Während Russland seinen Angriff auf das Nachbarland Ukraine fortsetzte, wurden in Belarus am Montag die Ergebnisse des Verfassungsreferendums bekanntgegeben, das am 27. Februar abgehalten wurde. Es wird für das politische System des Landes erhebliche und teils widersinnige Konsequenzen haben. Die neue Verfassung sei ein Zugeständnis, betonte der belarusische Machthaber Alexander Lukaschenko mehrfach. An wen? Da zeigte sich Lukaschenko flexibel. Mal an die herrschende Klasse, mal an die belarusische Gesellschaft, mal an den Kreml. Die Grundideen hinter dem Referendum änderten sich im Vorfeld laufend. Das Ergebnis ist, dass die – unter Wahlfälschung angenommene – neue Verfassung bereits jetzt wie aus der Zeit gefallen wirkt.
Sieben oder acht Jahre ist es her, dass Lukaschenko erstmals darüber räsonierte, ob er nicht einen Teil seiner Befugnisse an die Regierung und an das Parlament abgeben solle, um die Macht der ihm gewogenen Eliten auf eine breitere Grundlage zu stellen. Als jedoch während des Präsidentschaftswahlkampfs 2020 so mancher Vertreter der herrschenden Klasse zur Opposition überlief, verlor Lukaschenko das Vertrauen in die Eliten – sollte er denn überhaupt je welches gehabt haben.
Nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen 2020 und den folgenden Massenprotesten, die schließlich brutal und mit Rückendeckung aus Moskau unterdrückt wurden, hatte Lukaschenko das Referendum als Auftakt zu einem Wandlungsprozess angekündigt. Doch seither wählt das Regime entschlossen den Weg der Massenrepressionen. Selbst eine Scheindemokratisierung schied als Option aus.
Nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen 2020 und den folgenden Massenprotesten, die schließlich brutal und mit Rückendeckung aus Moskau unterdrückt wurden, hatte Lukaschenko das Referendum als Auftakt zu einem Wandlungsprozess angekündigt.
Mit dem Referendum wollte Lukaschenko Moskau eigentlich die Möglichkeit eröffnen, im Zuge der politischen Transformation den russischen Einfluss innerhalb des belarusischen Systems zu stärken. Doch auch diese Idee wurde von der Zeit überholt: Mit der vertieften Integration der beiden Länder hat Lukaschenko Russland bereits umfassende Kontrollmöglichkeiten über Belarus gegeben, die nicht zuletzt in der belarusischen Unterstützung für den Krieg in der Ukraine Ausdruck finden.
2021 vereinbarten Lukaschenko und Putin eine einheitliche „makroökonomische Politik“. Zahlreiche Programme für eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit wurden ausgearbeitet, etwa die Schaffung eines einheitlichen Gasmarktes bis Ende 2023. Die Vereinbarungen sind Teil der Umsetzung eines Abkommens von 1999 über einen „Unionsstaat“. Darin vorgesehen sind unter anderem auch die Schaffung eines gemeinsamen Parlaments, einer gemeinsamen Währung und gemeinsamer Staatssymbole, gegen die sich Lukaschenko zuletzt aber gewehrt hat.
Durch die Verfassungsreform wurde die Klausel gestrichen, nach der das belarusische Hoheitsgebiet eine atomwaffenfreie Zone sein soll. Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen ist dieser Schritt nun in den Fokus gerückt. Allerdings war diese Klausel in der bisherigen Verfassung nicht als bedingungsloser Verzicht auf Atomwaffen zu verstehen, sondern lediglich als Zielformulierung. Lukaschenko hätte daher schon früher russische Atomwaffen in Belarus stationieren können, wenn er das gewollt hätte – und sofern die internationale Gemeinschaft dies zugelassen hätte. Und im Zweifel gilt jetzt wie früher, dass sich das Lukaschenko-Regime ohnehin nicht um die Verfassung schert. Praktisch betrachtet ist es also keine wirkliche Veränderung der Atomwaffenpolitik in Belarus.
Lukaschenko hätte schon früher russische Atomwaffen in Belarus stationieren können, wenn er das gewollt hätte – und sofern die internationale Gemeinschaft dies zugelassen hätte.
