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Mit martialischer Rhetorik allein sind politische Erfolge nicht zu halten, diese Erfahrung muss derzeit Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro machen. Sein Demokratieverständnis hat Bolsonaro seit dem Einzug in das Palácio do Planalto zu Beginn des Jahres nicht geändert. Er verachtet Konsens und Vielfalt. Das Prinzip der Mehrheit hat Absolutheitsanspruch; Minderheiten verdienen keinen besonderen Schutz, sie haben sich vielmehr an den vermeintlichen Mainstream anzupassen. Doch kein Staatsoberhaupt vor ihm war seit der Rückkehr zur Demokratie nach fünf Monaten im Amt so unbeliebt wie Bolsonaro. Seine Zustimmungswerte sinken stetig; auf den Straßen zeigen seine Gegnerinnen und Gegner ungleich größere Mobilisierungskraft, im Kabinett streiten sich die verschiedenen Faktionen und im Kongress konnte bisher keine relevante Gesetzesinitiative der Exekutive beschlossen werden.
Rund Zweidrittel der Befragten gaben in einer Umfrage von Datafolha vom April an, sie hätten eine bessere Regierungsleistung von Bolsonaro erwartet. Lediglich etwas mehr als die Hälfte derjenigen, die ihn gewählt haben, sind mit seiner Regierung zufrieden. Verhältnismäßig größere Unterstützung erhält der amtierende Präsident nach wie vor von den Männern, Weißen, Höhergebildeten, Besserverdienenden und Evangelikalen.
Auch auf den Straßen scheint Bolsonaro das Kräftemessen zu verlieren, seit sich Zehntausende vor allem junge Menschen gegen die Bildungspolitik seiner Regierung wendeten. Die massiven Proteste, die Mitte Mai in den größten Städten Brasiliens stattfanden und die von Studierenden, Lehrkräften und Hochschulmitarbeitenden angeführt wurden, richteten sich gegen die Ankündigungen der Regierung, die Mittel für mehrere Bundesuniversitäten um 30 Prozent zu kürzen sowie rund 3000 Forschungsstipendien zu streichen. Diese Sparmaßnahmen sollen laut Bildungsminister Abraham Weintraub in erster Linie jene Einrichtungen treffen, die „Chaos generieren anstatt zur akademischen Leistung beizutragen“. Für Empörung in akademischen Kreisen hatten zuvor die Aussagen Bolsonaros gesorgt, die Jugend solle sich auf das Lernen konzentrieren und sich nicht für Politik interessieren; humanistische Fächer wie Soziologie und Philosophie seien mit Blick auf die Steuerzahlenden keine produktiven Studiengänge. Zwar gab es auch Gegendemonstrationen von Anhängern und Anhängerinnen der Regierung. Diese blieben jedoch erheblich kleiner.
Während die Hardliner des ideologischen Flügels eine stärkere Ausrichtung auf die USA befürworten, lehnen Angehörige des Militärs dies ab.
Selbst Konflikte innerhalb von Bolsonaros Kabinett werden öffentlich ausgetragen. Im Laufe der Regierungszeit scheint sich dieses weniger als Team zu konsolidieren als nachhaltig in drei erkennbare Flügel zu spalten: den technokratischen Flügel um Wirtschaftsminister Paulo Guedes, den Militärflügel um Vizepräsident und Reservegeneral Hamilton Mourão und den ideologischen Flügel um Außenminister Ernesto Araújo.
Letzterem Flügel gehören zudem Bolsonaros Söhne Eduardo (Nationalabgeordneter für São Paulo), Flávio (Bundesstaatsabgeordneter in Rio de Janeiro) und Carlos (Stadtratsmitglied in Rio de Janeiro) an. Die Bolsonaro-Söhne sind zwar keine Mitglieder der Exekutive, sie kommentieren jedoch über verschiedene, insbesondere soziale Medien das politische Tagesgeschehen regierungstragend. Als „ideologischer Guru“ dieser Gruppe gilt der in den USA lebende Erzkonservative Olavo de Carvalho, dessen Tiraden in Interviews, Tweets und selbstaufgezeichneten Videos vor allem die Militärs in der Regierung zur Zielscheibe haben. Vielstimmigkeit bis zur Streitigkeit im Kabinett offenbarte sich etwa entlang der außenpolitischen Fragen der möglichen Errichtung einer US-Militärbasis in Brasilien, einer Militärintervention in Venezuela, des Umzugs der brasilianischen Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem und der Positionierung Brasiliens im Kontext der Großmachtrivalität zwischen den USA und China.
Während die Hardliner des ideologischen Flügels eine stärkere Ausrichtung auf die USA befürworten, stellen sich Angehörige der Streitkräfte gegen eine US-Militärpräsenz auf brasilianischem Boden und gegen Gewaltoptionen in der Venezuela-Krise. Sie warnen auch vor einer potenziellen Verschlechterung der Handelsbeziehungen mit den arabischen Staaten und China, sollte Brasilien den USA politisch eng folgen. Hierbei profiliert sich Vizepräsident Mourão als moderierende Figur. Allerdings scheut Mourão auch nicht davor zurück, im Alleingang klar Stellung zu beziehen oder sogar dem Präsidenten offen zu widersprechen. Als einziges Kabinettsmitglied, das auf einem Ticket zusammen mit Bolsonaro demokratisch gewählt wurde, weiß sich Mourão vom Gutdünken des Präsidenten nicht abhängig.
