Lesen Sie diesen Artikel auch auf Englisch.
Mit einem derart deutlichen Ergebnis hatten nicht einmal die sozialistischen Gewinner gerechnet. Etwa 55 Prozent der Stimmen wurden für Luis Arce vom Movimiento al Socialismo (MAS) abgegeben, der damit nächster Präsident Boliviens wird. Der Abstand zum Zweitplatzierten, dem Sozialliberalen Carlos Mesa, betrug beeindruckende 25 Prozentpunkte. Die MAS wird zudem in beiden Parlamentskammern die absolute Mehrheit haben. Das Ergebnis kam in dieser Deutlichkeit für das ganze Land überraschend. Viele Umfragen deuteten auf eine Stichwahl.
Fast ein Jahr, nachdem der Sozialist Evo Morales im November 2019 aufgrund landesweiter Proteste, einer Meuterei der Polizei und Druck durch das Militär das Land verlassen musste und die MAS am Boden lag, kehrt sie nun gestärkt an die Macht zurück. Auslöser der Proteste im Vorjahr waren Vorwürfe des Wahlbetrugs. Die MAS habe ihr Ergebnis um einige Prozentpunkte auf 47 Prozent aufgebauscht und sich so den Sieg in der ersten Runde zu erschleichen versucht, so der Vorwurf.
2020 nun hat sie in fairen und sauberen, von einem unabhängigen Wahlorgan organisierten Wahlen ein deutlich besseres Ergebnis erzielt. Alle internationalen Wahlbeobachtungsmissionen haben bestätigt, dass es keinen Wahlbetrug gab und die Wahlen korrekt und reibungslos abliefen. Die meisten politischen Akteure haben das Ergebnis schnell anerkannt, lediglich einige rechtsradikale Gruppen weigern sich, das Ergebnis anzuerkennen.
Eine wichtige strategische Entscheidung der MAS war die Kombination des Kandidatenduos Luis Arce und David Choquehuanca.
Wie lässt sich dieses erstaunliche Comeback erklären? Die Gründe liegen in einigen strategischen Entscheidungen der MAS, im Verhalten ihrer politischen Widersacher, der schlechten Regierungsführung der Übergangsregierung sowie dem wirtschaftlichen und sozialen Kontext der Covid-19-Pandemie.
Eine wichtige strategische Entscheidung der MAS war die Kombination des Kandidatenduos Luis Arce und David Choquehuanca. Luis Arce als städtischer, weltläufiger Ökonom mit Ausbildung an einer britischen Universität war die richtige Person, um die von der pandemiebedingten Wirtschaftskrise hart getroffenen städtischen Arbeiterklassen und Mittelschichten anzusprechen. Die MAS hat in ihrem Wahlkampf den Schwerpunkt auf die Wirtschaftskrise und die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Stabilität gesetzt. Arces langjährige Regierungserfahrung als Wirtschaftsminister, das langanhaltende Wirtschaftswachstum sowie die Armutsverringerung während seiner Amtszeit verliehen seinem Wahlprogramm rund um die Wiederherstellung von Wachstum, Arbeitsplätzen und Stabilität Glaubwürdigkeit.
Die anderen Kandidaten hingegen, Carlos Mesa und Luis Fernando Camacho, haben in ihrem Wahlkampf beide den Schwerpunkt darauf gelegt, die Rückkehr der MAS an die Macht zu verhindern. Für die Bevölkerung der armen Viertel an den Stadträndern und für diejenigen, die aufgrund der Pandemie aus der Mittelschicht in die Armut zurückfielen, war dies nicht das entscheidende Thema. Für sie ist es wichtiger, ein Einkommen zu haben, mit dem sie ihre Familie ernähren können. Dieses Versprechen hat die MAS gemacht.
In kürzester Zeit zeigte die Übergangsregierung, dass ihre Amtsführung mindestens ebenso korrupt und zudem auch noch ineffizient war.
