Am Sonntag ist die Hoffnung von Millionen Kolumbianerinnen und Kolumbianern wahr geworden, die sich für ein demokratischeres, ein sichereres, ein umweltfreundlicheres und ein sozial gerechteres Land einsetzen. Senator Gustavo Petro erhielt im Duo mit seiner afrokolumbianischen Vizepräsidentschaftskandidatin, der Umweltexpertin Francia Márquez, ca. 50,44 Prozent oder 11 281 013 der abgegebenen Stimmen und ist zum 42. Präsidenten von Kolumbien gewählt worden. Sowohl sein Amtsvorgänger Iván Duque, als auch sein Gegenkandidat Rodolfo Hernández, gratulierten öffentlich zum Wahlsieg.
Rund 22 445 873 Menschen oder 57,55 Prozent machten in der Stichwahl am 19. Juni 2022 von ihrem Wahlrecht Gebrauch und damit ca. 3,7 Prozent mehr als bei der ersten Runde vor drei Wochen. Nur 1998 war die Wahlbeteiligung höher. Dass die Menschen an die Wahlurnen gehen, ist in Kolumbien nicht immer einfach: Tausende Menschen waren in einigen Landesteilen erneut mehrere Stunden, sogar Tage unterwegs, um eines der Wahllokale zu erreichen. In einigen Regionen verhinderte zusätzlich starker Regenfall die Möglichkeit zur Wahl. Zudem kommt es insbesondere in den abgeschiedenen ländlichen Gebieten immer wieder zu Einschränkungen durch Bedrohungen, Gewalt und Stimmenkauf.
Mit Petro setzt sich die Siegesserie der linken Bewegungen und Parteien in Lateinamerika fort.
Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes wird mit Gustavo Petro weder ein Konservativer noch ein Mitglied der Liberalen Partei die Regierung der fünftgrößten Volkswirtschaft Lateinamerikas anführen. Mit Petro setzt sich die Siegesserie der linken Bewegungen und Parteien in Lateinamerika fort und gibt weiteren Aufwind für die im Oktober 2022 anstehenden Wahlen in Brasilien.
In dieser für Kolumbien historischen Situation wird es darauf ankommen, wie sich die Wahlverliererinnen und Wahlverlierer verhalten. Gustavo Petro hat am letzten Sonntag nicht nur seinen direkten Herausforderer, den frauen- und migrantenfeindlichen 77-jährigen Self-made-Millionär und Populisten Rodolfo Hernández auf den zweiten Platz verwiesen – dieser erhält mit seinen 47,31 Prozent oder 10 580 412 Stimmen deutlich weniger Zuspruch, als ihm die Umfragen vorausgesagt hatten –, sondern mit ihm auch die bisherige politische Elite des Landes.
Weil dieser Triumph so einmalig ist, sollte Präsident Petro nun auf seine Kritikerinnen zugehen.
Deutlich mehr Menschen als bei den letzten Wahlen entschieden sich jedoch für keinen der beiden Kandidaten: Fast eine halbe Million Wählerinnen und Wähler, über 2 Prozent, gaben ein voto blanco. Eine kolumbianische Besonderheit, mit der die Wählerinnen zum Ausdruck bringen können, dass sie mit den Kandidaten nicht einverstanden sind, aber, im Gegensatz zur Nichtwahl, von ihrem demokratischen Recht Gebrauch machen.
Gerade weil dieser Triumph so einmalig ist, sollte Präsident Petro nun auf seine Kritikerinnen zugehen, die Verlierer an ihre staatspolitische Verantwortung erinnern und zu einer konstruktiven Oppositionsarbeit aufrufen. Zur Stunde ist unklar, ob die Verlierer in der Lage sein werden, ihre neue Rolle anzunehmen.
Das Militär bleibt in dieser Phase des demokratischen Übergangs Schlüsselakteur.
Auch das in Kolumbien traditionell starke Militär bleibt in dieser Phase des demokratischen Übergangs Schlüsselakteur. Es wird erwartet, dass die Militärspitze alsbald Signale aussendet, die am Wahlsieg von Gustavo Petro keinen Zweifel aufkommen lassen. Dieser wird nach am 7. August auch ihr Oberbefehlshaber sein. Sollte die Anerkennung öffentlich ausbleiben, wäre Petros Präsidentschaft von vorneherein belastet und Putschgerüchte würden weiter die Runde machen. Sowohl kolumbianische Nichtregierungsorganisationen als auch die internationale Gemeinschaft sollte hier genau hinschauen.
