimmer Iran?

Die größten Zeichen der Hoffnung gehen derzeit ausgerechnet von dem Land aus, das über Jahrzehnte als größtes Sorgenkind der Region, ja als hoffnungsloser Fall, galt: dem Iran. Der außenpolitische Öffnungsprozess und die Verhandlungsbereitschaft der Regierung von Präsident Hasan Rouhani haben viele überrascht. Und auf einmal scheinen sich zumindest einige Stimmen im Westen zu fragen: Haben wir uns geirrt? Haben wir nicht viel mehr gemeinsam, als wir dachten?

Als die P5+1-Mächte 2013 mit dem Iran das Interimsabkommen unterzeichneten, wurde ein Bann gebrochen, der weit über den Inhalt der Vereinbarung hinausgingt. Als sich im November die UN-Sicherheitsratsmitglieder und Deutschland mit dem Iran auf eine Aussetzung des Nuklearprogramms einigten, wurde eine psychologische Barriere eingerissen, an der insbesondere US-Präsident Barack Obama seit Jahren gekratzt hatte. Er hatte sich seit 2009 immer wieder in Videobotschaften betont empathisch an das iranische Volk gewandt. Respektvoll und kulturbewusst wünschte er nicht nur allen Iranern alljährlich ein frohes Neujahrsfest, er zitierte sogar den iranischen Nationaldichter Hafis und sprach davon, einen „Baum der Freundschaft“ zwischen dem US-amerikanischen und dem iranischen Volk pflanzen zu wollen.

Und auf einmal scheinen sich zumindest einige Stimmen im Westen zu fragen: Haben wir uns geirrt? Haben wir nicht viel mehr gemeinsam, als wir dachten?

Obama weiß, welcher Tonfall im Iran Türen öffnet und Dialogmöglichkeiten schafft. Und er tat damit genau das Gegenteil seines Amtsvorgängers George W. Bush. Der hatte seinerzeit nach einer ersten Phase der Annäherung keine bessere Idee, als den Iran als Teil der „Achse des Bösen“ zu titulieren. Viele Beobachter sind sich sicher, dass erst dieses Label den Hardliner Ahmadinejad befähigte, die Präsidentschaftswahlen 2005 zu gewinnen.

Wer die iranische Geschichte kennt, weiß, dass ein Klima des Respekts und der ehrlichen Wertschätzung für eine Einbeziehung des Iran in diplomatische Lösungsversuche mindestens so wichtig und gar effizienter ist als der Aufbau einer militärischen und wirtschaftlichen Drohkulisse.

 

Warum nicht Iran als Partner?

Obama steht nicht im Verdacht, naiv zu sein. Entgegen wüster Anklagen und Beschimpfungen aus dem US-Kongress glaubt er nicht, dass der Iran heute ein anderes Land sei als zuvor. Neu ist vielmehr, dass mit Obama ein US-Präsident die Administration leitet, der bereit ist, einen nüchterneren Blick auf US-amerikanische und iranische Interessen zu werfen. Und hier wird deutlich: Differenzen bestehen und werden nicht verschwinden – aber es gibt auch gemeinsame Interessen. Und die Gemeinsamkeiten übersteigen die der Amerikaner mit manch anderem traditionellen Verbündeten bei weitem. Sicher, manch deutscher und europäischer Entscheidungsträger mag dies schon vorher so empfunden haben, doch erst mit dem Kurswechsel des großen Bruders konnte dies jetzt in einen veränderten Politikansatz umgesetzt werden.

Für Europa und insbesondere für Deutschland stellt der Iran ein Eldorado für Technologie im Bereich Energieeffizienz dar.

Die gemeinsamen westlich-iranischen Interessen liegen auf der Hand: Die sich rapide verschlechternden Beziehungen Europas zu Russland und die auf absehbare Zeit instabile Situation in Libyen und im Irak haben den Europäern die Notwendigkeit eines sogenannten südlichen Energiekorridors zur Deckung ihres Bedarfs vor Augen geführt. Der Iran seinerseits benötigt nicht unbedingt Deutschland als Absatzmarkt – Indien und China würden mit Freude gewaltige Gasmengen abnehmen. Doch der Iran versteht es, seinen Rohstoffreichtum als intelligentes Element der Außenpolitik einzusetzen. Die iranischen Nachbarn sind mit Teheran über Rohstoffpartnerschaften vernetzt. Und die derzeitige politische Führung in Teheran ist klug genug, eine solche Vernetzung auch mit Europa anzustreben.

Für Europa und insbesondere für Deutschland stellt der Iran ein Eldorado für Technologie im Bereich Energieeffizienz dar. Trotz gewaltiger Vorkommen schafft es der Iran nämlich bislang kaum, Gas zu exportieren. Der interne Konsum verschlingt nahezu die gesamte Produktion. Eine Partnerschaft im Bereich Energieeffizienz böte damit nicht nur westlichen Unternehmen ein neues Betätigungsfeld, sondern würde dem Iran weitere Möglichkeiten eröffnen, über Rohstofflieferungen sein internationales Renommee zu erhöhen.

Das ist die wirtschaftliche Komponente. Mit ihr ist eng die Sehnsucht des Westens nach neuen Stabilitätsankern in der Region verbunden. Spätestens seit dem Beinahe-Staatszerfall Ägyptens und der totalen Desintegration Syriens ist klar geworden, dass der Iran wie kein anderes Land in der Region staatliche Stabilität gewährleisten kann. Angesichts des Scherbenhaufens im Nahen Osten scheinen westliche Regierungen mehr und mehr bereit, ein Auge beim Thema Menschenrechte zuzudrücken, um den Iran integrieren zu können. Und auch das iranische Atomprogramm wird, anders als in der Vergangenheit, nicht mehr dramatisiert, sondern realistischer betrachtet. Das gemeinsame Ziel – oder besser gesagt: Die Idee, gemeinsame Ziele verfolgen zu können, wiegt schwerer.

Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu beklagt dies und verkennt dabei, dass es bei den Verhandlungen in Wien um mehr geht als die Sisyphos-Bemühungen, das iranische Atomprogramm zu bremsen. Die geopolitischen Umwälzungen haben dazu geführt, dass der Westen sich bemüht, den Iran in eine strategische Partnerschaft einzubinden. Dies ist in letzter Konsequenz auch gut für Israel. Denn auf keine Weise ließe sich eine Bedrohung besser bekämpfen als durch Einbindung des Feindes.

 

Eine historische Gelegenheit

Energie, Geopolitik und Terrorismusbekämpfung – die Liste gemeinsamer Interessen ist bedeutsam und ließe sich fortsetzen. Jetzt bietet sich die historische Gelegenheit, dies zu erkennen und zu nutzen. Der rasche Aufstieg des Iran vom Schurkenstaat zum Verhandlungspartner und nun zum potentiellen strategischen Verbündeten vollzieht sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit. In Teheran, Washington und Brüssel warten alle Beteiligten ungeduldig auf das Grüne Licht. Das finale Nuklearabkommen, das am 20. Juli unterzeichnet werden soll, ist auf diesem Weg ein wichtiger Schritt. Gleichzeitig ist noch nicht ausgemacht, dass dieser Schritt auch wirklich gegangen wird. Ein Scheitern ist immer noch möglich.

Ein Scheitern aber könnte sich weder der Westen noch der Nahe Osten leisten.