Spanien steht kurz vor Parlamentswahlen, die für die seit Januar 2020 regierende, linksgerichtete Koalitionsregierung das Ende bedeuten könnten. Nach der Wahlniederlage der Regierungsparteien in den Kommunal- und Regionalwahlen am 28. Mai hatte Ministerpräsident Pedro Sánchez vorgezogene Neuwahlen ausgerufen. Die Wahlen im Mai hatten der konservativen Rechten einen eindeutigen Wahlsieg beschert und der Rechtsaußen-Partei Vox endgültig den Weg in die Parlamente aller autonomen Gemeinschaften geebnet. In Koalition mit der konservativen Volkspartei Partido Popular (PP) gelang es Vox darüber hinaus, eine Regierungsbeteiligung in einigen der wirtschaftlich stärksten Regionen zu erreichen, wie in Valencia oder auf den Balearen.

Die spanischen Wählerinnen und Wähler sehen den Wahlen am kommenden Sonntag in einem stark polarisierten Umfeld entgegen. Ein Hinweis für diese Polarisierung ist der Anstieg extremer ideologischer Positionen im Vergleich zu vor vier Jahren: Der Anteil der Bürger, die sich selbst als linksextrem einstufen, hat sich verdreifacht (auf 15 Prozent) und der Anteil derer, die sich ganz rechts einordnen, hat sich verfünffacht (auf 7,9 Prozent). Aufgrund dieser Polarisierung ist mit einer hohen Wahlbeteiligung zu rechnen.

So geht eine Legislaturperiode zu Ende, die für die Regierung von Pedro Sánchez nicht leicht war. In weniger als vier Jahren hatte sie mit zwei exogenen Schocks zu kämpfen: im Jahr 2020 mit der Corona-Pandemie und 2022 mit dem Ukraine-Krieg. All das mit einer Minderheitskoalition, einer Regierungsform, deren Überlebenschancen von Haus aus geringer sind. Sánchez ist es gelungen, den Großteil der Legislaturperiode zu überstehen, doch die Regierung hat sich dabei aufgerieben: einerseits in den zahlreichen Verhandlungen zur Sicherung parlamentarischer Mehrheiten, um Gesetze im Parlament durchzubekommen, und andererseits in den internen Reibereien zwischen den Koalitionspartnern.

Der Normalisierungsprozess der Beteiligung einer rechtsradikalen Partei in den spanischen Institutionen verlief rasant.

Im Wahlkampf war einer der Hauptkritikpunkte der größten Oppositionspartei Partido Popular, dass Sánchez sich für einige seiner Gesetzesvorhaben die Unterstützung katalanischer und baskischer Separatistenparteien gesichert hat. Diese Parteien stoßen bei einem Großteil der Wähler auf enorme Ablehnung, welche bei gemäßigten und konservativen Wählern größer ist als ihre Abneigung gegenüber Vox. Darüber hinaus stehen die Wählerinnen und Wähler der politischen Mitte Vox praktisch genauso ablehnend gegenüber wie dem Koalitionspartner von Ministerpräsident Sánchez, Unidas Podemos. Demnach bestand die Hauptstrategie der Partido Popular während dieses Wahlkampfs auch darin, diesen Bruch weiter zu vertiefen, indem sie die Regierung Sánchez als radikale Regierung darstellte, die von linksextremen und separatistischen Parteien abhängig ist.

Der Erfolg der Wahlkampfstrategie der Partido Popular besteht vor allem in der Überlagerung der von der Regierung eingeleiteten Reformagenda mit der territorialen und ideologischen Spaltung, welche in der Abneigung der gemäßigten Wählerschaft gegenüber Unabhängigkeitsparteien und linksextremen Parteien zum Ausdruck kommt.

Dies erklärt auch das Paradoxe an der Situation, vor der die Regierung bei diesen Wahlen steht. Obwohl viele der in dieser Legislaturperiode verabschiedeten Gesetze (unter anderem die Erhöhung des Mindestlohns, die Arbeitsmarktreform oder das Sterbehilfegesetz) bei der Bevölkerung auf breite Zustimmung stoßen, hält jeder zweite Bürger die Politik der Regierung für schlecht oder sehr schlecht.

Die Wahlprognosen sind sich in einem relativ sicher: Die Partido Popular wird am nächsten Sonntag die meistgewählte Partei sein. Angesichts der fragmentierten Parteienlandschaft ist dies jedoch noch keine Garantie für eine Regierungsbildung, weshalb die eigentliche Frage darin besteht, ob die Summe der von PP und Vox erzielten Sitze ihnen eine parlamentarische Mehrheit ermöglicht, welche bei 175 Sitzen liegt.

Auch eine Blockade und eine Wiederholung der Wahlen sind nicht ausgeschlossen.

Der Normalisierungsprozess der Beteiligung einer rechtsradikalen Partei in den spanischen Institutionen verlief rasant. Seit ihrem unerwarteten Einzug in das andalusische Regionalparlament in den Wahlen 2018, über die Unterstützung von außen für die Regierung in Andalusien oder in der Region Madrid bis hin zu ihrem Einzug in die Regierung verschiedener autonomer Gemeinschaften als Koalitionspartner, war die Debatte über eine Brandmauer gegen Vox nie eine echte Option. Daher ist es wahrscheinlich, dass die radikale Rechte an der nächsten spanischen Regierung beteiligt sein wird, nämlich wenn die Partido Popular die Unterstützung von Vox braucht, um eine Mehrheit im Parlament zu erreichen.

Auch andere Szenarien sind als Ergebnis der Wahlen am kommenden Sonntag denkbar, wenn auch weniger wahrscheinlich. In Spanien kann eine Regierung entweder von einer absoluten Mehrheit im ersten Wahlgang oder von einer relativen Mehrheit im zweiten Wahlgang gewählt werden. Ein potenzielles Szenario ist daher, dass die vom linken Lager erzielten Sitze – angeführt von der sozialistischen Arbeiterpartei PSOE und der neuen Koalition Sumar, die die Parteien links von der PSOE zusammenfasst, einschließlich des früheren Koalitionspartners Unidas Podemos – ihnen eine Fortsetzung der  Minderheitskoalition ermöglichen, sofern sie bei der Wahl zur Einsetzung der neuen Regierung auf die Unterstützung anderer (nationalistischer oder regionalistischer) Parteien zählen können. Die Wahlprognosen deuten schließlich darauf hin, dass die PSOE und Sumar weit von einer absoluten Mehrheit entfernt sind. 

Auch eine Blockade und eine Wiederholung der Wahlen sind nicht ausgeschlossen. Dies hängt in erster Linie von den Wahlergebnissen einiger Separatistenparteien und deren Positionierung bei der Wahl der neuen Regierung ab. Für eine mögliche Regierung des linken Lagers sind diese Faktoren von ausschlaggebender Bedeutung. Diese Parteien würden gegen die Einsetzung einer konservativen Regierung stimmen, weshalb es ohne eine absolute Mehrheit der Stimmen von Vox und PP zu keiner konservativen Regierung kommen könnte. Sollte jedoch das linke Lager die absolute Mehrheit weit verfehlen, bräuchten sie für eine Regierungsbildung die Zustimmung der Separatistenparteien (eine Stimmenthaltung wäre möglicherweise nicht ausreichend). Sollten sich die separatistischen Parteien in dieser Situation weigern, die Einsetzung einer linksgerichteten Koalition mitzutragen, wären eine Blockade und eine Wahlwiederholung fast unausweichlich.

Aus dem Spanischen von Simone Hess