In jedem Fall stehen dem neuen Präsidenten gewaltige Aufgaben bevor. Fraglich bleibt schon jetzt, ob Petro für eine grundlegende Änderung der ungleichen Lebensverhältnisse, der hohen Arbeitslosigkeit, Inflationsrate, Staatsverschuldung und der notwendigen sozial-ökologischen Transformation des Landes eine Mehrheit im kolumbianischen Parlament finden wird.
Zwar stehen etliche Abgeordnete seines links-progressiven Bündnisses Pacto Histórico nach den Kongresswahlen im März hinter Petro, es fehlt ihm jedoch eine eigene gesetzgebende Mehrheit. Zudem müssen die neugewählten Repräsentantinnen und Repräsentanten erst beweisen, dass sie zusammenhalten und gemeinsam mit den zu benennenden Ministerinnen auch eine Regierung führen können. Spannungen sind im bunten Spektrum des Pacto Histórico bereits vorprogrammiert. Zu den drängendsten Aufgaben der Regierung zählen:
Zu den drängendsten Aufgaben der Regierung zählt die Wiederbelebung des Friedensprozesses.
Die Wiederbelebung des Friedensprozesses: In den vergangenen vier Jahren unter der ultra-rechten Regierung von Iván Duque wurde der 2016 mit der ehemaligen Guerillagruppe FARC unterzeichnete Friedensprozess kaum umgesetzt. Präsident Petro muss ihn erneut in Gang bringen, auf seine Umsetzung drängen und dafür sorgen, dass soziale und lokale Führungspersönlichkeiten besser vor Vertreibung, Gewalt und Ermordung geschützt werden. Allein in diesem Jahr sind bereits mehr als 60 dieser líderes sociales ermordet worden.
Ein Dialog mit der verbleibenden Guerillaorganisation ELN müsste sich diesem Prozess anschließen. Hierfür Signale auszusenden und Bedingungen zu definieren, ob und wie verhandelt werden kann, wird für die neue Regierung zentral sein.
Petro hat eine Erhöhung der Steuerlast für die reichsten 0,01 Prozent der Bevölkerung angekündigt.
Eine neue Wirtschaftspolitik: Petro übernimmt von seinem unbeliebten Vorgänger ein Land mit der höchsten Inflationsrate der letzten 21 Jahre. Bei einer aktuellen Verschuldung von rund 63 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und einem Haushaltsdefizit von über 6 Prozent hat der designierte Präsident angekündigt, seine Amtszeit mit einer strukturellen Steuerreform zu beginnen. Diese sieht eine Erhöhung der Steuerlast für die reichsten 0,01 Prozent der Bevölkerung vor. Diese Idee wird vehement von der politischen Rechten abgelehnt. Im Wahlkampf haben sie nichts unversucht gelassen, Petro zu diskreditieren, und ihm vorgeworfen, den wirtschaftlichen Niedergang des Landes vorzubereiten.
Engagement für Frauenrechte und mehr Gleichstellung: Petro schlägt die Schaffung eines von Francia Márquez geführten Ministeriums für Gleichberechtigung vor, das für die Formulierung aller politischen Maßnahmen zur Stärkung der Frauen, der sexuellen Orientierung, der Generationen sowie der ethnischen und regionalen Vielfalt in Kolumbien zuständig wäre.
Unter Petro könnten insbesondere Frauen erwarten, vorrangig Zugang zu öffentlicher Hochschulbildung, zu Krediten und zur Verteilung und Formalisierung von Landbesitz zu erhalten.
Die extrem ungleiche Verteilung von Land ist eine der strukturellen Ursachen des bewaffneten Konflikts.
Landreform und Schutz der indigenen Bevölkerung, der Bauern und der Afrokolumbianerinnen: Die extrem ungleiche Verteilung von Land ist eine der strukturellen Ursachen des bewaffneten Konflikts in Kolumbien. Die Binnenvertreibungen der letzten Jahrzehnte haben zur Ausdehnung der agrarisch genutzten Gebiete geführt: Die dadurch entstandenen Spannungen sind die Ursache für Konflikte zwischen ethnischen Gemeinschaften (indigene und afrokolumbianische) und Bäuerinnen über den Zugang zu diesen Flächen.
All diese Gruppen waren und sind von der Entwicklung des Landes ausgeschlossen und gleichzeitig mit am stärksten von der Gewaltdynamik des bewaffneten Konflikts betroffen. Petros Regierung wird für eine gerechtere Verteilung sorgen müssen, die die Integration ethnischer und bäuerlicher Gemeinschaften in die Produktions- und Entwicklungskreisläufe ermöglicht.
