Anfang Juni stimmte die Mehrheit der 100 Millionen mexikanischen Wählerinnen und Wähler für Kontinuität. Claudia Sheinbaum Pardo und ihre linke Morena-Partei gewannen die Wahlen mit einem Erdrutschsieg. Der Hauptgrund: Der 2018 gewählte Präsident Andrés Manuel López Obrador, kurz AMLO, konnte seine unbestreitbare Popularität auf seine Nachfolgerin übertragen. Sheinbaum war ihrerseits mit dem Versprechen angetreten, seine Politik der sogenannten Vierten Transformation fortzusetzen. Die durch Regierungsbeteiligungen in der Vergangenheit disqualifizierte Opposition wird, zumindest für die nächsten drei Jahre, bis zu den Kongresswahlen, politisch irrelevant sein.

Aufgrund des Wahlergebnisses und des umstrittenen, aber legalen Berechnungsmodus der Sitzverteilung verfügt die Regierungskoalition über eine für Verfassungsänderungen notwendige Zweidrittelmehrheit im Kongress. Im Abgeordnetenhaus übersetzten sich die knapp 55 Prozent der erhaltenen Stimmen in 73 Prozent der Sitze. Die zunächst fehlenden drei Sitze im Senat wurden mit Leichtigkeit innerhalb weniger Tage aus der Opposition abgeworben. Die Regierungskoalition hat zudem die Mehrheit in 27 von insgesamt 32 Länderparlamenten (für Verfassungsänderungen reicht bereits die Zustimmung von 17). Die neue Regierung hat somit die Macht, das politische System Mexikos zu verändern.

Sheinbaum und ihr Kabinett werden am 1. Oktober 2024 vereidigt. Bedingt durch das Wahlsystem konnte AMLO bereits im letzten Monat seiner Amtszeit mit der Zweidrittelmehrheit des neuen Kongresses regieren. Und diese Zeit nutzte er. Mehrere Verfassungsreformen hatten zuvor wegen der fehlenden Mehrheit seiner Koalition nicht durchgesetzt werden können oder waren durch das Oberste Gericht für verfassungswidrig erklärt worden. Die Beziehungen zwischen Exekutive und Justiz waren daher in den letzten Jahren konfrontativ gewesen. Der Präsident hatte dem Obersten Gericht wiederholt vorgeworfen, im Namen der Eliten politische Veränderungen zugunsten der Mehrheit verhindern zu wollen. Noch im Wahlkampf präsentierte AMLO dann ein Paket mit 18 Verfassungsreformen. Dieser von ihm so genannte Plan C wurde wider Erwarten durch das Ergebnis der Wahlen politische Realität.

Im Zentrum des Plans steht die umstrittene Justizreform, die zur ersten großen Kontroverse der neuen Regierung geworden ist. Das mit Zustimmung seiner Nachfolgerin eingebrachte Gesetz wurde in kürzester Zeit vom neuen Kongress und den Landesregierungen durchgewunken. Die hiermit ausgelösten politischen Auseinandersetzungen sind damit aber noch lange nicht beendet. Einige Gerichte haben bereits eine vorläufige Aussetzung des Gesetzes verfügt, was aber vom Kongress ignoriert wurde. Eine Überprüfung durch das Oberste Gericht steht noch aus. Zudem sind Anfechtungen von Seiten der Opposition zu erwarten. Auch die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (CIDH) kritisiert die Reform und rechnet mit Beschwerden bis hin zum Interamerikanischen Gerichtshof. Die USA und Kanada befürchten eine Beeinträchtigung der Rechtssicherheit und damit ihrer durch das Handelsabkommen USMCA geschützten Investitionen. Der bislang so starke mexikanische Peso verlor deutlich an Wert.

Die Opposition und nicht wenige Kritiker befürchten, dass die Justizreform die richterliche Unabhängigkeit beseitigen wird.

Aktuell werden die obersten Richter, wie in den meisten Ländern der Welt, von der Exekutive ernannt – in Mexiko vom Präsidenten, unter Beteiligung des Kongresses. Das neue Gesetz sieht vor, alle Bundesrichter sowie die Richter des Obersten Gerichtshofs, des Bundeswahlgerichts sowie des für die Verwaltung des Rechtssystems zuständigen Bundesjustizrats durch allgemeine Wahl zu bestimmen. 1 633 Richter werden in diesem Zug aus dem Dienst entlassen. Die Listen der Kandidaten sollen geschlechterparitätisch zu je einem Drittel von der Exekutive, dem Kongress und der Justiz vorgelegt werden. Der Senat soll überprüfen, ob die Voraussetzungen erfüllt sind, und die offizielle Kandidatenliste an die Wahlbehörde weiterleiten, damit diese die Wahl organisiert – zum ersten Mal 2025, danach im selben Rhythmus wie die Präsidentschaftswahlen.

Mit dieser Reform sollen – zweifellos bestehende – Probleme der Justiz gelöst werden. Das Gesetzesprojekt benennt die wichtigsten: Die aktuelle Justiz ist nicht unabhängig, weder gegenüber den staatlichen Gewalten, den Parteien und der internen Bürokratie noch gegenüber den faktisch Mächtigen im Lande, also der Wirtschaft und dem Organisierten Verbrechen. Zudem ist die Justiz von der „Gesellschaft distanziert“, was ausdrücken soll, dass nicht jeder Zugang hat. Mit der Wahl sollen – so die zukünftige Rechtsberaterin des Präsidialamts – die Legitimität und die Freiheit der Richter und ihre Unabhängigkeit gegenüber Parteien und Wirtschaftsgruppen hergestellt und die Justiz so demokratisiert werden.