Die Übergangsregierung unter Jeanine Áñez zeigte indes die hässliche Seite der konservativen politischen Alternative zur MAS. In der kurzen Zeit, die sie an der Macht war, hat sie in allen Bereichen ein abschreckendes Verhalten an den Tag gelegt. Das Management der Gesundheitskrise war schlecht. Es mangelte an Koordination mit anderen politischen Kräften, den subnationalen Regierungsebenen und sozialen Gruppen. Inmitten einer landesweiten strikten Ausgangssperre nutzten Familienangehörige der Präsidentin und Minister die Flugzeuge der Luftwaffe für Vergnügungsreisen und ließen sich auf (zu dem Zeitpunkt verbotenen) Feiern blicken.
Hinzu kamen zahlreiche Korruptionsfälle. Der folgenreichste Fall betraf die Beschaffung von Beatmungsgeräten zu einem Vielfachen des eigentlichen Preises – zudem waren die Geräte letztlich gar nicht für Intensivpatienten geeignet. Der Anti-MAS-Diskurs hob stets auf die vermeintliche (und auch tatsächlich existente) Korruption der MAS-Regierung ab. In kürzester Zeit zeigte die Übergangsregierung jedoch, dass ihre Amtsführung mindestens ebenso korrupt und zudem auch noch ineffizient war.
Ebenso gerierte sich die Übergangsregierung außerordentlich autoritär und mit einer permanenten Verachtung und Herabwürdigung der indigenen und ländlichen Bevölkerung des Landes. Dies zeigte sich sowohl im praktischen Handeln wie auch im Symbolischen. Die Regierung sowie Zeitungen und Fernsehsender, die sich nach dem Sturz Moralesʼ weitgehend der Anti-MAS-Linie angeschlossen hatten, haben die Landbevölkerung und MAS-Anhänger in einer diskursiven Dichotomie regelmäßig als gewaltsame und ignorante Horden dargestellt, im Gegensatz zu den „Bürgern“, also der gebildeten, europäischstämmigen Mittel- und Oberschicht.
Vizekandidat David Choquehuanca identifiziert sich als Aymara und hat viele vormals von der MAS enttäuschte Indigene zurückholen können.
Eine besonders wichtige Rolle spielt in diesem Kontext die Wiphala – die Flagge, die die indigenen Völker des Landes repräsentiert und offizielles Emblem Boliviens mit Verfassungsrang ist. Direkt nach der Machtübernahme wurden sie an vielen Regierungsgebäuden heruntergenommen und in einigen Fällen öffentlich verbrannt. Dies haben viele Indigene als direkten Angriff auf ihre Identität verstanden. Die Verbrennung der Wiphala hat deutlich mehr Indigene zu Protesten mobilisiert als die Absetzung von Evo Morales.
Proteste von Indigenen gegen die Übergangsregierung in El Alto und in den Koka-Anbauregionen um Cochabamba wurden zudem von der Übergangsregierung brutal niedergeschlagen, es kam zu zahlreichen Todesopfern. Den Soldaten wurde Immunität gewährt, die Regierung hat die Ereignisse nie aufgearbeitet oder auch nur anerkannt. Der offiziellen Linie zufolge haben die Soldaten nie geschossen, die rund 40 Todesopfer seien auf Schüsse zwischen den Protestierenden zurückzuführen. Die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte hingegen betrachtet diese Ereignisse als Massaker.
All das hat den Großteil der indigenen Bevölkerung von der Übergangsregierung und dem Anti-MAS-Lager generell entfremdet. Vizekandidat David Choquehuanca hingegen identifiziert sich als Aymara und hat viele vormals von der MAS enttäuschte Indigene zurückholen können, da sie sich aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit mit ihm identifizieren. Bezeichnend war der Fall des einflussreichen radikalen Indigenen-Führers Felipe Quispe (El Mallku), der die MAS wegen Evo Moralesʼ Amtsführung verlassen und angegriffen hatte. Wegen David Choquehuanca sprach er sich in diesen Wahlen jedoch für die MAS aus und viele taten es ihm gleich. So konnte die MAS ihre Dominanz in den indigenen und ländlichen Bevölkerungsgruppen wiederherstellen.
Luis Arce hat angekündigt, dass in einer Regierung Arce kein Platz für Evo Morales sein wird.
