Am dritten Jahrestag des Kampfes gegen das Lukaschenko-Regime haben die belarussischen demokratischen Kräfte für die westliche Welt an Bedeutung gewonnen und sind weniger zersplittert, als skeptische Stimmen es nach dem Ende der Demonstrationen im Land vielleicht erwartet hatten. Aber das hat die Opposition nicht davor bewahrt, recht ideenlos in Bezug auf das weitere Vorgehen zu sein.

Am 6. August hielten die belarussischen demokratischen Kräfte ihre traditionelle Jahreskonferenz in Warschau ab. Dabei zeigte sich, dass sich eine relativ stabile Konstellation von Oppositionskräften herausgebildet hat, in der seit Herbst 2020 Swetlana Tichanowskaja und ihr Büro eine Schlüsselrolle spielen. Hinter Tichanowskaja steht mit ihrem Übergangskabinett eine „Exilregierung“. Im Laufe des letzten Jahres gelang es dem Kabinett, größere Skandale zu vermeiden, aber es hat doch schon eine „Ministerin“ und einen „Minister“ verloren – Tatjana Saretskaja, die für die Mittelakquise für das Gremium zuständig war, und Alexander Asarow, den Leiter von BYPOL, der heute zersplitterten Vereinigung ehemaliger Sicherheitskräfte.

Das Kabinett war eine gute Koalitionslösung in der Krise, die sich vor einem Jahr in der Opposition zusammenbraute. Es handelt sich um ein Bündnis zwischen Tichanowskaja und einem der anderen ehrgeizigen Oppositionsführer, dem früheren belarussischen Kulturminister Pawel Latuschko. Zudem tauchten im Kabinett neue und im Jahr 2020 noch wenig bekannte Gesichter in der Oppositionspolitik auf, wie der „Verteidigungsminister“ Walerij Sachatschik und Olga Gorbunowa, die sich um politische Gefangene kümmert. Gleichzeitig mangelt es dem Gremium noch an einer stabilen Struktur, an ausreichender Finanzierung und politischen Erfolgen.

Neben dem Büro von Tichanowskaja, dem „Sekretariat der gewählten Präsidentin“ und ihrer Exilregierung, tauchte ein Proto-Parlament – der Koordinierungsrat – im Ökosystem der demokratischen Kräfte auf. Zu Beginn dieses Jahres wurde dieser Rat wieder zum Leben erweckt, nachdem er seit Herbst 2020 – als alle seine führenden und aktiven Mitglieder entweder inhaftiert oder aus dem Land gejagt wurden – kaum noch existent gewesen war. Jetzt ist der Koordinierungsrat zu einem Gremium geworden, in das alle bekannten politischen Strukturen und Nichtregierungsorganisationen Abgeordnete schicken können, wenn sie wollen. Die Ratsmitglieder übernehmen Kontrollfunktionen. Beispielsweise musste Asarow Anfang August nach einem Misstrauensvotum des Rates von seinem Ministerposten zurücktreten.

Für dieses alternative Machtzentrum in der Opposition ist Tichanowskaja keine unumstößliche Autorität, sondern eher eine unentschlossene Führungsperson.

Seit Ende 2022 nimmt ein alternatives Machtzentrum in der Opposition allmählich Gestalt an. Für dieses Zentrum ist Tichanowskaja keine unumstößliche Autorität, sondern eher eine unentschlossene Führungsperson, die sich in Diplomatie übt, während die aktuelle Situation einen gewaltsamen Machtwechsel erfordert. Diese Sichtweise vertreten sowohl die Führung des Kastus-Kalinouski-Regiments, der größten Einheit belarussischer Freiwilliger in der Ukraine, als auch einige kompromisslose Organisationen, die sich dem Widerstand angeschlossen haben, wie die „Cyberpartisanen“.

Das Entstehen eines alternativen Oppositionszentrums rund um die unversöhnlichsten und militantesten Strukturen, die einen anderen Weg zur Befreiung von Belarus einschlagen wollen, war symptomatisch für die Tatsache, dass der Rest der Opposition mit so einer Vision Probleme hatte.