Der schwachen Koordinierung in der Regierung gesellen sich die fehlenden Mehrheiten im Parlament hinzu. Im Senat sind 23 verschiedene Parteien vertreten; die Anzahl der politischen Kräfte in der Abgeordnetenkammer beläuft sich auf 30, dabei ist die Arbeiterpartei PT mit rund 10 Prozent der Mandate stärkste Fraktion. Diese Konstellation erschwert die Verabschiedung jener Gesetzentwürfe, die zu Bolsonaros wichtigsten Wahlkampfversprechen gehören. Dies ist beispielsweise der Fall in einem Projekt zur Bekämpfung von Korruption, organisiertem Verbrechen und Gewalt (Projeto de Lei Anticrime), das von Sérgio Moro, dem Minister für Justiz und öffentliche Sicherheit, vorangetriebenen wird. Auch die von Wirtschaftsminister Guedes entworfene und zur Reduzierung des Haushaltsdefizits und zur Sicherung von Investitionen dringend notwendige Reform des Rentensystems (Nova Previdência) kommt nicht weiter.
Zurzeit ist nicht ersichtlich, ob und wann die verschiedenen Flügeln der Regierung zu einer besseren zusammenarbeit finden werden.
Zudem gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen Exekutive und Legislative konfliktreich: besonders medienwirksam war der wiederholte Schlagabtausch zwischen Bolsonaro und Rodrigo Maia, dem Vorsitzenden der Abgeordnetenkammer. Maia ist Mitglied der Democratas, einer der wenigen politischen Parteien mit Kabinettsbeteiligung. Während die Gesetzesinitiativen der Regierung auf dem parlamentarischen Weg nur langsam voranschreiten, veranlasste Maia im März mit Erfolg die Abstimmung in der unteren Kammer über eine Verfassungsänderung (Proposta de Emenda à Constituição), durch die Befugnisse der Exekutive über den Haushalt beschnitten und die des Kongresses erweitert werden. Nachdem der Senat dem Gesetzentwurf jedoch nur unter Auflagen zustimmte, muss nun die Ursprungskammer über die neue Version des Gesetzestextes beschließen.
Die bisher sichtbaren Ergebnisse der Bolsonaro-Regierung bleiben auf einen gewissen Bürokratieabbau, wenige institutionelle Umstrukturierungen und politische Maßnahmen auf der Grundlage von Dekreten beschränkt, präsidentiellen Verordnungen also. Die meisten dieser Dekrete müssen nun in ein Gesetz der Legislative überführt werden, um nach 120 Tagen Geltung zu behalten. Dies betrifft u.a. eine Reihe von Entscheidungen, die den Schutz der Umwelt, der Indigenen, der LGBTQ-Gemeinschaften und der Arbeit von Nichtregierungsorganisationen in diesen Bereichen gefährden.
Intensiver als in den Vorgängerregierungen erfolgt die Abstimmung zwischen Umwelt- und Landwirtschaftsministerium unter der Dominanz von Agribusiness-Interessen. Der Präsident setzt sich für eine Lockerung bestehender Regelungen ein, um die ökonomische Nutzung von Naturschutzgebieten – auch durch Indigene in ihren Territorien – zu erlauben. Allerdings zeigt sich auch in diesem Politikfeld der wacklige parlamentarische Rückhalt der Regierung: Nachdem Bolsonaro im Januar per Dekret die Nationale Indigenenbehörde FUNAI vom Justiz- zum Ministerium für Frauen, Familie und Menschenrechte transferierte und ihr die Kompetenz entzog, indigene Gebiete zu demarkieren, beschloss der Kongress Ende Mai, diese administrative Reform rückgängig zu machen. Auch die von Bolsonaro veranlassten Erleichterungen des Waffenbesitzes ernten Kritik aus dem Parlament und dem Justizwesen; sogar Justizminister Moro versuchte sich zu distanzieren.
Darüber hinaus werfen Korruptionsskandale und angebliche Verbindungen zu Milizen Schatten auf die Bolsonaro-Familie. Da Jair Bolsonaro in seinem Wahlkampf eine neue Politik frei von Korruption sowie eine harte Hand gegen Gewalt versprach, wiegen diese Verdachtsmomente besonders schwer. „Ich bin geboren nicht um Präsident, sondern um Militär zu werden“, gestand Bolsonaro in einer Rede im April. Dennoch widerspricht seine ausgeprägte Führungsschwäche im Kontext einer chaotischen Regierung den Erwartungen, die die meisten Brasilianerinnen und Brasilianer mit einem als autoritär charakterisierten Mitglied der Streitkräfte in der Rolle des Staatsoberhaupts verbinden. Zurzeit ist es nicht ersichtlich, wann oder wie es zu einem stärker ergebnisorientierten Modus Vivendi im Regierungskabinett zwischen den verschiedenen Flügeln oder in den Beziehungen zwischen Exekutive und Legislative kommen wird. Darin könnte eine der zentralen Garantien für den Fortbestand des politischen Pluralismus in Brasilien liegen.