Es werden die vierten Wahlen in eineinhalb Jahren sein: Am 2. Oktober 2022 sind die Bürgerinnen und Bürger in Bulgarien zur Stimmabgabe aufgerufen. Die vorgezogene Parlamentswahl spiegelt die gravierende politische Instabilität des Landes nach der zwölfjährigen Regierungszeit der konservativen GERB-Partei und ihres Vorsitzenden Bojko Borissow wider, die für viele Bulgaren zum Synonym für Korruption, Stagnation und autoritäre Politik geworden ist. Die Regierungszeit der GERB-Partei („Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens“) endete nach Massenprotesten in einer Wahlniederlage im April 2021. Damit war der Weg frei für eine neue Partei namens „Wir setzen den Wandel fort“, die erstmals bei den Wahlen im November desselben Jahres antrat. Die Wahlen im April und im Juli hatten keine Mehrheit hervorgebracht, so dass 2021 drei Mal gewählt wurde. Die Partei war von jungen Leuten mit westlicher Ausbildung gegründet worden und ließ die Hoffnung aufkommen, dass ein Ausweg aus der Sackgasse gefunden und das Land näher an europäische Standards herangeführt werden könnte.

Die von „Wir setzen den Wandel fort“ gebildete Regierung hielt sich jedoch nur sieben Monate lang in einer schwierigen Vier-Parteien-Koalition und scheiterte schließlich an den Meinungsverschiedenheiten der Koalitionspartner. Dadurch wurde der neuerliche Urnengang an diesem Wochenende erforderlich. Wie erwartet richtet sich das Hauptinteresse bei der Abstimmung auf die Konfrontation zwischen GERB und „Wir setzen den Wandel fort“. Für den neuen politischen Akteur geht es bei der Auseinandersetzung um eine Entscheidung zwischen „Status quo“ und „Wandel“, während die ehemaligen Langzeitregierenden sie eher als ein Dilemma zwischen „Stabilität“ und „Dilettantismus“ hinstellen.

Umfragen deuten auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen.

Umfragen deuten auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen der beiden Parteien hin: GERB hat derzeit mit rund 25 Prozent die Nase vorn, „Wir setzen den Wandel fort“ liegt bei 20 Prozent. Die Szenarien für die Zeit nach den Wahlen sind ebenfalls noch unklar. „Wir setzen den Wandel fort“ strebt eine nahezu unveränderte Neuauflage der Koalition an, mit der sie bislang regiert hat, wenn auch mit einem Koalitionspartner weniger. Die GERB-Partei setzt offenbar eher auf eine Art technokratisches Expertenkabinett ohne vorher festgelegte Kandidatinnen und Kandidaten. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass es zu einer Pattsituation und einmal mehr zu vorgezogenen Neuwahlen kommen könnte.

Die Situation vor der Wahl ist durch zwei weitere Besonderheiten gekennzeichnet. Da ist zum einen die Rolle des Staatspräsidenten Rumen Radew. Laut Verfassung ist Bulgarien eine parlamentarische Republik. Das Staatsoberhaupt hat weitgehend repräsentative Funktionen, aber auch das Vorrecht, im Falle einer politischen Krise Übergangsregierungen einzusetzen. Seit den Wahlen im April 2021 wurde das Land länger von Kabinetten regiert, die von Radew eingesetzt waren, als von regulären, vom Parlament gewählten Kabinetten. Deshalb äußern mehr und mehr Politikerinnen und Experten die Meinung, dass die ständigen Auseinandersetzungen zwischen den Parteien den Boden für eine langfristige Präsidialherrschaft bereiten. Radew trat 2016 als Unabhängiger Kandidat für die Bulgarische Sozialistische Partei an, die Nachfolgerin der Kommunistischen Partei. Er ist nach wie vor der beliebteste Politiker im Land. Auch die Mitglieder seiner Kabinette halten Abstand zu den Führungsetagen der Parteien, orientieren sich durchaus am Präsidenten und suchen seinen Rückhalt. Ihre politische Zukunft hängt somit weitgehend vom künftigen politischen Einfluss des Präsidenten ab. Die bulgarische Öffentlichkeit schätzt Radews ausgewogene Positionen in der Außenpolitik. Dadurch wird das Staatsoberhaupt zum Konkurrenten der Parteien und – weil er die politische Richtung vorgeben kann – insgeheim zum Wahlkampfbeteiligten.

