Drei Wochen nach der Präsidentschaftswahl sind in Venezuela die Fronten festgefahren: Der seit 2013 amtierende Machthaber Nicolás Maduro hat noch immer keine Beweise für seinen angeblichen Wahlsieg vorgelegt und lässt Proteste von seinen Sicherheitskräften brutal niederschlagen. Hoffnungen auf eine plötzliche demokratische Einsicht oder ein Auseinanderbrechen der regierenden Kamarilla unter dem Druck der Straßenproteste sind zerstoben. Der Schulterschluss zwischen den zivilen Stützen des Regimes und den Sicherheitskräften scheint felsenfest.
Maduro, so vermuten einige Beobachter, spielt auf Zeit. Er hofft, dass die internationale Gemeinschaft seinen unverfrorenen Wahlbetrug bald vergessen werde. Die Akten, die die Opposition sicherstellen konnte, weisen einen 67-zu-30-Sieg ihres Kandidaten Edmundo González Urrutia aus. Maduro baut zudem darauf, dass es ihm gelingen werde, der internationalen Isolation mithilfe gleichgesinnter autoritärer Potentaten zu entkommen. Und dass seine Repression – Menschenrechtsorganisationen sprechen von „Staatsterror“ – die Opposition ausradieren und jeden Keim des Widerstands unterdrücken werde.
Ehemalige Vertraute Maduros hingegen glauben, der Machthaber lasse seine Muskeln spielen, um sich für Verhandlungen in eine Position der Stärke zu bringen. Noch ist unklar, wer recht behalten wird. Sechs Monate sind es bis zum Amtsantritt der neuen Regierung. Das ist das Zeitfenster, um die Fronten noch aufzubrechen. Ein erster, improvisiert anmutender Vermittlungsversuch von Brasilien und Kolumbien – Mexiko ist mittlerweile aus der Gruppe ausgeschieden – verlief zunächst im Sande. Nötig ist jetzt eine professionelle Diplomatie, die das ganze geopolitische Schachbrett in den Blick nimmt.
Trotz Korruption und Misswirtschaft ist Venezuela ein reiches Land mit international gefragten Ressourcen. Der Petrostaat hat die größten Ölreserven der Welt und fördert noch immer rund 850 000 Fass pro Tag (vor 20 Jahren waren es über drei Millionen). Hinzu kommen rund 35 Tonnen Gold pro Jahr. 70 Prozent davon werden illegal exportiert, über Netzwerke, an denen korrupte Militärs, die kolumbianische ELN-Guerrilla und internationale Verbrechersyndikate beteiligt sind. Der Rest fließt in die Zentralbankreserven.
2015 verhängten die USA erstmals Sanktionen – zu Beginn vor allem gegen einzelne Funktionäre des Regimes –, die im Laufe der Jahre und im Rhythmus der autoritären Maßnahmen Maduros verschärft wurden. Seitdem hat Maduro Hilfe und Know-how bei anderen Diktaturen gesucht. Seine Stützen sind Kuba, Iran, Russland und China. Hinzu kommen wirtschaftliche Drehscheiben wie die Türkei und Indien, über die Gold und Öl vermarktet werden.
Mittlerweile ist China der wichtigste Handelspartner Venezuelas.
Kubas Revolutionsführer Fidel Castro und Venezuelas 1998 gewählten Erdölsozialisten Hugo Chávez verband eine Männerfreundschaft der ersten Stunde. Castro hatte vor allem Interesse am billigen venezolanischen Erdöl und an einem politischen Verbündeten im Kampf gegen das US-Embargo. Im Tausch dafür schickte Havanna Ärzte, Bodyguards für den Präsidenten und Militär- und Geheimdienstberater nach Caracas.
Diese brachten vor allem das Militär auf Linie, um Putschversuche zu verhindern. Bis Juli 2024 waren die Hälfte der politischen Gefangenen Militärs. Seit dem Tod Castros und Chávez’ und der schweren Systemkrise auf Kuba ist der Einfluss Havannas aber zurückgegangen. Andere Autokratien sind an seine Stelle getreten.
Die Partnerschaft mit Russland begann auf militärischer Ebene im Jahr 2006. Weil Caracas die kolumbianische Guerilla unterstützte, stoppten die USA ihre Waffenexporte nach Venezuela. Russland sprang in die Bresche und hat seither seine geostrategische Partnerschaft im Hinterhof der USA ausgebaut. Heute finden sich im venezolanischen Arsenal russische Panzer, Kampfhubschrauber und Sukhoi- Jagdbomber. Die russischen Energiekonzerne Rosneft, Gazprom und Lukoil sind Partner des Staatskonzerns PDVSA. Russische Bot-Center unterstützen Maduro bei Desinformationskampagnen.
