Die fluide Realität eines Krieges entzieht sich oft jeglichen Prognosen und konterkariert regelmäßig politische Strategien. Der Erfolg der ukrainischen Gegenoffensive ist beeindruckend und kommt dank der professionellen Vorbereitung und Geheimhaltung auch überraschend. Die deutsche Berichterstattung vergangenes Wochenende war geprägt von einer diskursiven Wende zum Krieg in der Ukraine. Wurde vorherige Woche noch viel von einem langen „Wutwinter“, von schwindender Opferbereitschaft der Europäerinnen und Europäer angesichts der Straßenproteste in Prag, Leipzig und Köln und von Zweifeln an der langfristigen Widerstandsfähigkeit der Ukraine geredet, hat man diese Woche euphorische Klänge zur neuen Offensive der Ukraine gehört und viele sehnen schon die Palastrevolution im Kreml herbei.

Der entscheidende und erfolgreiche Vorstoß der Ukraine hat an einem Wochenende, an dem in Russland auch Kommunalwahlen durchgeführt wurden, auf jeden Fall auch zu Aufregung in den politischen Kreisen Russlands geführt. Das sichtbarste Zeichen hierfür ist die Kakofonie der Stimmen aus Staatsapparat und Propagandamaschinerie, die versuchten, die Ereignisse aus den unterschiedlichsten politischen Blickwinkeln einzuordnen und wo auch für so manch westliche Beobachterin plötzlich ungewohnte Stimmen der Kritik hörbar waren.

Doch bedeutet das, dass das Kreml-Regime wankt? Oder ist hier der deutsche Wunsch nach einem baldigen Ende des Krieges Vater des Gedanken?

Kurz- und mittelfristig wird der russische Machtapparat stabil bleiben.

Kurz- und mittelfristig wird der russische Machtapparat stabil bleiben. Hier einige Gründe: Militärisch betrachtet war die Befreiung der besetzten Gebiete eine Mischung aus aktiver Eroberung durch die ukrainische Armee, Räumung durch russische Streitkräfte und einem stellenweise unorganisierten, panikartigen Rückzug der russischen Truppen. Es ist aber keineswegs ein „Kollaps der Front“ mit Tausenden von Gefangenen und einem wirklichen Verlust der Handlungsfähigkeit auf der russischen Seite. Die Angriffe auf die zivile ukrainische Infrastruktur, die zu großflächigen Strom- und Wärmeausfällen führten, zeigen einerseits, dass der Krieg in die nächste Eskalationssstufe übergeht, und andererseits, dass die Erfolge der Ukraine keinen „Genickbruch“ ihres Gegners bedeuten. Militärisch steht der Kreml zwar nun deutlich unter Druck, trotzdem ist die Initiative der Ukraine noch nicht das letzte Kapitel dieses Konflikts.

Emotional und diskursiv war das vergangene Wochenende trotzdem ein haushoher Sieg für die Ukraine – die Stimmung im Land und unter Unterstützerinnen weltweit steigt. Solche psychologischen Effekte sind nicht zu unterschätzen. Das bedeutet aber nicht, dass die Stimmung in Russland ähnlich stark ins Negative ausschlägt, denn die russische Bevölkerung ist seit langem durch politisches Desinteresse und Apathie gekennzeichnet – das hat sich trotz einzelner ideologischer Mobilisierungsversuche seit Kriegsbeginn und in den Jahren davor nicht grundsätzlich geändert. Den allermeisten Menschen in Russland ist der Krieg weiterhin egal; die Mehrheit beantwortet soziologische Umfragen mit vorauseilendem Gehorsam, ohne eigene manifeste Präferenzen preiszugeben. Bezeichnend ist eine Umfrage von Anfang August, bei der 60 Prozent der Befragten eine neue Kampagne zur Einnahme Kiews unterstützen, während 65 Prozent der Befragten ein sofortiges Ende der „militärischen Spezialoperation“ durch ein Friedensabkommen begrüßen würden. Lässt sich nicht auf 100 Prozent addieren? Korrekt, das sind dieselben Menschen, die beides gut fänden.

Emotional und diskursiv war das vergangene Wochenende ein haushoher Sieg für die Ukraine.