Dies zeigt zugleich die weiterhin widersprüchliche Bedeutung von Evo Morales. Während die Kokabauern, in deren Gewerkschaft er seine politische Karriere begann, ihm weiterhin die Treue halten, ist er für einen Großteil der MAS-Wähler Vergangenheit. Die MAS hat mit einem anderen Kandidaten ein besseres Ergebnis erzielt als Morales im letzten Jahr. Das zeigt, dass sein Beharren, nach drei Amtszeiten ein weiteres Mal anzutreten, viele Wählerinnen und Wähler enttäuscht und der MAS geschadet hat.
Luis Arce hat dies verstanden und während des Wahlkampfes Morales mehrfach – vorsichtig – kritisiert. Er hat angekündigt, dass in einer Regierung Arce kein Platz für Evo Morales sein wird, ebenso wenig für dessen Umfeld. Auch trat er der Befürchtung entgegen, er wolle sich nun ewig an die Macht klammern. Er werde nur für eine Amtszeit regieren und danach Platz für eine jüngere Generation machen, kündigte er bereits an.
Die anderen Kandidaten hingegen haben die Bevölkerung an den Peripherien der großen Städte und die Landbevölkerung im Wahlkampf weitgehend ignoriert und ihnen kein politisches Angebot gemacht. Carlos Mesa sprach mit seinem intellektuellen Profil und dem Versprechen, er sei der beste Kandidat, um die Rückkehr der MAS an die Macht zu verhindern und die Demokratie wiederherzustellen, die gebildeten städtischen Mittelschichten an. Aber der Landbevölkerung hat er keinen guten Grund gegeben, für ihn zu stimmen.
Das politische Angebot des Rechtspopulisten Luis Fernando Camacho beschränkte sich ebenso darauf, die Rückkehr der MAS zu verhindern. Zudem profilierte er sich als dediziert regionaler Kandidat, der nur die Bevölkerung von Santa Cruz und der anderen Tieflandregionen ansprach. Sein stärkstes Argument dort war seine Identität als klassischer Camba-Macho (Cambas sind die Bewohner des tropischen Ostens des Landes). Dies schmeichelt dem Regionalstolz der Bewohner von Santa Cruz, zieht jedoch nicht im Rest des Landes. So lässt sich erklären, dass er in Santa Cruz auf über 45 Prozent der Stimmen kam, in La Paz jedoch unter einem Prozent blieb.
Die Wirtschaftskrise, die politisch-institutionelle Krise und die gesellschaftliche Spaltung des Landes sind die wichtigsten Herausforderungen für die neue Regierung. Dafür muss die MAS auf breite gesellschaftliche Abkommen setzen.
Die zukünftige Regierung von Luis Arce steht vor großen Herausforderungen: Die Wirtschaft ist paralysiert, traditionelle Einkommensquellen wie das Erdgas fast erschöpft, etliche Menschen sind in die Armut zurückgefallen, die Bevölkerung ist weiterhin tief gespalten, das Gesundheits- und das Bildungssystem liegen am Boden und die Amazonaswälder des Landes brennen. Die Wirtschaftskrise, die politisch-institutionelle Krise und die gesellschaftliche Spaltung des Landes sind die wichtigsten Herausforderungen für die neue Regierung. Dafür muss die MAS auf breite gesellschaftliche Abkommen setzen.
Luis Arce mit seiner pragmatischen und technokratischen Art scheint der geeignete Charakter für den Moment. Er zeigte sich versöhnlich und dialogbereit, versprach, die Fehler der früheren MAS-Regierungen zu korrigieren und für alle Bolivianerinnen und Bolivianer regieren zu wollen. Das ist wichtig, denn die zunehmend autoritäre Regierungsführung unter Morales und die offen autoritäre Übergangsregierung schadeten dem Land. Stattdessen bedarf es Offenheit, Dialog, Versöhnung, Pluralismus und der Unabhängigkeit der staatlichen Institutionen. Nur so kann das tief gespaltene Land wieder zueinanderfinden.
Ebenso kündigte Arce an, die bilateralen Beziehungen sowohl zu den USA als auch zu Russland, Venezuela und Kuba normalisieren zu wollen. Er wird alle gesellschaftlichen Gruppen und alle internationale Unterstützung brauchen, um den Herausforderungen Boliviens begegnen zu können.