Die Opposition und nicht wenige Kritiker befürchten jedoch, dass die Justizreform die richterliche Unabhängigkeit beseitigen würde. Die Exekutive würde alle staatlichen Gewalten kontrollieren und letztlich die Errichtung eines autokratischen Systems oder gar einer „Tyrannei“ verfolgen. Experten zweifeln vor allem daran, dass die vorgeschlagene Reform die realen Probleme des Justizsystems auch nur teilweise beheben werde. Dabei ist es seit Jahren weitreichender Konsens, dass es einer umfassenden Justizreform und Demokratisierung bedarf.

Mangelnder Zugang, Korruption, Ineffizienz und Straflosigkeit, insbesondere bei Kapitalverbrechen, sind Teil des mexikanischen Justizalltags. Sie präsentieren sich jedoch vor allem auf der unteren Ebene der Gerichte in den Bundesländern, in den Staatsanwaltschaften, einschließlich der Bundesstaatsanwaltschaft und den anderen Strafverfolgungsbehörden. Diese sind aber nicht Teil der Reform.

Bolivien ist weltweit das einzige Land, in dem die Richter der obersten Gerichte von der Bevölkerung gewählt werden. In den USA, der Schweiz, Kolumbien und Venezuela werden Richter zwar ebenfalls gewählt, aber nur auf lokaler Ebene. Die bolivianische Justizreform von 2009 – gebilligt durch ein Referendum – dient jedoch sicherlich nicht als Positivbeispiel. Die Wahllisten der Kandidaten wurden dort von der Regierungspartei zusammengestellt und im Parlament von ihrer Zweidrittelmehrheit bestätigt worden. Nichts davon war illegal. Allerdings gab es keine echte Entscheidung zwischen unterschiedlichen Optionen. Vielmehr hatte eine Person sämtliche Lotterielose gekauft: Evo Morales. Die Wähler erkannten dies. Obwohl eine Mehrheit ihn und seine Regierung unterstützten, annullierten 2011 bei den ersten Richterwahlen 60 Prozent ihre Wahlzettel oder füllten sie gar nicht erst aus. 2017 waren es sogar 66 Prozent der Wähler.

Die Erfahrungen Boliviens zeigen, dass keines der zahlreichen Probleme der Justiz mit der Wahl von Richtern gelöst werden konnte.

Die Erfahrungen Boliviens zeigen, dass keines der zahlreichen Probleme der Justiz mit der Wahl von Richtern gelöst werden konnte. Im Gegenteil, die Justiz ist ins Absurde abgestürzt. Die Irrelevanz der Wahl ist der größte strukturelle Fehler der bolivianischen Justizreform. Die gewählten Richter wussten, dass ihre berufliche Zukunft nicht vom Wählerwillen, sondern von der Regierungspartei abhing. Die Wahl der Richter hat in Bolivien eine Unterwerfung der Justiz unter die Parteilinie und den Regierungswillen provoziert. Als Evo Morales eine dritte Amtszeit anstrebte – obwohl die Verfassung dies ausdrücklich ausschloss –, ebneten sie ihm den Weg, so wie auch seiner fragwürdigen Nachfolgerin und deren Nachfolger. Die bolivianischen Erfahrungen zeigen, dass die Wahl von Richterinnen und Richtern weder Unabhängigkeit noch Unparteilichkeit garantiert, also keine richterliche Freiheit. Aber auch mit ihrer Legitimität durch die Wahlurne ist es nicht weit her. Offensichtlich steht sie im Widerspruch zur richterlichen Freiheit. In Bolivien löste sie sich jedenfalls angesichts mangelnder Leistung und offensichtlicher Parteilichkeit schnell in Luft auf.

Vermutlich wird sich die mexikanische Regierung durchsetzen und 2025 wird die erste Wahl der Richter stattfinden. Umso wichtiger wäre, dass die Auswahl der Kandidaten auf der Grundlage ihres beruflichen Werdegangs erfolgt und dass ihre professionelle Eignung unabhängig überprüft wird – dass die Richter ihre Aufstellung zur Wahl also nicht primär der Abhängigkeit von einer Partei verdanken. Zudem bedarf es Garantien zum Schutz der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Bislang fehlen die Ausführungsgesetze, die dies konkretisieren müssten.

Ordentliche Verfahren werden damit auf absehbare Zeit nicht gewährleistet sein, wenn eine große Zahl Richter entlassen werden wird und wenn die somit freiwerdenden Stellen nach bisher unbekannten Kriterien besetzt werden – womöglich werden sogar anonyme Richter zum Einsatz kommen.

Zuletzt stellt sich die Frage, ob die entstandenen wirtschaftlichen und politischen Schäden notwendig gewesen sind. Denn der eindeutige Wahlsieg hätte von der neuen Regierung zunächst in eine relativ konfliktfreie, von einer Mehrheit erwartete Fortsetzung sozialpolitischer Reformen überführt werden können. Die durchaus erforderliche und von einer Mehrheit der Bevölkerung unterstützte Justizreform hätte umfassend und ohne Zeitdruck in Abstimmung mit den gesellschaftlichen Kräften in Angriff genommen werden können. Die Regierung der Vierten Transformation, die einen langfristigen gesellschaftspolitischen Wandel verfolgt, wäre aus diesem Prozess politisch weiter gestärkt hervorgegangen. So startet die Regierung mit massivem Widerstand in ihre Regierungszeit.