Für die politische und propagandistische Medienelite, die selten in die Entscheidungen des Kremls eingebunden ist, war allerdings durch die Überraschung der ukrainischen Erfolge zunächst unklar, in welche Richtung die Ereignisse zu deuten sind. In der Regel gibt die Präsidialadministration hier bestimmte politische Frames und Sprachregelungen an die Redaktionen vor, aber nun wurde die Spitze der russischen Regierung selbst kalt erwischt. Reagiert wird daher durch Stimmen in alle Richtungen und jeder Zuhörer kann sich eine Erklärung herauspicken, die ihm oder ihr am besten passt. In den Propaganda-Talkshows wird sich wahrscheinlich erst in der nächsten Woche allmählich ein dominantes Narrativ herausbilden.

Tatsächlich kursieren momentan verstärkt Zitate aus russischen nationalistisch-militanten Kreisen, teilweise auch aus Telegram-Kanälen mit geringen Nutzerzahlen, die eine „Dolchstoß“-Rhetorik vertreten und teils extreme Kritik in Richtung eigener Generalität und Regierung beinhalten. Doch auch das ist keine neue Entwicklung, Kritik am Kreml kam schon weit vor 2014 nicht nur aus liberalen, sondern auch aus nationalistisch-rechten Kreisen. Sie scheinen bisher jedoch größtenteils in diesen Kreisen zu bleiben und stehen nicht repräsentativ für die Stimmung im Land. Und zu guter Letzt kritisieren sie zwar die Minister, den Generalstab und die Regierung, aber nicht Wladimir Putin selbst – frei nach dem Motto „Guter Zar, böse Bojaren“.

Kritik kam auch aus dem noch existierenden oppositionellen Lager: Mittlerweile haben mehr als 60 Lokal- und Kommunalabgeordnete, von der Kommunistischen Partei über Unabhängige bis hin zu Jabloko-Politikerinnen, einen Brief unterschrieben, in dem Präsident Putin persönlich kritisiert und der Krieg gegen die Ukraine verurteilt wird. Aber auch hier geht es nicht um einen fundamentalen Stimmungsumschwung – diese Briefe sind im Kontext der Kommunalwahlen entstanden und sind primär als Wahlkampfmittel zur Mobilisierung der eigenen Wählerschaft zu sehen, oder sie wurden nach der Wahl von überzeugten Politikerinnen unterschrieben, die nicht wiedergewählt wurden. Es ist eine tapfere Geste und ein nahezu heroisches Zeichen, dass es weiterhin aktive Menschen in Russland gibt, die sich auch trauen, öffentlich den Krieg, die Armee und den Präsidenten zu kritisieren und damit auch ein Zeichen an die „stummen“ Kriegsgegnerinnen senden, dass sie nicht allein sind. Ein Anzeichen für einen mehrheitlichen Stimmungsumschwung ist es nicht.

Seit Kriegsbeginn schwankt die Strategie des Kremls zwischen stärkerer gesellschaftlicher Aktivierung und paternalistischer Demobilisierung.

Trotzdem: Die Probleme für den Kreml werden nicht weniger. Seit Kriegsbeginn schwankt die Strategie des Kremls zwischen stärkerer gesellschaftlicher Aktivierung und paternalistischer Demobilisierung hin und her. Moskau muss auf die ukrainischen Erfolge reagieren, das ist klar. Wie die Entscheidung aussehen wird, ist allerdings noch ungewiss. Der Kreml kann entweder seine erklärten Kriegsziele anpassen und Misserfolge wegerklären, wie es schonmal bei der „Entnazifizierung“ passiert ist (das Wort taucht kaum mehr in den offiziellen Stellungnahmen auf). Diese Strategieanpassung könnte zu einer ernsthaften Verhandlungslösung führen – oder Putin hält an seinem Kriegsziel, die Ukraine zu unterwerfen, fest. Dann müsste er die russische Wirtschaft allerdings ganz anders als bisher mobilisieren, ja zu einer nationalen Kraftanstrengung aufrufen. Dies wird immer häufiger bereits öffentlich gefordert, wie zum Beispiel vom Vorsitzenden der KPRF, Gennadi Andrejewitsch Sjuganow.

Eins ist klar: Die bisherige Strategie, einen Krieg zu führen und gleichzeitig die alltägliche Normalität der Mehrheit des Landes aufrechtzuerhalten, ist gescheitert. Hü oder Hott.