Eine zentrale Idee hinter dem Referendum war, dass sich Lukaschenko eine stabile Machtbasis sichern wollte – sowohl für jetzt als auch für die Zeit, wenn er einmal aus dem Präsidentenamt ausgeschieden sein könnte. Die neue Verfassung enthält zahlreiche Änderungen zu seinen Gunsten, unter anderem Immunitätsgarantien und die Gewährung des lebenslangen Status eines Abgeordneten im Oberhaus des belarusischen Parlaments. Am wichtigsten darunter ist die verfassungsrechtliche Stärkung der Allbelarusischen Volksversammlung, deren Vorsitzender Lukaschenko vermutlich werden will. Sie soll umfassende Befugnisse erhalten.
Für die bestehenden Machtorgane bringt die Verfassungsreform keine weitreichenden Neuerungen mit sich. An den Befugnissen des Präsidenten, des Parlaments, der Regierung, der Kommunalbehörden und der Judikative wurden nur eher kosmetische Änderungen vorgenommen. Andererseits erhält die Allbelarusische Volksversammlung durch die Änderungen Verfassungsrang. Sie wird damit künftig umfassende Befugnisse besitzen und kann zum Beispiel die Beschlüsse anderer staatlicher Organe ändern, den Präsidenten des Amtes entheben und die Rechtmäßigkeit von Wahlen untersuchen.
Eine zentrale Idee hinter dem Referendum war, dass sich Lukaschenko eine stabile Machtbasis sichern wollte – sowohl für jetzt als auch für die Zeit, wenn er einmal aus dem Präsidentenamt ausgeschieden sein könnte.
Wie dieses Organ arbeiten soll, ist bislang allerdings unklar und noch nicht gesetzlich geregelt. In der Vergangenheit waren die Zusammenkünfte der Allbelarusischen Volksversammlung nichts weiter als Treffen von Lukaschenko-Anhängern und fanden während der Präsidentschaftswahlkämpfe statt. Nun will Lukaschenko dieses Gremium zum wichtigsten Organ im Land machen, obwohl es keine plausible Arbeitsgrundlage hat.
Noch unklarer ist, wie sich die Konstruktion der Allbelarusischen Volksversammlung auf die Funktionsweise des Gesamtsystems auswirken wird. Bislang hat Belarus ein Superpräsidialsystem. Wenn nun ein weiteres Organ mit enormen Befugnissen geschaffen wird, scheinen Kompetenzstreitigkeiten zwischen Staatspräsident und dem Vorsitzenden der Volksversammlung unausweichlich.
Der Konflikt ließe sich verhindern, wenn der Präsident zugleich auch der Vorsitzende der Volksversammlung ist. Genau das strebt Lukaschenko wohl an: Eine Zeitlang wird er beide Ämter bekleiden wollen. Doch spätestens dann, wenn Lukaschenko einmal nicht mehr Präsident ist, dürfte die Verfassungsreform Zündstoff für künftige Konflikte innerhalb des Regimes sein. Sollte das amtierende Regime dennoch den Weg des Systemumbaus gehen, wie es die Verfassungsänderung vermuten lässt, kann dies also für die künftige politische Ordnung in Belarus von großer Tragweite sein.
Die Behörden untersagten sogar das Anbringen von Vorhängen an den Wahlkabinen, um zu verhindern, dass die Menschen ihre Wahlscheine abfotografieren.
Einen offenen Wahlkampf über das Referendum gab es nicht. Lukaschenkos Regime hinderte die Opposition an ihrer geplanten Kampagne. Die Repressionen haben in Belarus ein solches Ausmaß angenommen, dass das Organisieren von Protestaktionen aussichtslos schien. Die Behörden untersagten sogar das Anbringen von Vorhängen an den Wahlkabinen, um zu verhindern, dass die Menschen ihre Wahlscheine abfotografieren. Mit Fotos sollte über die Internetplattform „Golos“ (deutsch: Stimme) eine Alternativauszählung stattfinden und so der offensichtliche Wahlbetrug aufgedeckt werden.
Dass die Belarussen am 27. Februar einmal mehr auf die Straße gingen, hatte nur wenig mit dem Referendum zu tun. An den Protestaktionen beteiligten sich Tausende von Menschen. Nach Aussage von Bürgerrechtlern wurden landesweit rund 800 Menschen festgenommen und viele von ihnen mit Ordnungsgeldern belegt. Was diese Menschen auf die Straße trieb, war der Krieg in der Ukraine: Sie fühlten sich moralisch verpflichtet, ihren Protest gegen die russische Aggression zu artikulieren. Es geht jetzt um erheblich mehr. Und selbst wenn die Repressionen in Belarus gigantische Ausmaße annehmen, werden sie eine neuerliche Politisierung der Gesellschaft wohl kaum aufhalten können.
Aus dem Russischen von Andreas Bredenfeld