Dem russischen Staatschef Wladimir Putin geht es Experten zufolge vor allem um langfristige strategische Zusammenarbeit mit dem Ziel der Schwächung der US-Hegemonie durch den Aufbau einer multipolaren Weltordnung. Russland ist daher Pate Venezuelas, das einen Aufnahmeantrag bei den BRICS-Staaten gestellt hat, einem Schlüsselinstrument dieser multipolaren Ordnung. Wirtschaftlich sind die Beziehungen aber bescheiden geblieben: 2019 exportierte Venezuela Waren und Dienstleistungen im Wert von 1,57 Millionen US-Dollar nach Russland, die Importe von dort hatten den Wert von 92,5 Millionen US-Dollar.
Chinas Prioritäten sind etwas anderer Art: Es geht vor allem um die wirtschaftliche Konkurrenz mit den USA im rohstoffreichen Hinterhof. Mittlerweile ist China der wichtigste Handelspartner Venezuelas und hat 4,5 Milliarden US-Dollar in den Energiesektor investiert. Aus Peking stammt auch die Strategie zur sozialen Kontrolle. Sowohl die Gesichtserkennungs-Software als auch die zur Erfassung und Registrierung der Bevölkerung mittels biometrischer Daten für die digitale Vaterlands-App, über die die Sozialhilfen ausgezahlt werden, stammen aus China.
Vor allem aber ist Peking der größte Gläubiger. Fast 60 Milliarden US-Dollar an Darlehen hat es Venezuela gewährt – mehr als an Brasilien, Argentinien, Ecuador und Bolivien zusammen. Doch ein Großteil der Kredite versickerte in Korruption und Misswirtschaft. Caracas schuldet laut Wirtschaftsagenturen noch immer mehr als 15 Milliarden US-Dollar. Seit 2018 bekommt Maduro trotz zahlreicher Avancen keine neuen Kredite mehr. Für Peking steht derzeit die wirtschaftliche Stabilisierung Venezuelas im Vordergrund.
Knapp acht Millionen Venezolanerinnen und Venezolaner haben das Land verlassen.
Iran scheint es vorrangig darum zu gehen, einen südamerikanischen Brückenkopf für seine globalen anti-israelischen Aktivitäten zu errichten. Unter Chávez hatte Teheran Allianzen mit ehemaligen Seilschaften des venezolanischen Terroristen Ilich Ramirez Sánches alias Carlos der Schakal geschlossen und paramilitärische Trainingscamps in Venezuela aufgebaut. Unter Maduro lag der Fokus dann auf Hilfe bei der Umgehung der Erdölsanktionen und bei der Wartung der maroden Erdöl-Infrastruktur.
Diese autoritären Übersee-Achsen sind krisenerprobt. Dank ihnen hat Maduro die Sanktionen der USA und der EU überstanden. Doch sie sind ein geopolitisches Zweckbündnis mit Ländern, deren unmittelbare strategische Prioritäten in ihrer eigenen Einflusssphäre liegen – für Putin in der Ukraine, für China in Taiwan und für Iran im Nahen Osten.
Sie sind ein Rettungsanker, ohne Perspektive auf mittelfristige wirtschaftliche Sanierung, höchstens mit Aussicht auf Aufrechterhaltung eines prekären Status quo. Unter Maduro ist die Wirtschaft um 75 Prozent eingebrochen, die Armut auf 82 Prozent gestiegen. Knapp acht Millionen Venezolanerinnen und Venezolaner haben das Land verlassen. Das stellt vor allem die lateinamerikanischen Nachbarländer vor Probleme.
Chávez träumte zur Jahrtausendwende von der Bolivarischen Allianz der Völker Amerikas (Alba). Mit einem Erdölpreis von zeitweise bis zu 150 US-Dollar pro Fass schwamm er in Petrodollars, die er großzügig an Verbündete verteilte. Infrastrukturprojekte, neue Regionalbündnisse, Erdöllieferungen zum Freundschaftspreis an die Inselstaaten der Karibik und an Mittelamerika – all das machte ihn zum Anführer eines Kontinents, auf dem das Wahlpendel in diesem Moment nach links ausschlug. Von Ecuador über Bolivien bis Argentinien und Brasilien sahen Regierungen die historische Chance, sich mithilfe Venezuelas von der US-Vorherrschaft zu emanzipieren – und von den traditionellen konservativen Eliten ihrer Länder gleich mit.
