Japans Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist im Wandel. Am 16. Dezember 2022 verabschiedete die japanische Regierung auf einer Kabinettssitzung die „Drei Neuen Sicherheitsdokumente“ – die Nationale Sicherheitsstrategie, die Nationale Verteidigungsstrategie und den Plan zur Entwicklung der Verteidigungskräfte. Darin heißt es, dass „Japans sicherheitspolitische Lage in der Nachkriegszeit nie so schwierig war wie heute“. Folglich sollen die Verteidigungsausgaben bis zum Fiskaljahr 2027 auf zwei Prozent des BIP erhöht werden und es wurde die Einführung von Waffensystem beschlossen, die Japan zum Angriff auf feindliche Stützpunkte befähigen. In den nächsten fünf Jahren werden sich die Verteidigungsausgaben demgemäß auf insgesamt 43 Billionen Yen belaufen, etwa 270 Milliarden Euro. In der Nationalen Verteidigungsstrategie heißt es außerdem, man wolle „die Diskussionen über die jeweilige Rolle, die Aufgaben und die Fähigkeiten der USA und Japans weiter vertiefen und die gemeinsamen integrierten Abschreckungsfähigkeiten der beiden Verbündeten weiter stärken“.
Die hier konstatierte Verschlechterung der Sicherheitslage in Ostasien wird in der Tat auch von vielen japanischen Bürgerinnen und Bürgern wahrgenommen. Meinungsumfragen zeigen, dass eine Mehrheit Verständnis für die Stärkung der Verteidigungskapazitäten hat. Hintergrund ist der dramatische Anstieg der chinesischen Verteidigungsausgaben. Noch im Jahr 2000 waren Japans Verteidigungsausgaben doppelt so hoch wie die Chinas, doch in den letzten 20 Jahren hat sich das Bild dramatisch gewandelt. Der im März 2023 angekündigte chinesische Verteidigungshaushalt war mit 1,5 Billionen Yuan (210 Milliarden Euro) um 7,2 Prozent größer als im Vorjahr – ein Rekordwert – und 4,5 mal so groß wie der für das Finanzjahr 2023 verabschiedete Verteidigungshaushalt Japans.
Chinas Verteidigungshaushalt 2023 ist 4,5 mal so groß wie der Japans.
Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass das unterschiedliche Wirtschaftswachstum der beiden Länder eine entscheidende Rolle bei der Umkehrung der Verteidigungsausgaben gespielt hat. Selbst wenn Japan seine Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent des BIP erhöht, werden sich die Verteidigungskapazitäten ohne entsprechendes Wirtschaftswachstum nicht ausreichend verbessern. Außerdem wird die zur Erhöhung des Verteidigungsbudgets notwendige Steuererhöhung in einer Zeit wirtschaftlicher Stagnation das Leben der Menschen noch schwieriger machen – stagnieren doch Japans Einkommen seit nunmehr bereits drei Jahrzehnten. Nach Prognosen des Japan Center for Economic Research ist das Land beim Pro-Kopf-BIP, einem Maß für persönlichen Wohlstand, bereits von Singapur (2007), Hongkong (2014) und Taiwan (2022) überholt worden; Südkorea wird Japan vermutlich in diesem Jahr überholen.
Nicht alle Bedrohungen für die Sicherheit und den Lebensunterhalt der Bürger können also allein mit militärischen Mitteln bekämpft werden. Angesichts der begrenzten Ressourcen bedeutet eine drastische Erhöhung der Verteidigungsausgaben, dass Ressourcen geopfert werden, die normalerweise für Wirtschaftspolitik und die Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme verwendet werden könnten. Es bestehen daher berechtigte Zweifel daran, dass die Erhöhung der Verteidigungsausgaben Japan wirklich stärker und sicherer machen wird. Zumal die diplomatischen Bemühungen der Regierung zur Krisenprävention ungenügend sind.
Vom 7. bis 9. August 2023 besuchte Taro Aso, Japans ehemaliger Premierminister und heutiger stellvertretender Vorsitzender der regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP), Taiwan. Es war der erste offizielle Besuch eines amtierenden stellvertretenden LDP-Vorsitzenden auf der Insel seit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Japan und Taiwan im Jahr 1972. In seiner Grundsatzrede auf dem Ketagalan Forum – 2023 Indo-Pacific Security Dialogue, einem vom taiwanischen Außenministerium organisierten Symposium, das internationales Aufsehen erregte, sagte Aso, dass sich die Situation in der Taiwan-Straße „immer mehr einer akuten Krisensituation annähert“. Japan, Taiwan, die USA und andere Länder müssten „Kampfbereitschaft“ zeigen, um dem militärischen Druck Chinas zu begegnen. Nur dies sei eine realistische Abschreckung. Beijing reagierte heftig auf diese Erklärung, doch Aso und seine Kollegen zeigten sich davon unbeeindruckt und behaupteten wiederum, die Reaktion Chinas sei der Beweis dafür, dass ihre Aussagen als Abschreckung Wirksamkeit gezeigt hätten.