Nachdem das belarussische Regime von einem metaphorischen zu einem tatsächlichen russischen Militärstützpunkt geworden war, wurde offensichtlich, dass ein Regimewechsel in Belarus untrennbar mit dem Ausgang des Krieges in der Ukraine verbunden ist. Solange Russland keine ernsthafte Kriegsniederlage erleidet oder unter der Last des Krieges schwächelt, hat der Kreml ein klares Motiv und die Bereitschaft, Ressourcen aufzuwenden, um in Belarus ein pro-russisches Regime aufrechtzuerhalten. Die loyale Macht in Minsk wird gebraucht, um weiterhin eine mögliche Bedrohung im Norden der Ukraine zu haben, um den Ostflügel der NATO in Schach zu halten – und jetzt auch um die Sicherheit der in Belarus stationierten russischen Atomwaffen zu gewährleisten. Selbst wenn Lukaschenko sterben sollte, bevor Russland schwächelt, wäre es sehr wahrscheinlich, dass nur jemand seine Nachfolge antreten würde, den Moskau billigt oder gar selbst aussucht.

Was kann die Opposition in so einer Situation überhaupt tun? Jeder Versuch, „vor Ort“ Proteste oder Untergrundaktivitäten zu organisieren, ist aufgrund der untragbaren Risiken, die eine Beteiligung daran für die Menschen innerhalb von Belarus bedeutet, zum Scheitern verurteilt. Eine einzige unzuverlässige oder nicht richtig auf digitale Sicherheit achtende Person reicht aus, um aus dem Protestforum eine Verhaftungsliste zu machen. Folterungen in Gefängnissen, stalinistische Bedingungen für alle, die Proteste anführen, Massenentlassungen von Regimegegnern – all das bringt aktive Menschen in Belarus, die noch nicht verhaftet wurden, dazu, das Land zu verlassen.

Und es gibt niemanden, der von außen eine gewaltsame Befreiung von Belarus durchführt. Hunderte von leichtbewaffneten Freiwilligen des Kalinouski-Regiments und anderer Einheiten reichen nicht aus, um den belarussischen Machtapparat zu stürzen. Nach den gescheiterten Einsätzen im Irak und in Afghanistan will auch die NATO nicht eingreifen, vor allem nicht angesichts der atomaren Bedrohung, die hinter Lukaschenko steht. Und die ukrainische Armee hat in ihrem eigenen Territorium mehr als genug zu tun.

Die Opposition hat jeden Einfluss darauf verloren, was in Belarus passiert, und verfügt kaum über Möglichkeiten, das Regime unter Druck zu setzen.

Die Sanktionen, die lange von der Opposition gefordert und schließlich vom Westen gegen Lukaschenko und verschiedene Bereiche der belarussischen Wirtschaft verhängt wurden, sind seit zwei Jahren in Kraft. Ein Problem mit Sanktionen ist jedoch, dass es in der Geschichte so gut wie nie gelungen ist, mit ihnen einen Regimewechsel herbeizuführen. Im Fall von Belarus ähneln sie dem Verstopfen einer kleinen Zuleitung zum Pool, der von einer anderen, viel größeren Leitung gefüllt wird. Mit Lukaschenkos Verhalten zufrieden, ist Russland gewillt, ihm unter die Arme zu greifen – mit verbilligten Energielieferungen, mit einem Aufschub fälliger Kreditrückzahlungen sowie mit Logistik, um die Sanktionen des Westens zu umgehen. Natürlich ist die belarussische Wirtschaft durch die Sanktionen und den Krieg schwer beeinträchtigt und damit noch verwundbarer gegenüber Erschütterungen aus Russland wie der Schwächung des Rubels. Aber es ist kein Zusammenbruch der Wirtschaft in Sicht, der das Regime destabilisieren könnte.

Gleichzeitig scheinen die Sanktionsmöglichkeiten so gut wie erschöpft. Eine der letzten wirklich harten Maßnahmen – die komplette Schließung aller Straßen- und Schienenverbindungen mit Belarus durch seine westlichen Nachbarn – wird in Riga, Vilnius und Warschau schon diskutiert. Aber vorläufig wollen sie eine mögliche Blockade nicht präventiv einsetzen, sondern als Drohmittel bewahren, um Lukaschenko von Provokationen unter Einsatz des russischen privaten Militärunternehmens Wagner abzuhalten, dessen Kämpfer nach dem Aufstand im Juni nach Belarus gegangen sind.

