Die letzte Woche vor den Parlamentswahlen in der Republik Moldau ist nicht arm an Dramatik: Am Montagmorgen nahm die moldauische Polizei 74 Personen fest, die sich in serbischen Trainingslagern angeblich auf Nachwahlkrawalle vorbereitet hatten. Am Abend warnte Präsidentin Maia Sandu vor einer möglichen russischen Übernahme des Landes, sollten am Sonntag die „Falschen“ gewinnen. Hunderte Millionen Euro seien auf dem Weg nach Moldau, um hunderttausende Stimmen zu kaufen. Ein Sieg „prorussischer Kräfte“ könnte das Land, so Sandu, zum Ausgangspunkt für einen russischen Angriff auf das ukrainische Odessa machen.

Die Botschaft der Präsidentin ist eindeutig: Nur ihre bislang allein regierende „Partei für Aktion und Solidarität“ (PAS) könne Unabhängigkeit und Frieden sichern. Am Dienstag reagierte der Kreml mit der Warnung, die NATO stehe kurz davor, Moldau zu besetzen. Igor Dodon, Ex-Präsident und Anführer des in manchen – notorisch unzuverlässigen – Umfragen vorn liegenden Wahlblocks „die Patrioten“, sieht derweil in Trump’scher Manier sein Land in einem Abwehrkampf gegen ein „liberal-globalistisches Brüsseler Diktat“.

Für Moldau ist es nicht die erste Wahl, die von Alarmismus, Geopolitik und von der Ost-West-Frage geprägt ist. Schon die Präsidentschaftswahl vor einem Jahr, gekoppelt mit einem Referendum über die EU-Integration, verlief ähnlich. Nach viel Dramatik folgte damals eine rasche Entspannung: In der Nacht nach dem ersten Wahlgang sprach Maia Sandu noch von bis zu 300 000 gekauften Stimmen, stellte diese Rhetorik jedoch abrupt ein, als sich dank der später eintreffenden Ergebnisse aus der Diaspora ein Erfolg des Referendums abzeichnete. Zwar wurden anschließend einige Dutzend Strafverfahren eröffnet und einzelne Urteile gefällt, doch insgesamt konnten die Ermittlungen das Ausmaß der behaupteten Manipulationen nicht überzeugend belegen.

Die Gefahr russischer Einflussnahme durch Bestechung und mediale Manipulation ist real. Umstritten bleibt jedoch ihr Ausmaß. Viele Moldauer vermuten, die PAS-Regierung übertreibe das Problem. Polarisierung erweist sich als nützliche Wahlkampfstrategie, zumal die wirtschaftspolitische Bilanz mager ausfällt. Nach der kriegsbedingten Rezession von 2022 stagniert das Wachstum, während die Verbraucherpreise seither um mehr als 60 Prozent gestiegen sind. In der Amtszeit der PAS haben sich die Gaspreise für Haushalte verdreifacht, die Strompreise mehr als verdoppelt – eine Folge des Abbruchs der Energiebeziehungen zu Russland. Der Anteil der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze stieg von einem Viertel auf ein Drittel. Gleichzeitig boomte der Absatz von Premium-PKW – ein Hinweis darauf, dass die nach Russlands Angriff auf die Ukraine reichlich fließenden Hilfsgelder zwar einigen, aber längst nicht allen zugutekamen.

Vor diesem Hintergrund scheint die PAS nur gewinnen zu können, wenn es ihr gelingt, die Alltagssorgen der Menschen mit geopolitischen Themen zu überlagern. Rückendeckung erhält sie dabei von der Europäischen Union: Ende August reisten Friedrich Merz, Emmanuel Macron und Donald Tusk zum Unabhängigkeitstag in die 2,5-Millionen-Republik. Und EU-ErweiterungskommissarinMarta Kos betont fast wöchentlich, ein EU-Beitritt sei – mit der richtigen Regierung – nur noch eine Frage der Zeit.

Kaum diskutiert wird, welche Kollateralschäden die EU-Politik in Moldau anrichtet.

Für die klare Unterstützung der „Pro-Europäer“ gibt es mehrere Gründe. Die Wirtschaftskrise ist in erster Linie Folge des russischen Angriffskrieges, und die Stabilisierung Moldaus liegt im europäischen Interesse. Zugleich passen Erzählungen vom Kampf gegen Russlands hybriden Krieg gut in die Zeit. Dabei ist bei weitem nicht jede Kritik am Regierungskurs von Moskau gesponsert. Zudem benötigt Brüssel nach dem weitgehenden Scheitern der europäischen Nachbarschaftspolitik andernorts dringend ein leuchtendes Reformbeispiel. Über Rückschritte in der Medienpolitik und beim Wahlzugang sowie über die verkorkste Justizreform wird daher großzügig hinweggesehen – wenn diese nicht sogar als Ausweis geopolitischer Abgeklärtheit oder einer wehrhaften Demokratie gefeiert werden. Kritisch ist zudem die Brüsseler Finanzhilfe: Allein in diesem Jahr flossen rund 300 Millionen Euro – rund 1,8 Prozent der moldauischen Wirtschaftsleistung. Unter anderem können dank der EU-Millionen durch Kompensationszahlungen die schlimmsten Auswirkungen der Energiepreiskrise abgemildert werden.

