„Wahlkampf ist Zeit fokussierter Unintelligenz“, sagte der ehemalige Wiener Bürgermeister Michael Häupl im Jahr 2005. Damals wählte gerade Wien seinen Gemeinderat, kommenden Sonntag stehen in Österreich Bundespräsidentschaftswahlen an – und Häupl hätte wohl nie geahnt, wie sehr sich sein inzwischen legendär gewordener Spruch dabei bewahrheiten würde. 

Der Wahlkampf war, man muss es leider sagen, eine Zumutung, vom Amtsinhaber Alexander Van der Bellen einmal abgesehen. Aber der führt ja kaum eine Kampagne, seine Plakate sahen so aus, als wären sie aus dem Jahr 2016 übriggeblieben, als er das erste Mal angetreten war. Immerhin, auch in Wien strahlen einem von jeder Ecke die schönen Tiroler Berge entgegen. 

Van der Bellen ist ein Grüner, er führte lange die österreichische Öko-Partei an. Nach dem Wechsel in die Hofburg, dem Amtssitz des österreichischen Präsidenten, legte der gelernte Volkswirt und langjährige Professor seine Aufgabe recht hintergründig und mit einer gehörigen Portion Selbstironie an. Aber er bewährte sich in der größten verfassungspolitischen Krise, die Österreich seit dem Zweiten Weltkrieg erleben musste. Nach dem Platzen des Ibiza-Skandals setzte er eine viel gelobte Übergangsregierung aus Expertinnen und Experten ein, statt der Rechts-außen-Regierung unter Sebastian Kurz und der FPÖ konnte er ein Kabinett aus ÖVP und Grünen angeloben. 67 Ministerinnen und Staatssekretäre in nur fünf Jahren musste er ernennen, diese Zahl symbolisiert, wie sprunghaft Politik auch in Österreich inzwischen geworden ist.

Der Wahlkampf war eine Zumutung.

Van der Bellen hatte von vornherein ausgeschlossen, sich mit seinen sechs Mitbewerbern in die TV-Arena zu stellen. Das wirkte ein wenig abgehoben, war rückblickend gesehen aber klug. Denn abgesehen von ihm kandidierten diesmal eine seltsame Mischung aus Selbstdarstellern und Schwurblern, insgesamt sechs an der Zahl, vier rechts, zwei links der Mitte. Der Wahlkampf geriet bizarr bis bitter.

Das Kandidatenfeld rechts der Mitte, also Walter Rosenkranz (FPÖ), Gerald Grosz (einst FPÖ-Pressesprecher, inzwischen einer der wichtigsten rechtspopulistischen Influencer in deren einschlägigen Kanälen), Michael Brunner (von der Impfkritikerpartei MFG) und Tassilo Wallentin (ein Kolumnist des wichtigsten Boulevardblattes des Landes, der Kronen Zeitung), spulte die übliche Melange aus Brüssel-Bashing, „Wenn-ich-die-Regierung-entlassen-könnte“-Fantasien und Elitenkritik ab. 

Einer der beiden Herausforderer links der Mitte, Heinrich Staudinger (ein Schuhunternehmer und Gemeinwohl-Aktivist), fand erst gegen Ende seine Skurrilo-Höchstform, als er sich bei Fragen zu Corona und #metoo wegschwurbelte – Letzteres hält er für eine Erfindung der CIA. 

Einzig der studierte Arzt, Musiker und Satiriker Dominik Wlazny (Künstlername Marco Pogo, Gründer des Satireprojekts Bierpartei) hielt sich tadellos, außer man ist der Meinung, dass es ein Vergehen ist, mehr als einmal im Leben einen Joint geraucht zu haben, wie es ihm Österreichs bekanntester ORF-Journalist Armin Wolf in der Zeit im Bild entlockte. Wlazny mauserte sich im Laufe des Wahlkampfes zum heimlichen Kandidaten der Herzen aller von Van der Bellen enttäuschten Roten und wird dafür vor allem in Wien viel Zuspruch bekommen. Er ist ohne Zweifel ein politisches Talent, eigentlich eines, dass der SPÖ guttun würde. Ex-SPÖ-Chef Christian Kern hat sich mit ihm schon auf ein demonstratives Bier in einem Wiener In-Beisl getroffen. Gut möglich, dass Österreich mit ihm auch eine Art Fünf-Sterne-Bewegung bekommt.

Gar nicht klug war es, rückblickend gesehen, dass die beiden traditionellen Volksparteien SPÖ und ÖVP keine eigenen Kandidaten ins Rennen schickten. Noch besser wären natürlich Kandidatinnen gewesen, schließlich schreiben wir das Jahr 2022.

Österreich ist in den letzten Wochen einen großen Schritt weiter in Richtung Postdemokratie gerückt.

Zugegeben, es gibt bei diesen Wahlen keine Wahlkampfkostenrückerstattung und Van der Bellen wird mit Sicherheit wiedergewählt. Das ist ein wenig unangenehm und macht das Ganze zu einer Pflichtübung. Aber ist den Gründerparteien der Zweiten Republik unsere Demokratie wirklich so wenig wert, dass sie den Wahlkampf Selbstdarstellern und Anti-Establishment-Propagandisten überlassen – und damit hinnehmen, dass diese zur Primetime auf allen Kanälen ihre bizarren bis demokratiegefährdenden Erzählungen platzieren? 

Die Harvard-Professoren Steven Levitsky und Daniel Ziblatt zeigen in ihrem Buch Wie Demokratien sterben auf, wie wichtig etablierte Mainstream-Parteien in Krisenzeiten sind. Sie sollten das Wohl des Landes im Auge haben, also „staatstragend“ agieren, und nicht einfach akzeptieren, dass Extremisten eine Chance bekommen – weder in ihren eigenen Reihen noch als Koalitionspartner. Als Musterbeispiel für dieses Verantwortungsgefühl loben Levitsky und Ziblatt jene hochrangigen ÖVPler, die sich 2016 in der überparteilichen Wahlbewegung für Bundespräsident Alexander Van der Bellen engagierten, um den Gegenkandidaten der FPÖ, Norbert Hofer, zu verhindern. Wenn SPÖ und ÖVP es diesmal schon mit eigenen Kandidatinnen gelassen haben, wo sind dann eigentlich ihre Bekenntnisse und Kampagnen für Van der Bellen geblieben?

Die Folgen für Österreichs politische Kultur sind gravierend. Wir sind in den letzten Wochen einen großen Schritt weiter in Richtung Postdemokratie gerückt. Nicht etablierte Parteien, sondern Ad-Hoc-Wahlbewegungen mit populistischen Charismatikern machen Politik. Das fällt in eine sehr sensible Zeit.

Nicht etablierte Parteien, sondern Ad-Hoc-Wahlbewegungen mit populistischen Charismatikern machen Politik.

Die Pandemie hat uns voneinander entfremdet, der Krieg Russlands gegen die Ukraine verunsichert viele, die Angst haben, sich das Leben nicht mehr leisten zu können. All das zusammen ist der perfekte Nährboden für radikale, antidemokratische Führer. Establishment gegen Anti-Establishment, das ist dann die Front, entlang derer Politik funktioniert – in den USA seit Donald Trump, in England seit Boris Johnson, nun in Italien mit Giorgia Meloni und vermutlich auch bald in Schweden mit den Schwedendemokraten. 

Der Bundespräsidentschaftswahlkampf war ein bitterer Vorgeschmack darauf. Hoffen wir, dass die Wählerinnen und Wähler den Kandidaten kommenden Sonntag deutlich zeigen, was sie davon halten.