All das hat zur Folge, dass die Opposition jeden Einfluss darauf verloren hat, was in Belarus passiert, und kaum über Möglichkeiten verfügt, das Regime unter Druck zu setzen, zumindest nicht in Bezug auf die Destabilisierung Russlands oder seiner Beziehungen zu Lukaschenko. Die Pläne und Initiativen der Opposition verlagern sich allmählich in Richtung der Interessen der belarussischen Diaspora.

Zum einen werden Pläne geschmiedet, in diesem Winter Online-Wahlen zum Koordinierungsrat abzuhalten, um ihm mehr Legitimität zu verleihen. Diese Stimmabgabe wird als Alternative zu den im Februar in Belarus stattfindenden Parlaments- und Kommunalwahlen erachtet, bei denen niemand erwartet, dass die Opposition auch nur symbolisch die Gelegenheit erhält, sich aufzustellen und Wahlkampf zu machen. Aber angesichts des Risikos, das schon bei der Teilnahme an einer von der Opposition organisierten virtuellen Wahl besteht, und der Entpolitisierung in Belarus, werden alle für den Koordinierungsrat Kandidierenden und die überwiegende Mehrheit der Menschen, die ihre Stimme abgeben, aus der Diaspora kommen.

Eine weitere ehrgeizige Initiative ist der „Neue Belarussische Reisepass“. Die demokratischen Kräfte haben ein Reisedokument entworfen, das den Belarussen und Belarussinnen, die ihr Land verlassen haben und deren Reisepässe abgelaufen sind, theoretisch dabei helfen soll, ihre Reiseprobleme zu beseitigen. Es wird großer Anstrengungen bedürfen, die westlichen Regierungen davon zu überzeugen, dass dieses Dokument in einem zuverlässigen Verfahren ausgestellt wird und anerkannt werden sollte. Hier versteht sich von selbst, dass sich diese Initiative an eine Zielgruppe wendet, die nicht in Belarus lebt.

Und schließlich hat sich die Opposition während der Konferenz in Warschau auf ihre geopolitische Ausrichtung geeinigt. Jetzt beziehen die demokratischen Kräfte offiziell diese Position: Belarus sollte der EU beitreten und sich aus allen Verbindungen mit Russland zurückziehen. Die symbolische Bedeutung dieser Erklärung liegt vor allem darin, dass die Opposition hier erstmals bewusst von ihrem Bestreben abweicht, die Meinung der belarussischen Mehrheit zu vertreten. Bisher vermied Tichanowskaja Positionen, die in der belarussischen Gesellschaft nicht populär waren.

In der belarussischen Bevölkerung lag die Unterstützung für einen EU-Beitritt in den letzten Jahren zwischen 15 und 25 Prozent.

In der belarussischen Bevölkerung lag die Unterstützung für einen EU-Beitritt in den letzten Jahren zwischen 15 und 25 Prozent. Mit diesem Schritt hin zur Rolle einer aktiven Minderheit akzeptieren die belarussischen demokratischen Kräfte die traurige Wahrheit: Die Verbindung zwischen ihnen und der Mehrheit der Bevölkerung in Belarus ist zerrissen und es hat in absehbarer Zukunft keinen Sinn, um ihre Stimmen zu kämpfen. Langfristig setzt man auf einen Wind of Change, der gleichzeitig die Regime in Moskau und Minsk schwächen könnte. Es ist ungewiss, wie die belarussische Mehrheit auf eine solche neue Realität reagieren würde. Aber bis diese Vision zu einer Realität wird, ist der Weg der Opposition in ihr Heimatland versperrt und daher sind ihre politischen Verluste aufgrund ihrer Orientierung hin zur europäischen Integration nicht so hoch.

Allerdings verschwindet die konzeptionelle Krise der Opposition nicht hier und jetzt, denn die Frage „Was sollten wir tun?“ muss auf die eine oder andere Weise beantwortet werden. Die demokratischen Kräfte haben bei ihren Vorhaben und Zielen die Latte schon tiefer gelegt, aber bis jetzt ist es schwierig für sie, öffentlich zuzugeben, dass ihnen eigentlich nichts weiter bleibt, als die Welt an die Probleme der Belarussen und Belarussinnen zu erinnern, ihre humanitären Probleme zu lösen und ihre Selbsterhaltung zu unterstützen, bis bessere Zeiten kommen.

Aus dem Englischen vom Ina Goertz