Zwei rechtsextreme Mitglieder des israelischen Kabinetts – Itamar Ben-Gvir, Minister für nationale Sicherheit, und Finanzminister Bezalel Smotrich – haben diese Woche mit ihrem Ruf nach einer Entvölkerung des Gazastreifens international für Empörung gesorgt. „Wenn in Gaza 100 000 oder 200 000 Araber leben und nicht zwei Millionen, sieht die ganze Debatte über den ‚Tag danach‘ anders aus“, meinte Smotrich und forderte, ein Großteil der in Gaza lebenden Zivilbevölkerung solle in andere Länder umgesiedelt werden. Der Krieg, so Ben-Gvir, biete eine „Gelegenheit, die Migration der Bewohner des Gazastreifens gezielt zu forcieren“, sodass Israelis dort leichter angesiedelt werden könnten.
Die Biden-Regierung hat sich den Ländern angeschlossen, die diese unverhohlene Befürwortung ethnischer Säuberungen verurteilen. Dabei tut sie jedoch so, als stünden die Provokationen von Ben-Gvir und Smotrich in fundamentalem Widerspruch zur Weltsicht von Premierminister Benjamin Netanjahu, dem Amerika weiterhin bedingungslos zur Seite steht. In einer Erklärung nannte das Außenministerium die Äußerungen der Minister „aufrührerisch und unverantwortlich“ und stellte fest: „Die israelische Regierung einschließlich des Premierministers hat uns beständig versichert, dass solche Äußerungen nicht die Politik der israelischen Regierung widerspiegeln.“
Der demokratische Abgeordnete Jim McGovern, der einen Waffenstillstand fordert, dankte dem Außenministerium in einem Social-Media-Posting: „Es muss ganz klar sein, dass Amerika keinen Blankoscheck für Massenvertreibungen ausstellen wird.“ Genau dies ist derzeit allerdings der Fall. Die USA stellen einer Regierung einen Blankoscheck aus, deren Chef mit seinen Absichten für den Gazastreifen fast ebenso wenig hinter dem Berg hält wie Ben-Gvir und Smotrich. Laut Times of Israel ließ Netanjahu eine Gruppierung innerhalb seiner Likud-Partei wissen, er sei auf der Suche nach Ländern, in denen die Bevölkerung des Gazastreifens unterkommen könnte. „Wir stehen vor dem Problem, Länder zu finden, die bereit sind, die Bewohner von Gaza aufzunehmen“, so wird Netanjahu zitiert, „und an diesem Problem arbeiten wir.“
Weiter heißt es in dem Zeitungsbericht: „Die ‚freiwillige‘ Umsiedlung von Palästinensern aus dem Gazastreifen wird Schritt für Schritt offiziell zu einem Kernelement der Regierungspolitik. Nach Aussage eines hochrangigen Beamten führt Israel mit mehreren Ländern Gespräche über deren mögliche Aufnahmekapazitäten.“ Einige Mitglieder der israelischen Regierung lehnen dies ab mit der Begründung, das sei nicht praktikabel. „Meiner Meinung nach ist das eine absolute Illusion: Kein Land wird zwei Millionen Menschen aufnehmen oder eine Million und auch nicht 100 000, oder 5 000“, sagte ein offizieller Vertreter, der anonym bleiben wollte, gegenüber israelischen Journalisten.
Israel ist dabei, die zivile Infrastruktur des Gazastreifens und rund 70 Prozent aller Wohngebäude großflächig zu zerstören.
Am 4. Januar 2024 hat Israels Verteidigungsminister Joaw Gallant seinen Plan für die Zeit nach dem Krieg vorgestellt. Dieser sieht im Gegensatz zu den Träumereien der Ultranationalisten keine israelischen Siedlungen in Gaza vor. Doch Israel ist dabei, die zivile Infrastruktur des Gazastreifens und rund 70 Prozent aller Wohngebäude großflächig zu zerstören und damit den Großteil des Gazastreifens auf absehbare Zeit unbewohnbar zu machen. Im Gazastreifen breiten sich Krankheiten aus, fast überall herrscht Mangel an Lebensmitteln, und die Vereinten Nationen vermelden, dass ein Großteil der Enklave von einer Hungersnot bedroht sei. Inmitten dieses ganzen Grauens bringen Mitglieder von Netanjahus Likud-Partei wie zum Beispiel Israels ehemaliger UN-Botschafter Danny Danon und Geheimdienstministerin Gila Gamliel die Auswanderung mit Nachdruck als humanitäre Lösung ins Spiel.