Der Krieg in der Ukraine ist zum zentralen Wahlkampfthema geworden.

Die zweite Besonderheit hat damit zu tun, dass der Krieg in der Ukraine zum zentralen Wahlkampfthema geworden ist. Das ist ungewöhnlich, denn in der Regel drehen sich die Wahlen in Bulgarien – sogar die Wahlen zum Europäischen Parlament – um innenpolitische Probleme, während internationale Themen kaum eine Rolle spielen. Die russische Invasion hat jedoch die tiefe Kluft zwischen Russlandfreunden und Russlandkritikern in der Gesellschaft noch verschärft. Aus kulturellen und historischen Gründen gehört Bulgarien zu den EU-Ländern, die Russland die größten Sympathien entgegenbringen. Russlandfreundliche Politikerinnen und Politiker aus dem linken und dem nationalistischen Spektrum pochen mit Blick auf den Konflikt auf Pragmatismus und „Neutralität“ und lehnen jede militärische Unterstützung für die Ukraine ab. Die traditionellen rechten Parteien und bis zu einem gewissen Grad auch die neue Partei „Wir setzen den Wandel fort“ plädieren hingegen für eine eindeutig pro-europäische und pro-euroatlantische Ausrichtung des Landes und lehnen jede Annäherung an das Putin-Regime ab.

Seit dem Krieg sind auch die Beziehungen zum russischen Gasriesen Gazprom zu einem Streitpunkt geworden. Präsident Radew und seiner geschäftsführenden Regierung wie auch der Sozialistischen Partei und sogar den ehemaligen Regierungspolitikerinnen der GERB wird vorgeworfen, sie wollten mit Gazprom über Lieferungen verhandeln und somit Bulgariens Energieabhängigkeit von Russland aufrechterhalten. Auf der anderen Seite wird dem rechten Spektrum sowie der pro-europäischen Partei „Wir setzen den Wandel fort“ vorgehalten, sie würden die massiven sozialen und wirtschaftlichen Folgen einer möglichen Unterversorgung mit Gas und Rohstoffen im kommenden Winter leichtfertig ignorieren. Paradoxerweise hat sich im Wahlkampf nur die radikal-nationalistische Partei Wasraschdane („Wiedergeburt“) offen für eine Verbesserung der Beziehungen zu Moskau ausgesprochen. Die anderen Akteure – vom Staatspräsidenten bis zur GERB – stehen im Verdacht, hinter den Kulissen russische Interessen zu schützen.

Die weit verbreitete Meinung ist, dass es gegen Ende des Winters wieder Neuwahlen geben wird.

Diese beiden Faktoren – der wachsende politische Einfluss des Präsidenten und die geopolitischen Spannungen – lassen die Wahlprogramme und Parteikandidaten in den Hintergrund treten. Entsprechend schwer ist der Ausgang der Wahl am 2. Oktober vorherzusagen. Weder stellt sich der Präsident offiziell hinter eine Partei, noch unterstützt eine der führenden Parteien offiziell Russland. Trotzdem dreht sich die politische Debatte weitgehend um das Handeln des Präsidenten und um Bulgariens Verhältnis zu Russland. Bei den letzten vorgezogenen Wahlen im November 2021 war die Wahlbeteiligung geringer als je zuvor. Nur 40 Prozent der Wählerinnen und Wähler machten von ihrem Wahlrecht Gebrauch. Manche Beobachterinnen rechnen für die anstehende Wahl mit einer noch geringeren Beteiligung.

Ein Großteil der Bevölkerung versteht nicht, warum die Parteien systematisch scheitern, wenn es darum geht, eine funktionierende Regierung zu bilden und die drohende soziale Krise zu bewältigen. Eine niedrige Wahlbeteiligung untergräbt die demokratische Legitimität des politischen Systems. Die weit verbreitete Meinung, dass auch diesmal keine Regierung zustande kommen und es gegen Ende des Winters Neuwahlen geben wird, verstärkt die politische Apathie zusätzlich. Dies könnte radikalen Parteien und den Befürworterinnen von Verfassungsänderungen neuen Auftrieb geben und damit die allgemeine politische Unsicherheit im Lande noch verstärken.

Aus dem Englischen von Christine Hardung