Einige Jahre lang konnte auch Maduro von dieser Aura zehren. Mit dem Wahlbetrug aber überschritt er eine rote Linie. Als neuen Präsidenten anerkannt haben ihn in Lateinamerika lediglich Kuba, Nicaragua, Bolivien und Honduras. Die ersten beiden lupenreine sozialistische Diktaturen, die letzten beiden angeführt von linken Nostalgikern aus der Chávez-Ära. Alle vier sind wirtschaftlich sowie politisch unbedeutend.
Zwei linke Schwergewichte in der Region haben sich hingegen abgewandt: Luiz Inácio „Lula“ da Silva in Brasilien, der voriges Jahr Maduro noch als Staatsgast umarmt hatte, und Gustavo Petro in Kolumbien. Sie haben die Anerkennung Maduros davon abhängig gemacht, dass er die Wahlakten vorlegen und eine unabhängige internationale Prüfung zulassen möge. Darum versucht sich Maduro herumzumogeln, mit juristischen Winkelzügen und mithilfe des von ihm kontrollierten Obersten Gerichtshofs. Früher konnte er bei so etwas mit der Nachsicht seiner Nachbarn rechnen, diesmal wurde er kalt abgebürstet. Am 16. August stellte sich die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) nahezu einhellig hinter die kolumbianisch-brasilianische Forderung. Ziel ist, Maduro unmissverständlich klarzumachen, dass er keine Chance auf Anerkennung hat – und ihn so an den Verhandlungstisch zu bugsieren.
Venezuela droht die ganze Region zu destabilisieren.
Wie erklärt sich der Sinneswandel von Lula und Petro? Zum einen geht es ums Image. Sie sehen sich zwar im linken Lager – aber auch als Demokraten. Lula riskiert dafür sogar ein Zerwürfnis mit seiner eigenen Arbeiterpartei, die Maduro eilig zum Wahlsieg gratuliert hat.
Der zweite Grund ist Staatsräson. Denn Venezuela droht die ganze Region zu destabilisieren. Der von der Opposition in die Enge getriebene Maduro wird immer unberechenbarer. Vor einigen Monaten drohte er dem Nachbarland Guyana mit einer Invasion wegen eines alten Grenzstreits – offenbar in der Hoffnung, damit Wählerstimmen zu mobilisieren. Furcht herrscht auch davor, dass seine Verbündeten wie der Iran Terrortaktiken nach Südamerika exportieren könnten. Das ist nicht aus der Luft gegriffen, wie der vom Iran gesteuerte Anschlag auf das jüdische Gemeindezentrum in Buenos Aires im Juli 1994 zeigt.
Das dritte Problem ist die Migration. Umfragen zufolge wollen weitere fünf Millionen auswandern, wenn Maduro an der Macht bleibt. Die meisten bleiben erfahrungsgemäß in Lateinamerika. Das belastet die ohnehin fragilen Arbeitsmärkte, Bildungs- und Gesundheitsinstitutionen der Aufnahmeländer. Und es ist ein Sicherheitsproblem: Infiltriert in die Migrantenströme kommen kriminelle venezolanische Organisationen wie Tren de Aragua, die mit Brachialgewalt lokale kriminelle Märkte wie die Prostitution, die Schutzgelderpressung, den Waffen- und Menschenhandel übernehmen.
Die USA teilen diese Bedenken. Diesmal halten sie sich aber im Hintergrund. Das ist eine Lektion aus gescheiterten früheren Interventionsversuchen wie der Unterstützung des oppositionellen Gegenpräsidenten Juan Guaidó 2019. Brachiale Alleingänge der USA haben in der Vergangenheit immer nur Maduros Narrativ vom Opfer imperialistischer Umsturzversuche genährt.
Im Gegensatz zu 2019 scheint es nun eine lose strategische Koordination mit einer abgesprochenen Zielrichtung zwischen Lateinamerika, den USA und der EU zu geben, um den internationalen Druck auf Maduro sukzessive zu verstärken. Flankiert wird dies von einer Opposition, die zu friedlichen Protesten aufruft, aber gegenüber Maduro auch Dialogbereitschaft signalisiert.
China und Russland haben in Lateinamerika an Einfluss gewonnen. Doch noch laufen die wichtigen Fäden in Washington zusammen. Die USA sind die treibende Kraft hinter den Sanktionen, sie haben Kopfgelder auf die Führungsriege wegen Drogenhandels und Menschenrechtsverletzungen ausgelobt. Der Preis für das Festklammern an der Macht ist für Maduro diesmal so hoch wie nie. Das mag dem einen oder anderen Genossen möglicherweise doch schlaflose Nächte bereiten.