Anfang Juni veröffentlichte das renommierte Lowy Institute in Sydney die Ergebnisse seiner jährlich durchgeführten Umfrage zur Einstellung der Australierinnen und Australier gegenüber der Welt. Mit Blick auf die Volksrepublik China zeigen die im März erhobenen Understanding Australian Attitudes to the World-Daten kaum eine Veränderung im Vergleich zum Vorjahr. Während der Regierungszeit von Premierminister Scott Morrison von 2018 bis 2022 war das Vertrauen in China rasant abgestürzt. Je stärker Peking Canberra mit Versuchen der Einflussnahme, Handelsbarrieren und politischen Kontaktsperren zusetzte, desto kritischer sahen die Australierinnen und Australier das Verhalten der Regierung von Präsident Xi Jinping.
So weit, so nachvollziehbar – zumal Morrison auch kaum eine Gelegenheit ausließ, Australiens Widerstand gegen die Maßnahmen öffentlichkeitswirksam zu zelebrieren. Dass sich die Lowy-Umfragewerte nach dem Labor-Wahlsieg im Mai 2022 und der Regierungsübernahme durch Anthony Albanese leicht erholt haben, war vor diesem Hintergrund zu erwarten. Labor hatte bereits im Wahlkampf angekündigt, das verkrachte Verhältnis wieder stabilisieren zu wollen – in der Sache standhaft, in der Form aber weniger konfrontativ sollte Australiens China-Politik daherkommen. Getreu dem stets wiederholten Motto: „Kooperieren, wo wir können, widersprechen, wo wir müssen, und immer im nationalen Interesse handeln.“
Für Richard McGregor, China-Experte bei Lowy, ist klar, dass Labors versöhnlichere Rhetorik Voraussetzung für die neuen Verständigungsbemühungen war:„Die Änderung des Tons ermöglichte es Peking, von seiner Politik der Feindseligkeit und Bestrafung abzurücken, zumal diese Politik von vornherein nicht funktioniert hatte.“ Der gerade abgeschlossene Besuch des chinesischen Ministerpräsidenten Li Qiang in Canberra, Adelaide und Perth ist der bisherige Höhepunkt der Wiederannäherung, rechtzeitig zum zehnten Jahrestag der Umfassenden Strategischen Partnerschaft, die die Länder seit 2014 verbindet. Der Besuch des Premiers reiht sich ein in eine gut choreografierte Folge von Entspannungssignalen: Im Oktober 2023 wurde die seit drei Jahren in China inhaftierte australische Journalistin Cheng Lei freigelassen; im November 2023 reiste nach sieben Jahren Besuchspause Premierminister Albanese nach China; im März 2024 besuchte Chinas Außenminister Wang Yi Australien und der bilaterale strategische Dialog wurde wiederbelebt. Zwischen Februar 2023 und April 2024 fielen auch schrittweise fast alle der 2020 von Peking aufgestellten Handelshemmnisse und Importzölle für Wein, Gerste, Kohle und Rindfleisch. Gerade in Wirtschaftskreisen ist man über die Entwicklung erleichtert – wie Warwick Smith vom Business Council of Australia anlässlich des Wang-Besuchs sagte: „Es ist wichtig, dass wir einen Dialog führen. Dies war ein Schritt in die richtige Richtung.“
Zwischen Februar 2023 und April 2024 fielen auch schrittweise fast alle der 2020 von Peking aufgestellten Handelshemmnisse und Importzölle für Wein, Gerste, Kohle und Rindfleisch.
Dass das Vertrauen der Australierinnen und Australier in China trotzdem gering bleibt, liegt an den ebenso regelmäßigen Negativschlagzeilen: Im Februar 2023 wurde der ebenfalls in China inhaftierte australische Autor Yang Hengjun zum Tode verurteilt, die Vollstreckung ist auf zwei Jahre „zur Bewährung“ ausgesetzt. Berichte der letzten Monate über die Gefährdung australischer Marineangehöriger während Einsätzen im Indo-Pazifik durch chinesische Streitkräfte sorgen in der australischen Öffentlichkeit für Sorge und Verärgerung. (Eine verbesserte Kommunikation rund um den Streitkräfteeinsatz wurde beim Gespräch zwischen Li Qiang und Albanese spontan vereinbart, ansonsten waren die konkreten Ergebnisse recht übersichtlich.)
Auch Pekings Haltung zu Russlands Angriffskrieg in der Ukraine beißt sich mit der Unterstützung der Regierung und der Solidarität der australischen Bevölkerung mit Kiew. All dies zwingt die australische Regierung ständig zu prüfen, ob und – wenn ja – wie sie auf Irritationen und Vorwürfe einer Unterminierung der regionalen und internationalen Friedensordnung durch Peking reagieren soll. Jüngst wurde der stellvertretende Premierminister und Verteidigungsminister Richard Marles deutlich genug, als er beim Shangri-La-Dialog in Singapur das Vorgehen der chinesischen Küstenwache gegen philippinische Versorgungsboote als „ernsthafte Eskalation der Spannungen und unvereinbar mit dem UN-Seerechtsübereinkommen UNCLOS und dem endgültigen und verbindlichen Schiedsspruch zum Südchinesischen Meer von 2016“ durch das internationale Schiedsgericht in Den Haag benannte. Auch Außenminister Wang Yi wird bei seinem Canberra-Besuch nicht entgangen sein, dass seine Amtskollegin Penny Wong am Tag ihres Zusammentreffens auch die freigelassene Journalistin Cheng Lei empfangen hatte, zusammen mit weiteren australischen Staatsangehörigen, die in Iran und Myanmar festgehaltenen worden waren.