Kaum diskutiert wird, welche Kollateralschäden die EU-Politik in Moldau anrichtet. Die pauschale Diskreditierung jeglicher Opposition vertieft die gesellschaftliche Spaltung. Laut Umfragen empfinden bis zu zwei Drittel der Bevölkerung die Besuche europäischer Spitzenpolitiker als einseitige Parteinahme für die regierende PAS. Eine EU-Müdigkeit greift um sich – die PAS hat es eben nicht geschafft, die Westintegration im nationalen Konsens voranzutreiben. Stattdessen droht der EU-Beitritt in den Strudel der innenpolitischen Polarisierung zu geraten.

Abgesehen davon ist ein russischer Masterplan zur Machtübernahme in Chisinau kaum erkennbar. Zwei aus insgesamt acht Parteien gebildete Wahlblöcke – die „Patrioten“ um Dodon und die „Alternative“ des Chisinauer Bürgermeisters Ion Ceban – gelten als aussichtsreichste Mitbewerber. Hinzu kommt „Unsere Partei“ des schillernden Unternehmers Renato Usatîi, der stark den Eindruck erweckt, nach der Wahl dem Meistbietenden seine Unterstützung anbieten zu wollen. Selbst wenn diese drei Kräfte zusammen mehr als 50 Prozent der Stimmen erzielen sollten, wären sie gemeinsam kaum regierungsfähig.

Die Parteiführer können ihre wechselseitigen Abneigungen schon jetzt kaum verbergen. Russlands Strategie, an der auch der nach Moskau geflüchtete Oligarch Ilan Shor tatkräftig mitwirkt, zielt daher vor allem auf Disruption. Die moldauischen Behörden scheinen Shors Netzwerke im Land jedoch weitgehend eingedämmt zu haben. Anfang August wurde Evghenia Guțul, die Shor-nahe und 2023 gewählte Gouverneurin Gagausiens, wegen illegaler Parteifinanzierung zu sieben Jahren Haft verurteilt. Das harte Urteil gegen die Mutter zweier Kinder sollte offenkundig auch eine abschreckende Wirkung entfalten. Seit Wochen hält die Polizei mit zahlreichen Hausdurchsuchungen den Ermittlungsdruck hoch. Auch wegen der gut dokumentierten Geldflüsse an „Aktivisten“ sind Straßenproteste weitgehend diskreditiert. Zwar sieht man in Moldaus Mittelschicht und Jugend die PAS-Regierung durchaus kritisch – doch niemand möchte den Eindruck erwecken, als Handlanger Moskaus gegen sie auf die Straße zu gehen.

Die Suche nach einem Koalitionspartner wurde auf die Zeit nach der Wahl verschoben.

Das wahrscheinlichste Ergebnis der Wahl ist eine einfache Mehrheit für die PAS, die diese durch eine möglichst starke Mobilisierung der Diaspora zu erreichen versucht. Die Zahl der Wahllokale im Ausland wurde im Vergleich zum Vorjahr noch einmal um 67 auf 301 erhöht. In Regionen, in denen die Regierung wenig Zustimmung erwartet, wurden die Wahlmöglichkeiten hingegen eingeschränkt – dazu zählt neben Russland auch der abtrünnige Landesteil Transnistrien. Keine Umfrage erfasst die Stimmung in der Diaspora, und 30 bis 40 Prozent der Befragten im Land gaben zuletzt an, noch unentschieden zu sein. In dieser Ungewissheit setzt die PAS ganz auf Sieg. Die Suche nach einem Koalitionspartner wurde auf die Zeit nach der Wahl verschoben. Zwar hat der polarisierende Wahlkampf diese Aufgabe nicht erleichtert, doch die Hoffnung ruht auf hinreichendem Opportunismus – und einem Auseinanderbrechen der oppositionellen Wahlblöcke.

Selbst das weniger wahrscheinliche Szenario einer Regierung ohne die PAS wäre keine Tragödie. Geografisch bleibt Moldau durch die Ukraine von Russland getrennt – eine Alternative zu Europa gibt es nicht. Nur noch 3,3 Prozent der Exporte gehen nach Russland, einst war es mehr als die Hälfte. Eine Wiederaufnahme der früher lukrativen Gasbeziehungen mit Moskau dürfte Kiew verhindern, das den Transit kontrolliert. Entscheidender noch: Die Hinwendung der moldauischen Eliten nach Europa hat eine über 20-jährige Tradition. Sie begann unter Präsident Vladimir Voronin, nachdem dessen Versuch, mithilfe des Kremls den Konflikt um die abtrünnige Region Transnistrien zu lösen, Ende 2003 gescheitert war. Heute ist Voronin mit seiner Kommunistischen Partei Teil des Wahlblocks „die Patrioten“. Trotz aller „prorussischen“ Rhetorik werden auch diese Kräfte kaum ein Interesse am Verlust staatlicher Souveränität oder an einer Einengung des außenpolitischen Handlungsspielraums haben.

Paradoxerweise bleibt der Transnistrien-Konflikt das größte Hindernis auf dem Weg in die EU. In Brüssel heißt es, meist hinter vorgehaltener Hand, man habe sich nach der Zypern-Erfahrung geschworen, kein zweites Land mit einem ungelösten Territorialkonflikt aufzunehmen. Eine künftige moldauische Regierung, der es ernst ist mit der europäischen Integration, muss daher das Land einen, statt es weiter zu spalten. Erst wenn Wahlen nicht länger als Entscheidungsschlacht um die geopolitische Ausrichtung geführt werden, hat die Europäisierung von Moldau wirkliche Chancen auf Erfolg.