Meist sind es die – aus unserer Sicht – drakonischen Maßnahmen, die im Mittelpunkt stehen, wenn in unseren Medien von Chinas Pandemiebekämpfung berichtet wird. Auf Fallzahlen, wie sie in Deutschland derzeit in jeder Grundschule erreicht werden, reagieren chinesische Behörden schon mal mit einem zweiwöchigen Lockdown für ganze Millionenstädte. Und so ein Lockdown heißt dann nicht nur, dass Geschäfte jenseits des täglichen Bedarfs schließen, sondern dass pro Haushalt nur eine Person alle drei Tage einmal das Haus verlassen darf, um das Nötigste einzukaufen. Massentestungen von mehreren Millionen Anwohnerinnen und Anwohnern gehören ebenso ins Programm. Willkommen in der „Null-COVID“-Welt. Dabei gerät aber aus dem Blick, dass dies zugleich bedeutet: Der Großteil der chinesischen Riesenbevölkerung lebt im Alltag weitgehend unbekümmert und ohne große Einschränkungen – und das schon seit dem Ende des ersten großen Lockdowns von Wuhan und seiner Provinz Hubei im Frühjahr 2020.

Natürlich wäre das Erstellen von engmaschigen Bewegungsprofilen über Gesundheits-Apps bei uns ein Politikum. In China stört sich dagegen kaum jemand daran. „Corona-Proteste“ kennt man nur aus dem Ausland. Unmut kommt lediglich auf, wenn Lokalverwaltungen mit ihren Maßnahmen teilweise übers Ziel hinausschießen. Aber von einem politischen Vertrauensverlust in breiten Teilen der Bevölkerung wie in Deutschland und Europa kann in China keine Rede sein. Im Gegenteil, erste Studien zeigen, dass im Zuge der Pandemiebekämpfung das Vertrauen der chinesischen Bürgerinnen und Bürger zumindest in die Zentralregierung gewachsen ist. Diese Zuversicht hat auch wirtschaftliche Gründe. Nach einem Rekordtief beim BIP-Wachstum 2020 von 2,2 Prozent vermeldete die amtliche Statistik für 2021 wieder ein starkes Ergebnis von 8,1 Prozent. Damit steht China wieder einmal besser da als Europa oder die USA. Auch dass China mit seiner alternden Bevölkerung, einem vergleichsweise hohen Verbreitungsgrad von Diabetes und schlechter intensivmedizinischer Versorgung gewichtige Gründe für seine „Null-COVID“-Strategie haben könnte, wird in deutschen Medienberichten selten thematisiert.

Das Erstellen von engmaschigen Bewegungsprofilen über Gesundheits-Apps wäre bei uns natürlich ein Politikum. In China stört sich dagegen kaum jemand daran.

Derzeit steht diese Strategie jedoch vor ihrer bislang größten Herausforderung. Am 4. Februar werden die Olympischen Winterspiele von Peking eröffnet. Drei Tage zuvor begeht das ganze Land das chinesische Neujahrsfest, zu dem traditionell die meisten Menschen zu ihren Familien zurückkehren. Dies bedeutet in normalen Jahren einen explosionsartigen Anstieg der Reisebewegungen. Denn Ende 2020 lebten 376 Millionen Menschen in China nicht an ihrem Heimatort, davon 125 Millionen sogar in einer anderen Provinz. Für 2022 erließ die Nationale Reform- und Entwicklungskommission daher eine Richtlinie zur Begrenzung von Reisen, um die „dynamische Null“ bei Infektionen zu erhalten. Für den olympischen Tross und alle, die mit diesem in Kontakt kommen, wurde eine strenge Blase eingerichtet. In sie hinein kommt nur, wer nach besonders strikten – und daher umstrittenen – Grenzwerten als nicht ansteckend gilt und vollständig geimpft ist bzw. drei Wochen in Quarantäne abgesessen hat. Für vermeintlich alle Eventualitäten wurden Vorkehrungen getroffen. So verkündeten die Organisatoren zum Beispiel, dass die Pekinger Allgemeinbevölkerung noch nicht einmal bei einer Autopanne eines liegengebliebenen olympischen Busses helfen dürfe. Der Kontakt soll um jeden Preis vermieden werden.

Die Organisatoren haben sich die verschobenen Olympischen Sommerspiele von Tokyo 2021 zum Vorbild genommen – die Fußball-Europameisterschaft konnte wohl nur als abschreckendes Beispiel dienen. In Tokyo gelang es zwar, die Ansteckungen innerhalb der geschlossenen olympischen Gesellschaft niedrig zu halten. Der mediale Fokus auf die Sportereignisse verdrängte damals allerdings die Warnungen vor Corona, sodass die Vorsicht in der japanischen Bevölkerung insgesamt nachließ und die Spiele indirekt zu einem raschen Anstieg der Infektionen beitrugen. Hinzu kam die sich zeitgleich ausbreitende Delta-Variante. Peking hat sich vorgenommen, durch noch schärfere Vorkehrungen und klare Kommunikation aus diesen Ereignissen zu lernen.