Regelmäßig fordern konservative Kritiker die Regierung auf, öffentlich stärker in Konfrontation mit Peking zu gehen.
Den Kritikern der Labor-Regierung aus der konservativen australischen Opposition reichen solche Signale und Einlassungen nicht aus. Regelmäßig fordern sie die Regierung auf, öffentlich stärker in Konfrontation mit Peking zu gehen. Im zum Murdoch-Medienimperium gehörenden Australian spricht Chefkommentator Greg Sheridan von Leisetreterei und Kotau. Mit Blick auf Pekings Verhalten habe Albaneses Stabilisierungspolitik „rein gar nichts gebracht“. Das dürften die freigelassene Cheng Lei und die australischen Kohleexporteure wohl anders sehen. Justin Bassi vom Australian Strategic Policy Institute (ASPI) warnt, dass ein bilateraler Stabilisierungskurs in einem instabilen Gesamtumfeld nicht fruchten könne: „Wenn wir unsere Werte und langfristigen Interessen dem kurzfristigen Bemühen um eine reibungslose diplomatische Beziehung unterordnen, werden wir keine Stabilität erkaufen.“ Und Indo-Pazifik Vordenker Rory Medcalf vom National Security College macht deutlich, dass er die aggressive Rhetorik Dong Juns gegenüber Taiwan und den Philippinen als klares Warnsignal verstanden wissen will: Australien müsse sich jenseits der Stabilisierungspolitik auf die Erschütterungen eines Konflikts in der Region vorbereiten.
Untätigkeit kann man der Labor-Regierung diesbezüglich allerdings nicht recht vorwerfen. „Mehr tun, weniger reden“ hatte Ex-Premierminister und China-Kenner Kevin Rudd schon 2020 gefordert, und Albaneses Team hat sich an diese Maxime gehalten. Die Regierung hat eine komplett aktualisierte Verteidigungsdoktrin vorgelegt, die die wachsende Herausforderung durch China benennt und Beschaffungsplanungen entsprechend anpasst. Die Kritik – auch aus den eigenen Reihen –, der neue Fokus auf weit vorgelagerte Kampf- und Projektionskapazitäten wie den AUKUS-Booten oder Marschflugkörpern mache Australien ohne Not zur Zielscheibe einer Atommacht, lässt sie abperlen.
Im Sinne eines erweiterten Sicherheitsbegriffs scheut Canberra auch bei der wirtschaftlichen Resilienz keineswegs die Auseinandersetzung.
Im Sinne eines erweiterten Sicherheitsbegriffs scheut Canberra auch bei der wirtschaftlichen Resilienz keineswegs die Auseinandersetzung: Erst kürzlich hat Schatzkanzler Jim Chalmers ein Desinvestment chinesischer Akteure beim Seltene-Erden-Bergbauer Northern Minerals verfügt. Heimische Stimmen, die trotz der Spannungen eine Zusammenarbeit mit China bei der Umsetzung der gerade von Labor vorgestellten „Zukunft Made In Australia“-Industriepolitik vor allem im Energie- und Rohstoffbereich für sinnvoll und notwendig halten, finden nur geringe Resonanz. Wie wichtig gerade dieses Thema für Peking ist, zeigt Li Qiangs Abstecher nach Perth, wo er ein chinesisch kontrolliertes Joint Venture zur Lithium-Produktion und eine Fortescue-Anlage für die umweltschonendere Produktion von Eisen besuchte. Dass Albaneses Rede beim Runden Tisch mit Unternehmern Australiens Interesse an fortgesetzten chinesischen Investitionen deutlich machte, wird den chinesischen und australischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern gleichermaßen gefallen haben. Knackpunkt bleibt aber, wie sein klar formulierter Vorbehalt wirtschaftlicher Resilienz und nationaler Interessen im Einzelnen umgesetzt wird.
Der Vorwurf, Labor ordne entscheidende Werte dem Ziel kurzfristiger Interessenmaximierung unter, mag sich im innenpolitischen Schlagabtausch anbieten, auch mit Blick auf die binnen Jahresfrist anstehenden Wahlen. Für die im Umgang mit China fast täglich nötige Lösung einer Gleichung mit vielen Variablen taugt das Denkmodell der Opposition aber wenig. Zudem zeichnet sich am Horizont die Möglichkeit einer zweiten Trump-Präsidentschaft ab. Sollte in Washington erneut die wertevergessene und interessenfixierte Egomanie das Ruder übernehmen, ist die australische Regierung besonders gut beraten, sich jenseits von wohlfeiler Haltungspolitik ein nüchternes Verständnis der eigenen Gestaltungsmöglichkeiten – und ihrer Grenzen – zu erhalten. Dies stünde auch nicht im Widerspruch zur Bevölkerung: Bei allem Misstrauen wünscht sich laut Lowy Poll noch immer eine knappe Mehrheit eher eine stabile Zusammenarbeit mit China als ein Verhältnis, das vor allem auf Abschreckung beruht – eine Ambition, die auch bei den für Australien wichtigen Partnern im Pazifik und Südostasien viel anschlussfähiger ist. „Kooperieren, wo wir können …“ – vielleicht lassen sich perspektivisch auch in den Nachbarregionen dafür Möglichkeiten finden, jenseits der aktuellen Nullsummenspiele.