„Statt Geld bereitzustellen für den Wiederaufbau des Gazastreifens oder für das gescheiterte UNRWA“ – das Hilfswerk der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge –, „kann die internationale Gemeinschaft sich an den Kosten für die Umsiedlung beteiligen und den Menschen im Gazastreifen helfen, in ihren neuen Gastländern ein neues Leben aufzubauen,“ schrieb Gamliel in der Jerusalem Post. Diese Vorstellung ist im Augenblick nur ein groteskes Hirngespinst. Aber wenn das Leiden in Gaza weiter zunimmt, könnte sich eine Evakuierung als letzter Ausweg erweisen, zu dem es keine Alternative gibt. Darauf setzen zumindest offenbar einige prominente Vertreter der israelischen Regierung.
Nach dem sadistischen Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober hat Israel zu Recht Vergeltung geübt. Jedes Land hätte dies getan. Aber zwischen dem Krieg, von dem die liberalen Unterstützer Israels gerne glauben würden, dass Israel ihn in Gaza führt, und dem Krieg, den Israel tatsächlich führt, besteht ein großer Unterschied.
Die israelfreundlichen US-Demokraten wollen einen Krieg unterstützen, der die Hamas aus Gaza vertreibt. Es sieht aber immer mehr danach aus, als unterstütze Amerika einen Krieg zur gewaltsamen Vertreibung der Bevölkerung aus Gaza. Ob die Zwangsvertreibung der Palästinenser aus dem Gazastreifen als Völkermord einzustufen ist, wie es in Südafrika vor dem Internationalen Gerichtshof heißt, oder als eine minder schwere Form von Kriegsverbrechen, mögen Völkerrechtsexperten diskutieren. Wie auch immer man den Versuch nennt, die Bevölkerung des Gazastreifens „auszudünnen“ (so bezeichnete die hebräische Zeitung Israel Hayom einen angeblichen Vorschlag Netanjahus) – die Vereinigten Staaten sind in diesen Versuch verwickelt.
Nach dem sadistischen Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober hat Israel zu Recht Vergeltung geübt.
Indem US-Politiker so tun, als könnte man Ben-Gvir und Smotrich aus der Regierung herausdividieren, der sie angehören, verschleiern sie den wahren Charakter von Netanjahus Herrschaft. Joe Biden spricht oft von seiner Begegnung mit Golda Meir, die 1973 stattfand, als sie Israels Premierministerin war, und sein Israelbild wirkt manchmal so, als wäre es wie bei vielen amerikanischen Zionisten in dieser Zeit stehengeblieben.
Wer so wie ich in einem liberalen zionistischen Haushalt aufgewachsen ist, kennt wahrscheinlich dieses (möglicherweise apokryphe) Meir-Zitat: „In Friedenszeiten werden wir den Arabern den Mord an unseren Söhnen vielleicht einmal verzeihen können, aber schwerer wird es uns fallen, ihnen zu verzeihen, dass sie uns gezwungen haben, ihre Söhne zu töten.“ An dieser Einstellung lässt sich vieles kritisieren – die Selbstbezogenheit, die Art und Weise, wie Israel selbst dann noch als Opfer erscheint, wenn es tötet. Letztlich jedoch offenbart sich in dieser Einstellung ein qualvoll ambivalentes Verhältnis zur Anwendung von Gewalt. Heute jedoch ist diese Haltung, die Israelis manchmal als „Schießen und Weinen“ (shooting and crying) bezeichnen, zumindest in der israelischen Staatsführung genauso überholt wie Meirs zionistischer Sozialismus.
Mein Freund Daniel Levy, ehemals israelischer Unterhändler mit den Palästinensern, der jetzt das U.S./Middle East Project leitet, stellt fest, dass Entscheidungsträger in den USA und Europa „sich vorsätzlich weigern, ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen, wie extrem diese Regierung ist – ob nun vor oder nach dem 7. Oktober“. Fast bin ich versucht zu sagen: Ben-Gvir und Smotrich sprachen das, was bislang nur leise über die Lippen kam, mit lauter Stimme aus. Doch in Wahrheit haben sie nur noch lauter gesagt, was ohnehin schon laut ausgesprochen wird.
Aus dem Englischen von Christine Hardung
Dieser Artikel erschien zuerst in der New York Times.