Es kommt einer Abkehr von Japans traditioneller China-Politik gleich, Abschreckungspolitik einseitig voranzutreiben, militärisch aufzurüsten sowie sich für einen militärischen Konflikt vorzubereiten, aber diplomatische Bemühungen zu vernachlässigen.
Eine verstärkte Abschreckung kann jedoch nur dann einen Krieg verhindern, wenn sie mit sensiblen diplomatischen Bemühungen kombiniert wird, um sicherzustellen, dass der anderen Seite nicht falsche Absichten vermittelt werden. Sind die diplomatischen Bemühungen Japans ausreichend? Selbst die Großmächte USA und China bemühen sich auch unter schwierigen Umständen um Dialog und Diplomatie, um das Worst-Case-Szenario einer Krise – oder sogar eines militärischen Konflikts – um Taiwan zu vermeiden. Während seines Treffens im Juni mit dem chinesischen Außenminister Wang Yi brachte US-Außenminister Antony Blinken deutlich seine Besorgnis über Chinas provokativen Aktionen in der Straße von Taiwan zum Ausdruck. Er bekräftigte aber die traditionelle Position Washingtons, dass die USA eine Unabhängigkeit Taiwans nicht unterstützten. In Bezug auf die amerikanische Beschränkung der Halbleiterexporte nach China betonte er außerdem, dass sein Land nicht versuche, China wirtschaftlich einzudämmen.
Nicht zuletzt in Anbetracht der geografischen Nähe Japans zu China sollte sich Tokio ebenfalls um die Vertiefung des Dialogs bemühen. Es kommt einer Abkehr von Japans traditioneller China-Politik gleich, militärisch aufzurüsten sowie sich für einen militärischen Konflikt vorzubereiten, aber diplomatische Bemühungen zu vernachlässigen. Diese Schwerpunktverlagerung der Politik kann katastrophale Konsequenzen haben.
Vor diesem Hintergrund ist es besonders die Präfektur Okinawa, die sich intensiv um einen Dialog mit China bemüht. Im April 2023 richtete die Präfektur ein Büro für Regionale Diplomatie ein, um den Dialog mit China und südostasiatischen Ländern zu fördern. Einige sehen diese Schritte mit Skepsis und kritisieren, dass die Hoffnung auf einen Dialog mit China nicht auf einer realistischen Einschätzung der Situation beruhe. Tatsächlich fehlt diesen Stimmen das Verständnis für die Lage in Okinawa. Dem chinesischen Festland vorgelagert, ist man sich hier der Komplexität der Lage bewusst. Aber die Realität ist eben gerade, dass die Nähe Okinawas zu China und die große Anzahl von US-Militärstützpunkten auf der Inselgruppe bedeuten, dass diese im Falle einer Taiwan-Krise als Erstes unmittelbar betroffen wäre. Wenn die Präfektur das Leben ihrer Bürger schützen will, kann es nicht in unverantwortlicher und einseitiger Weise die Idee einer chinesischen Bedrohung propagieren. Daher versucht Okinawa, sich in Sachen Sicherheitspolitik von der Regierung in Tokio zu distanzieren.
Von dieser Haltung der Präfektur Okinawa kann die Regierung in Tokio viel lernen. Nicht nur in der Taiwan-Frage, sondern auch bei der ungerechtfertigten Inhaftierung von Ausländern und der Unterdrückung der Demokratiebewegungen der Uiguren und Hongkongs sind die Probleme im Umgang mit China mannigfaltig und komplex. Die Bemühungen um die Aufrechterhaltung des Dialogs dürfen jedoch nicht vernachlässigt werden, nur weil keine Aussicht auf eine grundlegende Verbesserung gesehen wird. Eine Bedrohung, der man mit militärischen Mitteln alleine nicht beikommen kann, muss durch Dialog und andere Mittel unter Kontrolle gebracht werden. Nur mit dieser Art des Realismus kann Japan mittel- und langfristig eine sicherheitspolitische Lage meistern, die „nie so schwierig war wie heute“.