Bessere Bildung für mehr Menschen: Während der sozialen Proteste im letzten Jahr (sowie bereits 2019 und 2020) gehörte die Forderung nach mehr öffentlicher und qualitativ hochwertiger Bildung zu einer der zentralen Botschaften der überwiegend friedlich demonstrierenden Kolumbianerinnen und Kolumbianer. Petro verspricht ihnen, ein Hochschulsystem zu schaffen, bei dem vor allem die öffentlichen Universitäten und weiterführenden Schulen gestärkt werden.
Mehr Umweltschutz: Unter der Regierung Duque wurde der Umwelt- und Klimaschutz in Kolumbien weitestgehend vernachlässigt, die Entwaldung nahm zu und es wurden erste Fracking-Pilot-Bohrungen genehmigt. Petro und Márquez haben einen grundlegenden Richtungswechsel angekündigt. Sie setzen auf ein umweltfreundlicheres Produktions- und Dienstleistungsmodell und schlagen eine Energiewende vor, die Neu-Erschließungen von zukünftigen Erdölfeldern ausschließt. Dieser Prozess soll mit einer Landreform bezüglich unproduktiver – meist durch illegalen Waldabbau entstandener – Ländereien begleitet werden.
Die Erwartungen an Petro und Márquez sind riesig, vielleicht unerfüllbar.
Der Präsident und seine Regierung werden jedoch auch Antworten auf weitere wichtige Bereiche, wie eine integrierte Sicherheitsreform, eine diversifizierte, neue Außenpolitik, eine andere Drogenpolitik sowie zur Regulierung von Rauschmitteln finden müssen. Gleichzeitig darf sie die notwendige Koalition mit der Zivilgesellschaft, die die beiden letztendlich ins Amt gehoben hat, nicht außer Acht lassen.
Gustavo Petro und Francia Márquez haben an diesem denkwürdigen Sonntag im Juni 2022 Historisches erreicht. Die Erwartungen an beide sind riesig, vielleicht unerfüllbar. Auf der einen Seite muss das Gewinnerpaar zusammenhalten und kompromissfähig bleiben. Gleichzeitig haben beide viele Hoffnungen geweckt und stehen exemplarisch für das neue Kolumbien: Eine sozialere, eine umweltfreundlichere, eine sicherere und eine demokratischere Republik wollen beide.
Dass die ultrakonservativen und liberalen Machteliten von der Mehrheit der Kolumbianer abgewählt wurden, ist eine politische Zäsur für das Land. Von den Verliererinnen ist kaum zu erwarten, dass sie die neue Oppositionsrolle konstruktiv – und als wichtiges Element einer konsolidierten Demokratie – annehmen. Eher ist zu befürchten, dass sie die neue Regierung vom ersten Tag an torpedieren und alles daransetzen, sie scheitern zu lassen.
Präsident Petro wird Fehler machen und 100 Tage Schonfrist werden ihm kaum eingeräumt werden – weder von seinen erwartungsvollen Unterstützerinnen aus der Zivilgesellschaft noch von den mehr als 10 Millionen Menschen, die er bislang nicht von seinem Programm und seiner Person überzeugen konnte.
Die deutsche und europäische Politik ist gut beraten, dem neuen Präsidenten ihre Unterstützung zuzusagen und den Friedensprozess damit zu stärken.
Er wird offen, transparent und mit einer gewissen Flexibilität regieren müssen – auch um auf die nationalen und internationalen Herausforderungen angemessen reagieren zu können. Er wird dafür sein oftmals als überheblich und selbstbezogen beschriebenes Handeln ablegen müssen. Und er sollte den gesellschaftlichen Teamgeist betonen, der Grundlage für den Sieg des Pacto Histórico war. Nur so könnte es ihm gelingen, den Friedensprozess mit neuem Leben zu erfüllen und die dringend notwendigen Reformen in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik für Kolumbien zu erreichen. Er wird dafür viele Verbündete brauchen, sowohl im In- als auch im Ausland.
Die deutsche und europäische Politik ist gut beraten, dem neuen Präsidenten ihre Unterstützung zuzusagen und den Friedensprozess damit zu stärken. Gleichzeitig würde dies zur Konsolidierung der demokratischen Institutionen nach diesem historischen Regierungswechsel beitragen. Beides bleibt ausschlaggebend für eine nachhaltige, friedliche Entwicklung des Landes, und notwendig für ein Kolumbien der sozialen Gerechtigkeit.