Noch vor wenigen Jahren galt Donald Trump in Neu-Delhi als verlässlicher Partner. Mit den öffentlichkeitswirksamen Auftritten 2019 in Houston – unter dem Motto „Howdy, Modi!“ – und 2020 in Ahmedabad – diesmal hieß es „Namaste, Trump“ – wurde die indisch-amerikanische Partnerschaft auf eine symbolische Ebene gehoben, die Augenhöhe und Wertschätzung suggerierte. Gemeinsame Interessen im Indo-Pazifik, wachsender Technologietransfer und gegenseitige Investitionen schienen den Weg zu einer vertieften strategischen Zusammenarbeit zu ebnen.
Doch schon während Trumps erster Amtszeit blieben Handelsfragen der wunde Punkt in den bilateralen Beziehungen. Viele öffentlich verkündete Vereinbarungen blieben hinter den Erwartungen zurück. Dennoch brachte diese Phase Fortschritte in der Verteidigungskooperation. Trumps zweite Amtszeit bedeutet für Indien hingegen weniger Kontinuität als vielmehr einen Bruch, auf den Neu-Delhi zunächst nicht vorbereitet scheint. Die angekündigten Zölle werden Indien zwar kurzfristig schmerzen, doch langfristig kann Washington mehr verlieren als Neu-Delhi.
Der Bruch vollzog sich in mehreren Etappen. Zunächst inszenierte sich Trump im Frühjahr 2025 als Vermittler im kurzzeitigen, aber intensiven Konflikt zwischen Indien und Pakistan – eine Rolle, die Neu-Delhi entschieden zurückwies. Nur wenige Wochen später folgte nun eine massive handelspolitische Kehrtwende: Als Reaktion auf Indiens anhaltende Ölimporte aus Russland verdoppelt Washington die Einfuhrzölle auf indische Produkte von 25 auf 50 Prozent.
US-Präsident Donald Trump bezeichnete Indiens Wirtschaft jüngst als „dead economy“ und kritisierte in gewohnt scharfer Rhetorik Neu-Delhis Handelspraktiken. In mehreren öffentlichen Äußerungen stellte er die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Indiens infrage und warf der Regierung mangelnde Kooperation im bilateralen Handel vor. Letzteres lässt sich nachvollziehen, da Indien tatsächlich ein schwieriger Handelspartner sein kann – vor allem aufgrund seiner protektionistischen Vorgehensweise. Trump kooperierte zudem öffentlichkeitswirksam mit Pakistan.
Indien wurde damit vom privilegierten Partner zum handelspolitischen Zielobjekt, während andere Länder wie China oder die Türkei für vergleichbares Verhalten beim Kauf russischer Energieträger kaum Konsequenzen zu spüren bekamen. So zumindest die indische Perspektive. Die Botschaft war eindeutig: In der zweiten Amtszeit Trumps zählen nicht Werte oder vorangegangene Partnerschaften, sondern allein Nützlichkeit – definiert durch Donald Trump.
Indien, das während der ersten Amtszeit noch von Sonderregelungen und symbolträchtigen Gesten profitierte, bekommt eine maximal transaktionale Außenpolitik zu spüren. Ob Trump tatsächlich den Druck auf Russland erhöhen möchte, um den Krieg in der Ukraine zu beenden, und dafür die Beziehungen zu Indien riskiert, bleibt offen. Sicher ist jedoch: Die Rolle der USA hat sich dramatisch verändert.
Über Jahrzehnte waren die Vereinigten Staaten das Rückgrat der liberalen Weltordnung – militärisch, wirtschaftlich, institutionell. Die transatlantische Allianz bildete den normativen Kern. Washington garantierte Sicherheitsstrukturen, verteidigte multilaterale Institutionen und prägte die Spielregeln der Globalisierung. All das ist vorbei. Die regelbasierte internationale Ordnung, die nach 1945 unter US-Führung aufgebaut wurde, verliert damit ihren zentralen Garanten und die Welt steht an einem historischen Kipppunkt. Auf der Reise vom Multilateralismus hin zu Multipolarität befinden wir uns derzeit im Zwischenraum – im Interregnum. Zwischen den sich abzeichnenden Machtpolen entstehen neue Allianzen, Unsicherheiten und Rivalitäten. Zugleich zeigt sich: Bislang existiert – mit Ausnahme Chinas – kein anderes Machtzentrum, das auf den Kurswechsel des ehemaligen Hegemons reagieren und etwa im Zollstreit wirksam gegensteuern könnte.
Trumps protektionistische Neuauflage mit Strafzöllen unterstreicht das Sterben der bestehenden Ordnung.
Trumps protektionistische Neuauflage mit Strafzöllen unterstreicht das Sterben der bestehenden Ordnung. Indien bleibt davon nicht verschont, verfügt jedoch noch nicht über die Fähigkeit, entsprechend zu reagieren. Die jüngsten US-Maßnahmen treffen gezielt Produkte mit strategischer Relevanz für Indien. Ein Signal, dass selbst vermeintliche geopolitische Partner in einer amerikanischen Interessendoktrin keine wirtschaftliche Bevorzugung mehr genießen.