Die Organisatoren haben sich die Olympischen Sommerspiele von Tokyo 2021 zum Vorbild genommen – die Fußball-Europameisterschaft konnte wohl nur als abschreckendes Beispiel dienen.

Doch trotz all dieser Vorsichtsmaßnahmen scheint die Situation kurz vor der Eröffnung angespannter denn je. Schuld ist die weit ansteckendere Omikron-Variante des Virus. Gegen diese scheint der Impfschutz chinesischer Vakzine – die einzigen, die im Land zugelassen sind, – machtlos. Rächt sich jetzt der chinesische Impfstoffnationalismus? Diesem ist zu verdanken, dass bislang noch kein einziger mRNA-Wirkstoff auf dem heimischen Markt ist. Trotz hoher Impfquote könnte die chinesische Bevölkerung daher schlecht auf diese neue Gefahr vorbereitet sein. Auch dies trägt wohl zum kompromisslosen Vorgehen selbst bei kleineren Ausbrüchen bei.

Hinzu kommt aber vor allem die große politische Bedeutung gelungener Spiele und – noch wichtiger – gründlicher sowie perfekt inszenierter Pandemiebekämpfung: Schon im März steht der Nationale Volkskongress (NVK) in Peking auf dem politischen Kalender. Es wird die letzte politische Großveranstaltung vor dem 20. Nationalkongress der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) Ende des Jahres sein. Der NVK ist die letzte Gelegenheit für Ministerpräsident Li Keqiang, um die Erfolge seiner Regierung zu präsentieren, bevor er diesen Posten aufgrund einer verfassungsmäßigen Begrenzung auf zwei Amtszeiten räumen muss. Für Staatspräsident Xi Jinping gilt eine solche Beschränkung nicht mehr: Sie wurde 2018 aus der Verfassung gestrichen. Statt der bei seinen Vorgängern üblichen zehn Jahre wird Xi aller Voraussicht nach länger im Amt bleiben und sich Ende des Jahres zunächst als Generalsekretär der KPCh und im Frühjahr 2023 schließlich als Staatspräsident bestätigen lassen.

Um die Erwartungen zu dämpfen, ließen die Olympiaorganisatoren inzwischen verkünden, das Ziel seien nicht „null Ansteckungen“ sondern „null Verbreitung“ während der Spiele.

Um diesen Bruch mit der Konvention abzufedern, sollte die Regierung eine tadellose Bilanz vorweisen können. Dabei hilft nicht, dass die Olympischen Winterspiele international ohnehin schon umstritten sind, weil sie ökologisch fragwürdig und politisch heikel sind. Die USA und einige ihrer Verbündeten haben einen diplomatischen Boykott der Spiele verkündet, um gegen die staatliche Unterdrückung der ethnischen Minderheiten in der Autonomen Region der Uiguren Xinjiang zu protestieren. Wenn also schon nicht der erhoffte Reputationsgewinn aus den Olympischen Spielen eingefahren werden kann, dann muss die Regierung umso mehr darauf bedacht sein, durch sie keinen Schaden für die eigene Bevölkerung heraufzubeschwören. Proteste von Athletinnen und Athleten aus anderen Ländern sowie weiterer Angehöriger des olympischen Lagers über ungewohnte Auflagen wird die Regierung gelassen in Kauf nehmen. Um die Erwartungen zu dämpfen, ließen die Olympiaorganisatoren inzwischen verkünden, das Ziel seien nicht „null Ansteckungen“ sondern „null Verbreitung“ während der Spiele. An seiner „dynamischen Null-COVID“-Strategie wird China voraussichtlich bis nach dem übernächsten NVK im Frühjahr 2023 festhalten.

Was danach passiert, ist offen. Auch wenn Chinas Regierung bislang mit ihrer Strategie gut gefahren und so schnell keine Kursänderung absehbar ist, kann die derzeitige Abschottung des Landes wohl nicht mehr viel länger aufrechterhalten werden – zumindest werden die Kosten hierfür immer deutlicher zu Buche schlagen. Vorsichtige Diskussionen hierüber haben auch in China begonnen. Der inoffizielle globale Wettkampf zwischen dem „Null-Covid“-Lager und anderen Ansätzen um den besten Umgang mit der Pandemie bleibt spannend. Eine passende Exit-Strategie zu entwickeln, stellt für alle die nächste Herausforderung olympischen Ausmaßes dar. Für China jedoch wiegt sie umso schwerer, da die politische Führung die Pandemiebekämpfung so dezidiert zum Erhalt der eigenen Legitimation einsetzt.