Indien steht in dieser entstehenden Ordnung unter strukturellem Druck. Einerseits tritt das Land zunehmend als selbstbewusster geopolitischer Akteur auf: mit einer wachsenden Wirtschaft, einer jungen, dynamischen Bevölkerung und einer Regierung, die sich als Stimme des Globalen Südens positioniert. Neu-Delhi erhebt Anspruch auf eine aktive Rolle bei der Neugestaltung internationaler Ordnungsstrukturen, profitierte bisher jedoch stark von einer regelbasierten Ordnung.
Andererseits bleibt dieser Anspruch in wichtigen Sektoren aufgrund realer Verwundbarkeiten und fehlender Machtressourcen bisher noch begrenzt. In technologisch kritischen Bereichen wie der Halbleiterproduktion, der zivilen und militärischen Luftfahrt, bei Pharmawirkstoffen und im Energiesektor ist Indien weiterhin stark von globalen Lieferketten abhängig. Die eigene Industriepolitik, etwa im Rahmen des Production Linked Incentive-Programms, ist ambitioniert, aber noch nicht in der Lage, kurzfristig strategische Autarkie zu gewährleisten. Hinzu kommen strukturelle Schwächen: eine fragmentierte industrielle Basis, ein übergroßer informeller Sektor mit geringer Produktivität sowie eine im internationalen Vergleich relativ schmale Exportdiversität.
Nur wenige Branchen – vor allem IT-Dienstleistungen, Pharma und Schmuck – tragen signifikant zum Exportvolumen bei. Gleichzeitig sind viele dieser Sektoren nicht krisenresilient gegenüber protektionistischen Maßnahmen. Diese wirtschaftliche Asymmetrie macht Neu-Delhi besonders anfällig für externe Schocks wie die plötzliche Erhöhung der US-Zölle. Anders als China, das sich über Jahrzehnte eine robuste Exportarchitektur aufgebaut hat, verfügt Indien bislang nicht über vergleichbare Hebel, um flexibel auf äußeren Druck zu reagieren oder Gegenmacht aufzubauen.
Und doch liegt genau in diesem geopolitischen Schockmoment auch eine strategische Chance für Neu-Delhi. Die aktuellen Verwerfungen könnten das Land – während es seinen Aufstieg fortsetzt – darin bestärken, bestehende Initiativen zur Diversifizierung außenwirtschaftlicher Partnerschaften mit noch mehr Nachdruck zu verfolgen. Die Intensivierung der Beziehungen zur Europäischen Union, etwa durch den angestrebten Abschluss der Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen, ist Ausdruck dieser Neuausrichtung. Auch die Öffnung gegenüber wirtschaftlichen und strategischen Partnern wie Indonesien, Vietnam oder den Golfstaaten zeigt Indiens Strategie, sich breiter aufzustellen.
Indien ist auf dem Weg, eine der entscheidenden Mächte des 21. Jahrhunderts zu werden.
Gleichzeitig wächst die Bereitschaft zur taktischen Annäherung an geopolitische Wettbewerber wie China. Zwar bestehen tiefe strukturelle Gegensätze – von Grenzkonflikten bis zu divergierenden Interessen im Indo-Pazifik –, doch in einer Welt relativer Ordnungsinstabilität wird auch selektive Zusammenarbeit zur Option. Wie stark das zutrifft, könnte sich bereits beim anstehenden Gipfel der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit zeigen – zu dem auch der indische Premierminister Narendra Modi persönlich reisen soll. Indien sucht nicht die Zugehörigkeit zu einem Block, sondern will seine strategische Autonomie durch Optionserweiterung wahren.
Was in Washington als Zeichen starker Führung gilt, ist in Wirklichkeit ein außenpolitischer Fehlgriff. Indien ist auf dem Weg, eine der entscheidenden Mächte des 21. Jahrhunderts zu werden – militärisch, wirtschaftlich und geopolitisch. Dieses Land durch Zölle zu schwächen, untergräbt die eigene globale Relevanz und wird den bilateralen Beziehungen mittel- und langfristig schaden. Die letzten 25 Jahre des Vertrauensaufbaus führt Trump mit einem Handstreich ad absurdum. Auch könnten die Amerikaner damit unbewusst die strategische Perspektive auf BRICS verändern und zu einer Annäherung der Positionen in diesem Bündnis beitragen.
Der Status der USA als bevorzugter Partner Indiens ist spätestens seit August 2025 nicht mehr selbstverständlich. Er muss künftig neu verhandelt werden, denn mit Druck und Drohungen erreicht man in Indien gar nichts. Das könnte Washington im Systemwettbewerb mit China teuer zu stehen kommen. Wer in Neu-Delhi als unzuverlässig gilt, verliert Einfluss in einem Schlüsselstaat der sich entwickelnden globalen Ordnung – einem Akteur, der als wirtschaftliches und sicherheitspolitisches Gegengewicht zu Peking und als Brückenbauer im Globalen Süden zunehmend an Bedeutung gewinnt, auch wenn er im kurzfristigen Zollstreit wohl den Kürzeren ziehen dürfte.
Indien wird seine Außen-, Wirtschafts- und Handelspolitik weiter diversifizieren – in Richtung EU, ASEAN, des Nahen und Mittleren Ostens sowie des Globalen Südens. Und auch in Richtung China, wenn es den eigenen Interessen dient. In einer zunehmend volatilen Welt sind Vertrauen und Verlässlichkeit zu strategischen Ressourcen geworden – und die USA verspielen diese derzeit in Neu-Delhi.